Hermann Kurz
Der Sonnenwirt
Hermann Kurz

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Fünfzehntes Kapitel

Christinens Brief war immer noch nicht fertig, und ihr Vater hatte den Weg zu Pfarrer und Chirurgus gleichfalls noch nicht gefunden, da verbreitete sich eines Tages im Flecken das Geschrei, des Sonnenwirts Frieder sei wieder da oder wenigstens im Anzuge begriffen. Die Nachricht drängt mit großer Schnelligkeit selbst zu dem entlegenen Hause des Hirschbauern, und einer von Christinens Brüdern machte sich sogleich auf, um Kundschaft einzuziehen. Es verhielt sich wirklich so, wie das Gerücht sagte. Ein Fuhrmann, der in der »Sonne« einkehrte, hatte den Erben derselben unterwegs, und zwar in ziemlich abgerissenem Zustande, angetroffen; zur Bestätigung, daß er die Wahrheit sage, zeigte er ein Schreiben vor, das ihm der Wanderer mitgegeben hatte, um es an denjenigen seiner beiden Schwäger, zu welchem er noch das meiste Vertrauen hatte, zu bestellen. Es ging soeben sehr lebhaft in der »Sonne« zu, weshalb die Neuigkeit wie ein Lauffeuer sich verbreitete. Der Fuhrmann erzählte noch, er habe den Frieder aufsitzen heißen; derselbe habe sich aber geweigert, da er nicht nach Hause kommen wolle, bis er wisse, wie er aufgenommen werde. Er gab den Brief einem Knechte, der ihn zum Chirurgus hinübertrug. Dieser ließ nach einer Weile dem Sonnenwirt sagen, es sei endlich Nachricht von seinem Sohne da; wenn der Herr Vater aufgelegt sei, sie zu hören, so wolle er mit dem Briefe herüberkommen. Der Sonnenwirt antwortete, er habe im Augenblick alle Hände voll zu tun, und auf den Abend wolle er Ruhe haben; morgen sei auch ein Tag, um von verdrießlichen Dingen zu reden.

Auf den andern Tag wurde in der»Sonne« ein Familientag zusammenberufen, welchem der Chirurgus den Brief seines jungen Schwagers vorlas. Derselbe lautete gleich eingangs so über alle Maßen niedergeschlagen und unterwürfig, daß die Sonnenwirtin ein Mal über das andere in ein triumphierendes Gelächter ausbrach. »Geliebter Schwager«, las der Chirurg, »ich weiß mir nicht mehr zu helfen, so will ich Ihn um Gottes Willen gebeten haben, mir einen Rath zu ertheilen, denn ich laufe in der Irr, als wie ein verlorenes Schaf; so rufe ich zu Gott, er möchte mir einen Hirten senden, der mich wieder auf den rechten Weg bringen sollte. Meine Reise ist nicht bestanden, wie ich geglaubt hab: mein Herr Vetter hat des Gerichtsschreibers Sohn von Boll zum Knecht, und hat ihn nicht fortschicken können, weil er auch ein Freund von ihm sei. So bin ich diesmal in mich selber gangen und mußte erst erkennen, was ich bei meinem Vater vor gute Tage gehabt hab und ihm nicht gefolgt, so bitt ich nur noch diesesmal zu helfen und mich nicht zu verlassen. Meine Eine Bitt an die Meinen ist, mir nur noch so viel zu helfen, daß ich nur einer von seinen Tagelöhnern sein möchte. Ich werde gewiß meinem Vater in allen Stücken gehorsam sein; wann ich es nicht tue und ihm im Geringsten was anstelle, so sprich ich das Urteil wider mich und schreibe meine eignige Hand unter, daß ich auf den ewigen Arrest soll gesetzt werden. Ich weiß wohl, ich hab es gegen den Herrn Schwager nicht verdient, weil ich Ihn schon in vielen Stücken erzürnt und beleidigt hab, es ist mir aber herzlich leid, es wird inskünftige nicht mehr geschehen. So mein ich nun, ob der Schwager nicht eine Bitte vor mich bei dem Herrn Amtmann tun möchte. Man redt wider mich in Eberspbach, es sollte einen Heiden erbarmen über solche Reden: ich soll gesagt haben, ich wolle alle Häuser in Brand stecken und den und jenen todt stechen. Mein Hertze hat noch niemal daran gedacht. Geliebter Herr Schwager, ich gedenke auch noch an Gott, und gedenke bei mir selbst, ich möcht hinkommen, wo ich wollt, und Gott möchte mich auf das Krankenbette legen, ich gewiß mein Vaterland durch solche Streich nicht verschertzen will. So bitt ich den Schwager mich auf diesesmal nicht verlassen und mir einen Rad zu geben und zu helfen.«

»Rad, schreibt er«, unterbrach sich der Chirurg im Lesen: »er kann doch sonst besser schreiben und hat das Wort weiter oben auch richtig geschrieben.«

»Seine Hand weiß mehr als er und hat das Rechte troffen«, bemerkte die Sonnenwirtin, »der Weg, den er geht, führt wohl noch zu Galgen und Rad.«

»Ist der Brief aus?« fragte der Sonnenwirt.

»Ich hab das Vertrauen zu Ihm«, fuhr der Vorleser fort, »und glaub in meinem Hertzen, daß Er des Herrn Amtmanns sein Hertze am besten erweichen kann. Mein Vater schickt einen Knecht fort auf Fastnacht; er erbarmet sich meiner gewiß und nimmt mich wieder an, wann Ich befreit bin von dem Herrn Amtmann. Ich hab nicht längere Weil gehabt; wann ich mich sehen darf lassen, so will ich mündlich mit Ihm reden. Er ist von mir viel tausendmal gegrüßt und schließe ihn in die Vorsorg Gottes. Sein getreuer Schwager bis in den Tod.«

»Es muß ein wenig konfus in seinem Kopf hergehen«, fügte der Chirurg hinzu, »denn er lebt mit dem Datum noch im vorigen Jahr.«

»Er kann eben in gar nichts ordentlich sein«, bemerkte die Sonnenwirtin.

»Jetzt, was ist zu tun?« fragte der Chirurg.

Der Krämer, der nicht wieder die Mißgriffe von neulich begehen wollte, half sich mit Achselzucken, Händereiben und Lächeln nach allen Seiten hin.

Die Sonnenwirtin sagte: »Entweder ist er der Landstreicherei abgelegen, hat sein Geld vertan und ist gar nicht bei dem Vetter gewesen, oder er hat drunten gleich zum Einstand schlechte Streich gemacht und ist wieder fortgejagt worden. Wenn sein Gewissen gut wär, tät er nicht so erbärmlich und so untertänig schreiben. Das ist sonst sein Sach nicht.«

»Soviel ist richtig«, sagte der Sonnenwirt nach einigem Nachdenken, »daß der Gerichtsschreiber in Boll drüben einen Sohn in die Fremde geschickt hat, und das erst ganz kürzlich, denn ich hab's erst vor ein paar Tagen gehört, nur hab ich nicht sagen hören, wohin. Weil er aber allerdings zu unsrer Gefreundschaft gehört und mein Bruder in Sachsenhausen also auch ein Vetter von ihm ist, so ist's wohl möglich, daß er ihn dorthin getan hat; denn seine Buben sind dickköpfig und haben wenig Beruf für die Schreiberei.«

»Es kommt natürlich alles darauf an, ob die Angabe wahr ist«, bemerkte der Chirurg.

»Wenn's wahr ist«, sagte der Sonnenwirt, »so müssen die beiden schier miteinander bei meinem Bruder drunten angekommen sein.«

»Man muß eben hinunterschreiben«, meinte Magdalene.

»Ja, aber was fangt man derweil mit dem Buben an, bis Antwort kommt?« fragte die Krämerin. »In Plochingen, von wo er schreibt, kann man ihn doch nicht liegenlassen, daß er dort eine rechte Zech hinmacht.«

»Und wenn man ihn ohne weiteres wieder ins Haus nimmt«, sagte die Sonnenwirtin, »so setzt er sich fest und fangt das alt Lied wieder an und ist dann nicht mehr fortzubringen, wenn's auch zehnmal von Sachsenhausen kommt, daß all sein Vorgeben verlogen sei.«

In diesem Augenblicke hört man ein Posthorn und gleich darauf den Knall einer Peitsche. »Der Postreiter hält vorm Haus, der Hausknecht soll ihm das Pferd halten«, sagte der Sonnenwirt, der ans Fenster getreten war. Es freute ihn jedesmal, wenn Briefe für den Flecken in der »Sonne« abgegeben wurden oder wenn Postpferde zur Einkehr genötigt waren, weil er den Beweis darauf zu gründen hoffte, daß eine Zwischenpost hier errichtet werden sollte. Nach einer Weile kam der Postknecht herein und überreichte ihm einen Brief: »An Herrn Hans Jerg Schwan zur löblichen ›Sonne‹ in Eberspbach.« Der Sonnenwirt befahl einen Schoppen und las den Brief bedächtig, während jener den Wein stehend trank; denn in seinen hohen, steifen Stiefeln würde ihn das Sitzen eine Arbeit gekostet haben, die sich für einen kurzen Aufenthalt nicht verlohnte.

Der Sonnenwirt hatte den Brief erst zu Ende gelesen, als der Postknecht schon wieder zu Pferde saß und blasend gen Göppingen weiterritt. »Der Bub hat nicht gelogen«, sagte er, »es verhält sich vielmehr alles so, wie er behauptet. Mein Bruder schreibt mir da, er hätt ihn gern behalten, aber er habe dem Gerichtsschreiber in Boll für dessen Sohn bereits zugesagt gehabt. Als Gast wär er ihm willkommen gewesen, solang er hätte bleiben mögen, auch habe alles im Haus den Vetter gern gehabt; der aber habe sich nicht halten lassen, sondern sei nach etlichen Tagen wieder fort.«

»Und hat sich, Gott weiß wie lang, in der Welt herumgetrieben«, sagte die Sonnenwirtin.

»Nicht gar so lang, dem Datum nach«, entgegnete der Chirurg, dem der Sonnenwirt den Brief hingereicht hatte.

»Es ist zwar dumm von dem Buben«, versetzte der Sonnenwirt, »daß er auf die Einladung nicht länger blieben ist; man hätt sich unterdessen für ihn umsehen und ihn anderswo unterbringen können. Aber verdenken kann ich's ihm doch grad auch nicht, daß er seinen Verwandten nicht als unnützer Brotesser hat hinliegen wollen, nachdem man ihn nicht zum Schaffen angenommen hat.«

»Ja«, bemerkte Magdalene, »das Sprichwort sagt: Zwei Tag ein Gast, den dritten ein Überlast.«

»Von seiner Liebschaft schreibt er gar nichts«, sagte die Sonnenwirtin. »Soviel gute Wörtlein er sonst gibt, so spricht er doch nicht mit einer Silbe davon, daß er in dem Stück nachgeben wolle.«

»Er schreibt aber, er wolle in allen Stücken gehorsam sein und nicht das geringste mehr anstellen«, entgegnete der Chirurgus. »Man kann ihn also beim Wort nehmen und ihm beweisen, daß er auch das versprochen habe.«

»Recht degenmäßig schreibt er, das muß man sagen«, bemerkte die Krämerin. »Ich hätt gar nicht glaubt, daß der Strobelkopf, der störrig, so mürb werden könnt.«

»Der hat sich in der Fremde die Hörner verstoßen«, sagte der Sonnenwirt behaglich lachend, »das sieht man jedem Wort an, das er schreibt. Jetzt weiß er nimmer, wo aus und wo ein. Ja, ja, es ist eben ein ganz anders Leben da drunten als bei uns. Die Leut sind dort viel älerter und aufgeweckter, und wenn auch bei manchem nicht viel dahinter ist, ist's eben doch unsereinem, wie wenn er der Garnichts dagegen wär.«

»Das glaub ich«, sagte der Chirurg, »das kann solch einem trutzigen, stutzigen Schwabenkopf spanisch vorkommen.«

»Ich bin ja selbst auch schon drunten gewesen«, fuhr der Sonnenwirt fort. »Ja was! Bis unsereiner sich nur besinnt, was er sagen soll, haben die dem Teufel ein Ohr weggeschwätzt. Es mag sein, daß wir im Schreiben und sonst in mancherlei Solidität mehr sind als sie, wenigstens gibt man sich bei uns in der Schul mehr Müh, aber nachher müssen wir ihnen weit nachstehen, sie sind viel zu geschwind für uns. Mein Sohn ist gewiß keiner von den Langsamen im Geist, aber ich steh dafür und kann ganz ins Feuer sehen, daß sie ihm gleich über den Kopf gewachsen sind. Und dann machen sie gar keine Umständ, wie man's bei uns macht. Sie sind eigentlich doch auch wieder fadengrad wie wir, und noch mehr als wir. Bei uns, da tut man einen Besuch jeden Tag, den er da ist, gleichsam mit dem Seilstumpen anbinden, damit er ja sieht, daß man ihn nicht fortlassen will. Mein Bruder aber, der gar kein Schwab mehr ist und in dem Klima ganz die Art angenommen hat, wie die andern auch sind, der hat wahrscheinlich ein einzigs Mal gesagt: Du bist willkommen, Vetter, und bleib, solang du magst; und dann hat der Bub natürlich bald gemeint, man sei seiner überdrüssig, weil man's ihm nicht zehn- und zwanzigmal gesagt hat. Er hätt aber nichts zu sagen gehabt, denn wenn sie einen loswerden wollen, so wissen sie schon den Schnabel aufzutun. Nun, jetzt hat er auf einmal einsehen gelernt, daß die Welt größer ist als sein Kopf, und kommt aus der Fremde wie der Schneck, wenn er die Hörner einzieht und wieder in sein Haus zurückgeht.«


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