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Einem Werk von Karl Kraus, und noch dazu einem, dessen Inhalt und Erlebnis das Mysterium der Sprache ist, könnte man nur mit der Kraft seiner eigenen Sprache gerecht werden. Manches Gute, Richtige und Bedeutsame ist über die leidenschaftliche Hingabe dieses Hörigen und Hellhörigen des Wortes in den letzten Jahren geschrieben worden. Man hat aus der zeitlichen Distanz auch im Sprachlichen die kosmische Perspektive seines ehedem belächelten Kampfes um das Komma erkannt (»von einem Rinnsal zur Milchstraße die kürzeste Verbindung«, wie er einmal über die kleinen Anlässe des Satirikers Nestroy geschrieben hat); man hat seine Anschauung, daß die Sprache die Sache sei, in seinem Lebenswerk von den anästhesierenden Zeitungsphrasen der Jahrhundertwende bis zu den tödlichen Schlagworten des Nationalsozialismus nachgeprüft und die Diagnose richtig befunden; man hat aus den Sprachgedichten und -aphorismen die Magie seiner zarten und kühnen, tragischen und fröhlichen Abenteuer am Schreibtisch nachzuerleben und nachzugestalten versucht. Aber da Karl Kraus einer der entschiedensten Egozentriker der Kunst war, erfüllt von dem metaphysischen Zwang, das göttliche und geistige Zentrum der Sprache in sich selbst aufzuspüren und an sich selbst darzustellen, wird jeder andere Betrachter – es sei denn, er besäße die gleiche Genialität – das Sprachphänomen Karl Kraus immer nur »aus zweiter Hand« erklären können.
Doch eines gibt es, das man im Nachwort zu diesem Buch legitimer Weise berühren darf und muß: seine geistesgeschichtliche Stellung innerhalb der deutschen Sprachwissenschaft. Auf manche Verwandtschaft der Anschauungen von Karl Kraus – man sträubt sich fast, das Wort »Anschauungen« zu gebrauchen, so sehr ist alles »Wortgestalt« geworden – auf manche Ähnlichkeit mit den Romantikern, mit Friedrich Schlegel, Novalis und Brentano hat schon Leopold Liegler in seinem Buch »Karl Kraus und sein Werk« hingewiesen; aber Lieglers Buch erschien 1920, als Karl Kraus eben erst begann, in den Problemdschungel der deutschen Grammatik, Syntax und Ästhetik einzudringen. Es ist erstaunlich, wie selten in der deutschen Literatur das Lebewesen der Sprache lebendig, also künstlerisch dargestellt wurde. Denn nicht von den akademischen Fachleuten sei hier die Rede; unter ihnen war es schon eine Errungenschaft, daß der Ästhetiker Carriere die Banalitäten Friedrich Theodor Vischers ad absurdum führte, der die Sprache schlicht als das »Vehikel der Meinung« ansah, daß Volkelt oder Vossler tiefer schürften, als es der professoralen Tradition entsprach. Hatte doch selbst Jacob Grimm die These aufgestellt, das »grammatische Studium könne kein anderes sein als ein streng wissenschaftliches, und zwar, der verschiedenen Richtung nach, entweder ein philosophisches, kritisches oder historisches«.
Die besondere Bedeutung des Buches »Die Sprache« von Karl Kraus liegt nun meines Erachtens darin, daß neben diese philosophische, kritische und historische Betrachtungsweise jetzt auch die künstlerische getreten ist. Das ist das Fruchtbare und das Faszinierende an dem Buch. Es gibt in der deutschen Literatur kaum einen Sprachkritiker, der gleichzeitig so sprach schöpferisch war, daß er die nüchternste grammatikalische Aussage, oft im gleichen Satz und durch diesen, mit den lebendigsten Beispielen erhellen und gestalten konnte, daß der Blitz, den er schilderte, im selben Augenblick einschlug und das analysierte Elementarereignis des Donners in der gleichen Sekunde auch schon hörbar wurde.
Das ist wohl dem Glücksfall zu verdanken, daß Karl Kraus alles, was ihn bewegte: Eros, Krieg, Technik, Chaos, Auflösung und Glauben, immer erst ganz tief im Reich der Sprache und durch deren Medium zu erfassen schien, so daß er vielleicht dem »Leben« ferner stand als andere Dichter, doch der Sprache näher, die ihm gewissermaßen »zur ersten Natur« wurde. So erfüllten ihn selbst die kühlsten Erkenntnisse über die deutsche Sprache mit Witz und Bewegung, und aus der Bewegtheit kam neue Erkenntnis. Wie sehr das Schöpferische seiner Sprachbetrachtung, historisch gesehen, etwas Neues und Ungewohntes ist, darf man vielleicht an zwei Parallelen zeigen, die seiner Idee der Worterfüllung relativ noch am nächsten kommen. Vor kurzem fand ich in einem Briefe Lessings eine Stelle über den Reim, die sich in verblüffender Weise mit der Anschauung von Kraus deckt. Lessing sagt: »... Ein kindisches Geklimper nennen sie ihn mit einer verächtlichen Miene. Gleich als ob der kitzelnde wiederkommende Schall das Einzige wäre, warum man ihn beibehalten soll. Rechnen Sie das Vergnügen, welches aus der Betrachtung der glücklich überstiegenen Schwierigkeit entstehet, für nichts? Ist es kein Verdienst, sich von dem Reime nicht fortreißen zu lassen, sondern ihm ... eine so notwendige Stellung anzuweisen, daß man glauben muß, unmöglich könne ein ander Wort anstatt seiner stehen?«
Das ist, in schöner und eindringlicher Aussage, genau die Theorie des Essays »Der Reim« von Karl Kraus, bis zu dem überraschenden Detail der »glücklich überstiegenen Schwierigkeit« (bei Kraus: »Die Notwendigkeit des Reimes muß sich in der Überwindung des Widerstands fühlbar machen, den ihm noch die nächste sprachliche Umgebung entgegensetzt«). Aber nun überprüfe man, wie in dem Aufsatz »Der Reim« dieselbe Kraft, die diesen in Vers erschafft, auch in der Prosa wirksam wird, oder eben in dem gleichnamigen Gedicht, wo Lessings »notwendige Stellung« bei Kraus zur folgenden Wortgestalt wurde:
»Geboren wird er, wo sein Platz,
aus einem Satz mit einem Satz«
– worin nicht nur das langsame, unabwendbare, rhythmische Sichfinden des Reimes, die liebevolle »Paarung« im Beispiel dargestellt ist, sondern auch seine plötzliche, blitzartige Geburt (Hörer der Vorlesungen von Karl Kraus werden sich erinnern, daß er manchmal bei der Stelle »mit einem Satz« eine sprunghafte Handbewegung machte, um den Doppelsinn von »Satz« und »Sprung« anzudeuten). Ja, all das ist in den zwei Zeilen enthalten und noch so viel mehr, das sich dem kalten kritischen Zugriff entzieht!
Sucht man also in der Vergangenheit nach Geistern, die – wie es in diesem Buch geschieht – Aussage und Regel der Sprache in natürliche Wortgestalt verwandelt haben, dann wird man nur wenige finden. In »natürliche« Wortgestalt, sage ich, denn in bisweilen vornehme, jedoch nur allzu oft unnatürliche ist solche Erkenntnis von Gundolf, Hofmannsthal oder Borchardt gepreßt worden. Der einzige organische Vorläufer der ästhetischen »Wortgestalt« im Sinne von Kraus ist Jean Paul. Hat er doch an einer Stelle dieses Problem in solche Worte gefaßt, daß sie ihn – über ein Jahrhundert hinweg – nicht nur geistig, sondern auf seltsame Art fast persönlich mit dem Herausgeber der »Fackel« verbinden! In der »Vorschule der Ästhetik« schreibt Jean Paul: »Wie Handlung oder Bewegung gestalte in der fließenden Phantasie, das zeigt Euch jede Fackel. Sagt: ›Ich sah den Apollo in Dresden, ich sah die Eisberge in der Schweiz‹, Ihr habt noch schwach uns die hohen Gestalten aufgerichtet und enthüllt. Aber setzt dazu: ›Wir hatten Fackeln z. B. in der Schweiz, und sowie der Schimmer hinunter in die schwarzen Gründe stürzte, an den Klüften auflief und wie lebendige Geisterspiele um grüne Gipfel und über Schneeflächen schweifte und Schatten gebar‹ – so sieht man etwas.«
Bei dieser inneren Verwandtschaft ist es kein Zufall, daß auch Jean Paul schon die »Sprachreiniger« seiner Epoche attackierte und in seiner Polemik, ähnlich wie Kraus, wenn auch nicht so elementar, das Argument am witzigen oder grotesken Beispiel schöpferisch illustrierte. So schreibt er: »Die neudeutschen Wörter haben den großen Fehler, daß das neue Wort nur den Gattungssinn, selten den abgeschnittenen, individuellen, lebendigen des alten zuträgt und daß es folglich dem Witze, dem Feuer und der Kürze den halben Wortschatz ausplündert ... Nur einige neue möchten vielleicht dem Witze noch lieber sein als die alten; z. B. › Pferch‹ statt › Park‹. ›Wir Beide – könnte der Witz erzählen – erhoben uns in der Sternennacht; Thäler an Thälern, Blüthen um Blüthen hingen; endlich, um den seligen Zauber zu vollenden, empfängt uns mitten in der schimmernden Wildniß der Natur ein köstlicher – Pferch‹!«
Hat man so der Pflicht Genüge getan, die Sprachanalyse (und Sprachsynthese) von Karl Kraus, die künstlerisch-kritische Methode seiner »Auskultation eines Verses«, ja einer bloßen grammatikalischen Regel in die deutsche Geisteshistorie einzugliedern, dann muß man wohl abschließend für neue Leser noch sagen, wie es um seine sprachliche Position innerhalb der eigenen Epoche bestellt war. Sie war bestimmt von der leidenschaftlichen Überzeugung, daß der Wortkatarakt des Journalismus nicht nur die Sprache korrumpiert, sondern das Leben selbst. Diesem Katarakt stellte sich Karl Kraus als Einzelner entgegen. Er fing die kleinsten und trübsten Wellen auf und versuchte an jeder zu zeigen, wie gefährlich die Sturzflut geworden war. Indem er das tat, verwandelte seine Sprache Häßliches in Schönes. Aber da es ihm nicht um Ästhetik im intellektuellen und literarischen Sinne ging, sondern um Leben und Tod der Menschheit, verabscheute er jene Literaten, denen die Sprache nur ein hieratischer Schmuck war und das Wort eine falsche Geste der Tradition, die in ihrer Starrheit den elementaren plebejischen Sprachzerfall nicht aufhalten konnte, ja die ihm zur Hilfe kam als ein billiges (oder kostbares) Ornament, hinter dem die Sprachfäulnis nur um so bedrohlicher weiterwucherte. Deshalb hat sein revolutionäres Wort gegen das falsche Edelmetall der Prezioesen so oft die wahren Zeugen der deutschen Vergangenheit beschworen, hat er so tief ihren verschollenen Worten und Werten gelauscht. Denn seine Sprache war, im zwanzigsten Jahrhundert, eine echte, späte Frucht dieser lebendigen Tradition, und, wie man hoffen möchte, auch eine neue Saat.
Die erste Ausgabe des Buches »Die Sprache« erschien 1937, ein Jahr nach dem Tode des Autors. Herausgeber des Werkes war Dr. Philipp Berger, der die ursprüngliche, schwierigste Arbeit der endgültigen Zusammenstellung, Manuskriptvergleichung und Korrektur, kurz, die »gewissenhafte Betreuung des verwaisten Wortes« in vorbildlicher Weise leistete und dem somit auch das Hauptverdienst für die Fassung dieser zweiten Ausgabe gebührt. Seine dankbare Erwähnung der »unentbehrlichen Mitarbeit von Fräulein Frieda Wacha und Herrn Dr. Oskar Samek« sei hier wiederholt. Der Letztgenannte hat auch diesmal an den Arbeiten und Problemen der Herausgabe unermüdlichen aktiven Anteil genommen.
Unter allen Kontrasten der Zeit ist wohl das Schicksal Dr. Philipp Bergers einer der gräßlichsten; der reine Arbeiter am Wort dieses reinsten Buches wurde von den Nationalsozialisten nach Polen verschleppt und dort vermutlich ermordet. Er ist »verschollen« – aber nicht für die deutsche Literatur, die seinen Namen mit dem der »Sprache« immer verbinden wird.
Der jetzige Herausgeber hat außer einer kleinen Sprachglosse noch drei größere Arbeiten in die ursprüngliche Form des Werkes eingefügt. Eine davon – »Wenn das Wort ergriffen wird« – hatte Dr. Berger nur aus zeitgebundenen Gründen fortgelassen, die heute nicht mehr bestehen. »Dichters Klage» ist angesichts der jüngsten Literaturentwicklung in Deutschland besonders wichtig und aktuell. Die radikalste Änderung im Vergleich zur ersten Ausgabe bedeutete die Aufnahme der umfangreichen Betrachtung »Subjekt und Prädikat«. Sie war, wie der Herausgeber aus persönlicher Erinnerung weiß, Karl Kraus besonders lieb. Im Sommer 1932 erhielt er während eines Ferienaufenthaltes am Achensee die Korrekturfahnen dieses Aufsatzes vom Verlag, und er las ihn, fasziniert und faszinierend, dem jetzigen Herausgeber vor, erfüllt von der Besorgnis, daß vielleicht kein Leser die Tiefe und Verschlungenheit der sprachlichen Abgründe voll verstehen werde.
Am 24. September 1953 starb in Wien Berthold Viertel, der Karl Kraus viele Jahre hindurch freundschaftlich nahestand. In dem Essay »Der Reim« rühmt Kraus den Lyriker Viertel, in der »Fackel« hat er wiederholt des bedeutenden Theatermannes gedacht. Noch tiefere Freude schien er immer wieder von der schöpferischen Vitalität der privaten Persönlichkeit zu empfangen, die für das einsame Leben von Karl Kraus eine oft beglückende Bereicherung war.
Die Aufsätze dieses Buches sind in der »Fackel« zu den folgenden Zeiten erschienen:
Hier wird deutsch gespuckt: Dezember 1915 – An die Anschrift der Sprachreiniger: Juni 1921 – Die grammatikalische Pest: April 1903 – Bis: Juni 1921 – Nur noch und nur mehr: Juni 1921 – Wieso kommt es: Juni 1921 – Daran vergessen: Juni 1921 – Der Rückwärtige: Januar 1911 – Etwas, wovor man zurückschrickt: Mai 1927 – Ohne daß: Februar 1930 – Dorten: Januar 1917 – Druckfehler: November 1920 – Schändung der Pandora: Oktober 1918, Januar 1921 – Der Apostroph: Dezember 1924 – Das Komma: Juni 1921 – Vom Bäumchen, das andere Blätter hat gewollt: Juni 1921 – Es: Juni 1921 – Eine Richtigstellung: Juni 1921 – Nachhilfe: Oktober 1925, Oktober 1925, Oktober 1926, Dezember 1924, Oktober 1925, Oktober 1925, August 1924, August 1924, August 1924, Juni 1921 – Ein klassisches Zeugma: Dezember 1924, März 1925 – Sprachlehre: Februar 1927 – Der und welcher: Februar 1927, Mai 1927 – Vom Plagiat: Juni 1921 – Lesarten: Januar 1917, August 1924, Januar 1924, Januar 1924 – Hexenszenen und anderes Grauen: April 1926 – Von Humor und Lyrik: November 1921 – Überführung eines Plagiators: November 1921 – Zweifel des Lesers: Mai 1927 – Als und wie: Mai 1927 – Aus oder von: Mai 1927 – Nicht einmal!: Juni 1921 – Zwei, deren Ansichten auseinandergehen: Mai 1927 – »Verbieten« und »verbitten«: Mai 1927 – Zuzumuten und zuzutrauen: Mai 1927, Dezember 1925 – Es trog!: Mai 1927 – Ein sonderbares Imperfektum: März 1914 – Die Rettung: Juli 1931 – Einer der besten Titel: September 1930 – Auf »Faust« hat er's abgesehn!: September 1930 – Die Neue Freie Presse erteilt Sprachlehre: August 1929 – Dichters Klage: Juni 1923 – Zwei Dichter: Januar 1924 – Überfracht: Mai 1927 – Sprachlehre für die Nationalbank: Mai 1925, Oktober 1925 – Sprachlehre für das Elektrizitätswerk: Oktober 1925 – Brauchen: März 1925 – Alte und neue Formen: Oktober 1925 – Pretiosen: Mai 1926 – Kleiner Erfolg: Oktober 1926 – Falsches Lob: Oktober 1925 – Falscher Tadel: Januar 1917 – Metaphern: November 1922 – Die Handelssprache: Oktober 1925 – Schöne Aussichten: August 1929 – Der Leser schreibt: Oktober 1925 – Wenn das Wort ergriffen wird: August 1929 – Subjekt und Prädikat: Oktober 1932 – Da steh' ich nun, ich armer Tor!: Mai 1926 – Handel mit Sprachgut: Mai 1927 – Der Ton: Oktober 1925 – Bei den Tschechen und bei den Deutschen: Juni 1921 – Die Wortgestalt: Juni 1921 – Ein Faust-Zitat: Juni 1921 – Druckfehler: August 1920 – Schicksal der Silbe: Juni 1921 – Der Reim: April 1927 – Wort und Wert: Februar 1929 – Die Sprache: Dezember 1932.