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»Und nun den letzten Kuß!« sagte Friedrich, als kaum der Morgen graute. »Das Scheiden und Meiden ist ein schlechtes Handwerk, und der bös Gott woll's dem behüten, dem's zuerst eingefallen ist, aber es muß nun einmal sein.«
»Wenn ich nicht Sorg hätt, mein Vater oder Mutter könnt aufwachen, so ließ ich dich noch nicht fort«, sagte Christine, unwillkürlich seinen Arm umklammernd. »Es hat sich ja noch nicht einmal ein Hahnenschrei hören lassen.«
»Sie werden bald krähen, und dann währt's nicht lange mehr, so wird's lebendig im Ort, und ich kann nicht mehr unbeschrien fortkommen, was mir unlieb wär, weil ich des Geschwätzes mit den Leuten überdrüssig bin und nicht jedem auf die Nas binden mag, warum ich in die Fremde soll. Fort muß ich ja doch einmal, und so ist's eins, ob wir den bittern Kelch jetzt trinken oder ein wenig später. Denk dir, wir seien verheiratet, was wir ja auch eigentlich sind, und ich müss verreisen auf längere Zeit. Wie mancher hat schon von Weib und Kind weg in Krieg müssen und ist gar nicht wiederkommen.«
»Wann wirst auch du wieder zu mir kommen?« seufzte Christine.
»Am Sankt Nimmerlestag, wo die Eulen bocken. Frag nicht so schäckig, weißt ja doch selber wohl, daß ich komm, wenn ich kann und darf. Soll ich dir denn alles wieder herleiern, was ich dir gesagt hab und worauf unsre Hoffnung steht. Ich müßt mich ja heiser predigen.«
Christine schluchzte überlaut. »Mein Herz sagt mir, wir sehen einander nie wieder, und ich werd in Schand und Not verlassen sein.«
»Und mir sagt das mein das Gegenteil. Welches hat nun recht? Da bleibt nichts übrig, als daß wir die zwei Herzen gegeneinander wetten. Gib acht, auf die Art kannst kein'sfalls in Nachteil kommen. Gewinn ich's, so sehen wir uns wieder; wenn ich aber die Wett verlier, so bleibt dir doch mein Herz, und dann kannst auch nie verlassen sein.«
»An dir ist ein Advokat verlorengangen«, sagte Christine, »du machst, daß ich in all meinem Jammer wieder lachen muß. Aber wart noch ein wenig! Wir müssen erst noch einen Denkzettel voneinander haben. Hast dein Messer nicht bei dir?«
»Willst mich abschlachten und einsalzen, daß ich gleich ganz bei dir bleib?«
»Nein. Ich hab vor etlich Wochen im Karz gehört, wie man's machen muß, wenn eins dem andern aus der Ferne ein Zeichen geben will, daß man aneinander denkt. Komm, streif dein linken Arm auf.«
Er entblößte den Arm. Sie machte ihm mit dem Messer eine kleine Wunde daran und sagte: »Jetzt laß mir geschwind an meinem Goldfinger ein wenig Blut heraus.«
»Das kann ich nicht«, sagte er, »ich kann dir nicht weh tun.«
»Es ist kein Wehe so groß als Herzeleid, sagt dein Jesus Sirach«, erwiderte sie. »Wenn du aber nicht willst, so muß ich's eben selber tun.« Sie tat's und tropfte ihm ihr Blut in seine Wunde, die sie alsbald sorgfältig verband. Dann ritzte sie sich gleicherweise an ihrem linken Arm, gab ihm das Messer und sagte: »Gib mir auch Blut von deinem Goldfinger – mach's aber nicht so arg, sei doch nicht so grob gegen dich, ein paar Tropfen sind genug.« Nachdem sie sich sein Blut angeeignet, verband sie gleichfalls eilig ihren Arm.
»Jetzt sind wir ja ganz blutsverwandt«, bemerkte er.
»Das ist's nicht allein«, erwiderte sie. »Wenn's wieder verheilt ist, so brauch ich nur mit der Nadel drin zu stüren, dann gibt's dir einen Stich in Arm, da, wo du mein Blut drein empfangen hast, und ebenso umgekehrt, wenn ich einen Stich da spür in meinem Arm, so weiß ich, daß du mir an dem deinigen ein Zeichen gibst, und seh daraus, daß mein Schatz in dem Augenblick an mich denkt.«
Er lachte. »Solang die Narben frisch sind«, sagte er, »mag's wohl sein, daß sie hie und da ein wenig stechen. Aber ich werd auch ohne das oft genug an dich denken.«
»Wenn's nun aber sein muß«, versetzte Christine, »so mach in Gottes Namen, daß du fortkommst, und geh recht leis mein Katzenstiegele hinunter, damit niemand im Haus aufwacht.«
Sie herzten und küßten einander, daß Friedrichs Ausspruch, »alles müsse ein Ende haben«, beinahe darüber zuschanden geworden wäre, und nachdem er manchen vergeblichen Versuch gemacht, den Strom ihrer Tränen durch Abtrocknen zu hemmen, schlich er so leise, daß man kein Geräusch hören konnte, die schmale steile Treppe hinab und kam mit Hilfe des hölzernen Riegels, der anstatt eines Schlosses diente, leicht durch die hintere Türe aus dem Haus.
Nachdem er sich noch mehrmals umgekehrt und manchen Blick nach dem Schauplatze seines Glückes zurückgesendet hatte, ging er der »Sonne« zu, um sein Reisebündel zu holen. Alles schlief noch; ungehört betrat und verließ er sein väterliches Haus. Aber auch von diesem, so wenig Gutes er in letzter Zeit daselbst erlebt zu haben meinte, fühlte er sich noch eine geraume Weile festgehalten und starrte mit feuchten Augen nach den Fenstern hinauf, hinter welchen seine Mutter ihn geboren und mit so unendlicher Liebe aufgezogen hatte, hinter welchen der Mann wartete, der doch immer sein Vater war. Sein rauhes Herz war von einer unsäglichen Wehmut ergriffen.
Friedrich wischte sich die Augen mit der Hand aus, stieß seinen Wanderstecken hart auf den Boden und ging in entschlossenem Reiseschritt die Straße hinab; da räusperte sich jemand über ihm, und eine Stimme rief: »Wo naus schon, Frieder, wo naus?«
Er blickte ärgerlich in die Höhe und erkannte seinen Invaliden, der nach der Weise alter Leute nicht lange schlafen konnte und zu dieser frühen Stunde aus seinem Ausgedingstübchen zum Fenster heraussah. »In die Fremde«, antwortete er, einen mutigen Ton in seine Stimme legend.
»Weiß schon«, erwiderte der Invalide, »und weiß eigentlich auch, warum.«
»Ja freilich!« entgegnete Friedrich lachend, »es gibt kein Warum, das nicht auch sein Darum hätt. Übrigens sagt man: Die Fremde macht Leut.«
»Ich streit's nicht. Wer nie hinauskommt, kommt auch nie hinein. Und was das Heimweh betrifft, so hat selbiger Schwab in der Fremde gesagt: ›Schwaben ist ein gut Land, ich will aber nit wieder heim; grob Brot, dünn Bier und große Stunden!‹«
Friedrich lachte und schlug ein paarmal mit dem Stab in die hartgefrorne Schneebahn; dann machte er eine Bewegung, um seinen Weg fortzusetzen.
»Er hat aber doch 'n kuriosen Zwilch an Seinem Kittel«, hob der Invalide wieder an. »Läßt sich da um ein Weibsbild von Haus und Hof fortschicken. Ist sie denn auch so viel wert?«
Friedrich schwang den Stecken um seinen Kopf, daß es durch die scharfe Morgenluft pfiff. »Profoß«, sagte er, »wenn ich Euch gut zum Rat bin, so redet mit mehr Respekt von ihr, denn ich versteh kein Spaß in dem Punkt. Oder könnt Ihr vielleicht etwas von ihr sagen, das nicht recht wär?«
»Das kann ich nicht und will's auch nicht«, erwiderte der Invalide. »Nur nicht so hitzig! Das Mädle kann brav sein, ich will ihr gar nichts tun, aber darum fragt sich's doch noch zehnmal, ob sie zu Ihm taugt. In meinen jungen Jahren, ach, was hab ich mich nicht verleiden müssen um mein Weib, bis ich sie gehabt hab, und nachher, wiewohl ich nichts weniger als schlecht mit ihr gehauset hab, hab ich oft denken müssen, ich hätt grad ebensogut eine andere nehmen können. Wenn man einander einmal innen und außen kennt, dann sieht man erst ein, daß man nicht bloß für die Kürze, sondern auch für die Länge hätt sorgen und auf das und jenes hätt sehen sollen, was nicht bloß in die Augen sticht; denn die Schönheit vergeht und die Jugend mit, und das Leben ist oft so gar lang.«
»Aber das Sprichwort sagt doch: Frühe Hochzeit, lange Liebe.«
»Das Sprichwort hat nicht immer recht, sonderlich je nachdem die Hochzeit gewesen ist.«
Friedrich grub nachdenklich mit dem Stecken im Schnee.
»Wenn ich Er wär«, fuhr der Invalide fort, »so würd ich da draußen die Zeit und die Vernunft walten lassen und meinem Vater nachgeben; auch blieb ich nicht zu lang in der Fremde, denn viel Rutschen macht böse Hosen, das sieht Er an meinem Fuß.«
»Ihr, ein alter Soldat, werdet mir doch nicht zumuten, daß ich mein Wort breche?« fuhr Friedrich auf. »Ich hab mich mit heiligen Eiden verschworen, und dabei bleibt's.«
»Wenn's so steht«, erwiderte der Invalide, »so will ich weiter nichts gesagt haben als: 's wär eben gut, wenn alle junge Leut könnten vor alt werden, eh sie jung würden.«
»Das mag sein«, entgegnete Friedrich, »weil's aber unser Herrgott anders hat haben wollen, so kann ich nicht wider ihn streiten und muß eben der Natur ihren Lauf lassen.«
Damit verabschiedete er sich von dem Invaliden, der ihm noch lange voll Teilnahme nachsah, wie er ausschritt und der Schnee unter seinen kräftigen Tritten krachte.