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Es war inzwischen dunkel geworden. Friedrich wollte eben ins Haus zurückkehren, als er eine Gestalt herausschlüpfen sah, in der er seine Schwester Magdalene erkannte. Sie ging in das Gärtchen, und er hörte sie dort am Brunnen Wasser pumpen; denn es ist eine unlöbliche Gewohnheit der Leute, das Wasser, das sie morgens frisch haben könnten, abends zu holen und über Nacht stehenzulassen. Bald aber hielt sie in dieser Verrichtung inne und fing leise zu weinen an. Friedrich wollte zu ihr treten, da kam jemand aus dem Hause nachgegangen, horchte eine Weile umher, fuhr, ohne ihn zu bemerken, ins Gärtchen hinein, und die gellende Stimme der Stiefmutter rief: »Wo bleibst du denn, lahmes Mensch? Was dröhnsest da so lang?«
Magdalene antwortete mit stockender und gedrückter Stimme.
»Was? Ich will nicht hoffen, daß du heulst!« fuhr die Stiefmutter sie an.
Das Mädchen schwieg.
»Was hast du denn?« fragte die Alte hart und lieblos weiter. Als das Mädchen abermals keine Antwort gab, rief sie: »Das muß was Besonderes sein. Der Herr suche mich nicht so schwer heim und lasse mich's nicht erleben, daß du dich am End gar vergangen haben wirst.«
»O Mutter«, rief Magdalene, die hier plötzlich ihre Stimme fand, »wie könnt Ihr mich so verschänden! Ihr solltet Euch der Sünde fürchten, so etwas so laut vor der Nachbarschaft zu sagen, da Ihr doch wißt, wie ungerecht Euer Gerede ist. Ihr müßt's ja selber am besten wissen, daß ich Euch niemals aus den Augen gekommen bin.«
»Nun, nun, ich will ja weiter nichts gesagt haben, als daß das Heulen und Aunxen überflüssig ist, wenn man ein gut Gewissen hat.«
»Mein Gewissen ist gut«, erwiderte Magdalene unmutig. »Wenn nur auch alles andere so gut wäre.«
»Ei was, es steht alles gut. Mach jetzt nur, daß du ins Bett kommst. Du mußt morgen mit hellen Augen und roten Backen aufstehen, weißt wohl, warum.«
»O Mutter, seid barmherzig und bringt den Vater auf andere Gedanken! Auf meinen Knien wollt ich Euch anflehen, wenn ich wüßte, daß es bei Euch anschlüge.«
»Still mit den Narreteien da!«
»Mutter, ich hab einen Abscheu vorm Heiraten. Ich will Euch bei den höchsten drei Namen schwören, ledig zu bleiben mein Leben lang.«
»Damit wär mir gedient!« rief die Stiefmutter mit höhnischem Lachen. »Was ein recht's Mädle ist, das hat eine wahre Begier aufs Heiraten und kann nicht bald genug eine eigene Haushaltung überkommen wollen, um darin tätig und fleißig zu sein nach eigenem Sinn. Ein recht's Mädle sucht seinen Eltern vom Hals zu kommen, sobald es kann, und will nicht als eine unnütze Brotesserin zu Haus auf der faulen Haut liegen.«
»Lieg ich auf der faulen Haut?« entgegnete Magdalene vorwurfsvoll. »Hab ich das bißle Essen nicht so gut verdient, wie wenn ich Eure Magd wär?«
»Nun, so sei froh, daß du jetzt bessere Tage kriegst, und hör auf mit dem Geschwätz. Es ist eine Ehr für dich, daß dich der Chirurgus nehmen will, so ein Herr! Wart, wenn du an seinem Arm daherstratzen kannst, das wird eine Hoffärtigkeit sein! Du verdienst's gar nicht, daß es so hoch hinaus soll mit dir!«
»Freilich verdien ich's nicht! Er soll eine andere nehmen, meinetwegen die verwitwete Herzogin, die tät vielleicht besser für ihn passen.«
»Was hast du gegen den Chirurgus?« rief die Sonnenwirtin zornig. »Was kannst du wider ihn sagen?«
»O Mutter«, begann das Mädchen nach einer Weile mit bebender Stimme, »denkt an Eure eigene Jugend zurück – er ist so alt – und so –«
»Du wüste Strunz, du!« keifte die Sonnenwirtin. »So, da liegt der Has im Pfeffer? Der Ehstand ist eine christliche Anstalt, dem Herrn zum Preis, und nicht für Üppigkeit und Fleischeslust. Wenn du so liederliche Gedanken hast, so bet, daß sie dir vergehen, oder behalt sie wenigstens bei dir und schäm dich. Wenn die Leut wüßten, daß du so fleischlich denkst, sie täten mit Fingern auf dich zeigen.«
Magdalene schluchzte: »O Mutter, Mutter!«
Ohne sich irremachen zu lassen, fuhr die Sonnenwirtin fort: »Ich bin auch jung gewesen, aber in der Furcht Gottes, und so freches Zeug ist mir nicht im Schlaf eingefallen, geschweige daß es mir über die Lippen gekommen wäre. Dein Vater, wie ich ihn genommen hab, ist auch kein heurig's Häsle mehr gewesen. Wo ist der Mensch, dem's in der Welt nach seinem Kopf geht? Ein Christ muß sich in das schicken, was unser Herrgott über ihn verhängt. Jetzt heul, soviel du willst, heul meinthalten die ganze Nacht da unten. Aber morgen hat's ein Ende mit dem Heulen, oder wenn's dich zu sauer ankommt, so wird dir dein Vater schon ein freundliches Gesicht herausbringen helfen, du weißt, er hat Mittel und Wege. Jetzt gut Nacht, Jungfer Braut.«
Die Sonnenwirtin schoß aus dem Gärtchen in das Haus zurück, wie ein unheimlicher Nachtvogel. Friedrich eilte, sich zu seiner Schwester zu gesellen, denn, dachte er, die kann's brauchen. Sie war in der Dunkelheit leicht zu finden; er durfte nur dem Schluchzen nachgehen, das ihren jungfräulichen Busen zu zersprengen drohte. Stillschweigend faßte er ihre Hand.
Sie hatte ihn nicht kommen hören; erschrocken und zornig riß sie die Hand weg und rief: »Wer ist da?«
»Gut Freund, Schwesterle. Hat der gelbe Drach wieder Gift gespien? Was ist denn das für ein Bräutigam, dem du die alten Knochen wärmen sollst?«
»A Gott, der Chirurg!«
»Was! Der Zaunstecken?« – und nun folgte eine Flut von Scheltwörtern, die immer drolliger wurden, so daß das arme Mädchen zuletzt selbst darüber lachen mußte. Plötzlich aber fiel sie in das vorige Weinen und Schluchzen zurück und warf die Arme um den Hals des lustigen Trösters: »O lieber Bruder!« rief sie – sie mochte nicht Frieder sagen wie die andern, und Friedrich klang ihr zu vornehm, zu gewagt – »lieber Bruder, ich wollt, ich wär bei unserer Mutter! Sieh, ich bin die ärmste Kreatur auf der ganzen Gotteswelt! Morgen soll der Verspruch sein, und das ist mein Tod. Ich kann ihn nicht ansehen, er ist mir zu arg zuwider!«
»Soll ich ihn zerbrechen?« fragte er grimmig durch die Zähne.
»Um Gottes willen, fang keine Händel an! Du würdest mich nur aus dem Regen in die Traufe bringen.« Sie schwieg eine Weile und fuhr dann verzagend fort: »Es gibt nur ein einziges Mittel, um aus dem Jammer hinauszukommen.«
»Vermutlich. Was denkst du?«
»Ich spring in die Fils, und das noch heut nacht.«
Friedrich lachte überlaut. »Du arm's Närrle! Das müßtest du künstlich angreifen bei dem niedern Wasserstand. Nein, das ist nicht der Weg. Ich weiß einen andern – und der wär ganz sicher, sobald man sich fest darauf verlassen könnte.«
»Du bist ein leidiger Tröster.«
»Ja sieh, Kind, es steht ganz bei dir, und du hast's in der Hand, ob das Mittel zuverlässig sein soll oder nicht. Kannst du dich auf dich selbst verlassen?«
Er sprach diese letzten Worte mit besonderer Stärke, und es lag dabei etwas Geheimnisvolles in seiner Stimme, so daß seine Schwester ihn verwundert ansah. »Ich weiß nicht, wo Du hinauswillst«, sagte sie.
»Der Mensch kann alles, was er will«, hob er an. »Das heißt, ich hab mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Der Mensch kann nicht alles, was er will, denn ich mag wollen, soviel ich will, so kann ich zum Beispiel nicht Tag aus Nacht machen.«
»Laß doch das Gerede«, sagte Magdalene dazwischen, mit einem Tone, welcher deutlich verriet, daß ihr das eine brotlose Weisheit dünke. »Halt uns lieber den Regen vom Leib, weil du so ein überstudierter Kopf bist.« Es hatte nämlich soeben zu tröpfeln begonnen.
»Gegen den Regen sind Schirme gewachsen, oder auch zum Beispiel die Laube dort. Komm, wollen uns drin bergen, denn es macht nicht bloß naß herunter, sondern auch recht kühl, und ich bin noch lang nicht fertig.«
Die beiden Geschwister gingen miteinander nach der Laube. Sie war noch sommerlich genug überrankt, um vor dem Regen zu schützen, der jetzt in größeren Tropfen auf die Blätter niederschlug.
»Den Regen kann man sich allerdings vom Leib halten, wenn man irgendwo unterzustellen vermag«, fuhr Friedrich fort. »Der Mensch kann freilich nicht alles, was er will. Denn, wenn mich zum Beispiel ein Blitz trifft, so kann ich ihn nicht –«
»Behüt uns Gott!« unterbrach ihn seine Schwester. »Unberufen, unberufen, unberufen!« – Nachdem sie sich beeilt hatte, diese Zauberformel gegen böse Einflüsse und Vorbedeutungen dreimal auszusprechen, machte sie ihm lebhafte Vorwürfe wegen seiner sündlichen Rede.
»Das ist nur so figürlich gesagt«, erwiderte er. »Ich hab dir bloß zeigen wollen, daß es Dinge in der Welt gibt, die man sich nicht vom Leib halten kann, wo man konträr wollen muß, man mag wollen oder nicht. Jetzt kann ich dir aber auch um so besser beweisen, daß es dafür andere Dinge gibt, die man sich vom Leib halten kann, wenn man nur recht tüchtig will. Zum Beispiel den Chirurgen –«
»Gott Lob und Dank, endlich kommst du doch auf den rechten Text. Aber sag nur einmal, wie?«
»Du nimmst ihn eben nicht.«
»Aber wenn der Vater sagt: du mußt?«
»Dann sagst du: ich will nicht.«
»Kann ich mir dann auch die Streich vom Leib halten?«
»Ja sieh, lieb's Kind, das ist's eben, darauf hab ich von Anfang an hinausgezielt, und jetzt ist der Text vollständig. Vogel friß oder stirb! das ist der Text. Wenn aber das Vögele nicht fressen will, und es will eben um keinen Preis nicht, so muß es zwar sterben, aber die Sach ist doch nach seinem Schnabel gegangen. Das Leben ist der höchste Preis, den ein Vogel oder ein Mensch einsetzen kann, und mehr als das Leben kann man einem auch nicht nehmen. Wenn einer nun seinen Sinn fest darauf richtet, daß er denkt: die und die Nuß will ich nicht beißen!, so muß ihm zum allerersten das Leben wohlfeiler sein als der Schnabel. Dann wird's aber auch ganz gewiß nach seinem Schnabel gehen und wird oft nicht einmal das Leben kosten. So sagst du jetzt, du mögest den Dürren nicht.«
»Für mein Leben nicht!« rief das Mädchen leidenschaftlich.
»Just, wie ich sagen wollte! Du bekennst also selber, daß dir dein Leben nicht so lieb ist, als es dir lieb wär, den dürren Stecken los zu sein, und vorhin hast du ja gesagt, du wolltest lieber in die Fils springen. Damit pressiert's übrigens gerade nicht so sehr, nur muß es dein völliger Ernst sein, und zwar so, daß du dich lieber totschlagen ließest. Sieh, dein Leben wird dir doch lieber sein als eine trockene Haut oder ein heiler Rücken. Was ein heiler Rücken wert ist, das weiß ich aus Erfahrung, und ich kenn auch des Vaters schwere Hand.«
»Ja, ich auch.«
»Du wirst sie aber doch nicht so fürchten wie den Tod.«
»Nein, das gerade nicht.«
»Nun sieh, jetzt kannst du an dir selbst die Probe machen, ob's ein Ernst ist oder eine bloße Redensart mit dem, was du gesagt hast. Nimm dir einmal die Sach genau in Augenschein. Was kann dir der Vater tun? Umbringen wird er dich nicht, du bist ja sein eigen Fleisch und Blut. Aber puffen wird er dich, dessen kannst du gewiß sein, und mach dir nur keinen blauen Dunst darüber.«
Magdalene seufzte.
»Ich glaub's gern«, fuhr er fort, »daß es dir schwer eingeht, aber dennoch mußt du's recht genau ins Aug fassen. Übrigens kannst du dir dabei voraus denken, wie du bei jedem scheelen Blick, bei jedem Streich, an jedem Hungertag sagen wirst: ist mir doch lieber, als wenn ich bei dem Zaunstecken sein müßte, den ich nicht mag. Und dann, wie lang wird's dauern? Nur so lang, als sie meinen, daß sie dich zwingen können. Wenn deine Geduld größer ist als ihre Bosheit, so wird ihre Bosheit zunichte. Mit dem Teil Ungemach, das du dir nicht vom Leib halten kannst, kaufst du dein junges Leben los von größerem Ungemach und behältst es unverschandiert. Ich sag dir, Magdalene, was ich da gesprochen habe – es ist zwar gar nichts Neues, und viele reden desgleichen, aber sie wissen nicht, was sie sagen; denn es ist ein Geheimnis! Wer's aber recht versteht, der kann Wunder damit tun, und Wunder sind auch schon damit getan worden! Mit drei einfältigen Wörtlein: Ich tu's nicht! und ich tu's eben nicht! Damit kann ein rechter Kerl – Mannskerl oder Weibskerl gilt gleichviel – einen Güterwagen sperren, und wenn sechs Dutzend Mecklenburger vorgespannt wären.«
Die Schwester trat fest und aufrecht vor den Bruder hin. »Und ich tu's eben nicht!« rief sie, seinen Ton nachahmend, indem sie dabei auf den Boden stampfte. –
»So gefällst du mir«, sagte er lachend. »Komm, setz dich wieder. Sei nur standhaft und laß dir sonst weiter keine grauen Haar wachsen. Ich bin ja um den Weg. Wenn sie dir den Futterkasten gar zu arg versperren, so will ich dein Rabe sein, und wenn des Alten Hand zu schwer wird über dir, so will ich dazwischenspringen und die schwersten Streiche auffangen. Du weißt ja, er ist leicht abzuleiten: wenn er Hist töbert, so braucht man ihm nur mit einem ungäben Wort zu kommen, dann läßt er Hist fahren und tobt Hott. Laß mich nur machen, ich will dir den Regen mit dem Dachtrauf vom Leib halten, ich hab ja ein dickes Fell.«
Magdalene wurde vollends ganz zuversichtlich, während sie dieses Schutz- und Trutzbündnis verabredeten. »Verlaß dich nur auf mich«, sagte sie, »ich will zäh sein wie eine Katze.«
»Recht so«, erwiderte Friedrich. »Was will das bißle Ungemach heißen, wenn die Alte sich dafür das Gallenfieber an den Hals ärgert. Es ist doch ein wüst's Weibsbild, und was sie für abscheuliche Reden führt! Doch nun komm; es ist schon spät, wir müssen ins Bett. Der Vater könnt lärmen.«
Die beiden Geschwister gingen leise ins Haus zurück und sagten einander gute Nacht. Friedrich aber wartete, bis seine Schwester in ihre Kammer hinaufgehuscht war, und sagte: »Ich muß doch probieren, ob man heut noch Wind und Wetter beobachten kann.« Er schlich über den Öhrn, klinkte unhörbar die Türe zum Wirtszimmer auf, wo ein Knecht in der Ecke schnarchte, durchmaß das Zimmer mit großen Schritten, aber so lautlos, daß ihm kaum der Sand unter den Füßen knisterte, ging durch ein zweites, kleineres und legte das Ohr an die Türe, die ins Schlafgemach seiner Eltern führte. Er hatte sich nicht getäuscht, sie waren noch in einer Gardinenunterredung begriffen.