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Lesarten

Kann ein Fürst in die Nachwelt mit nichts als mit den schönen Tigerflecken der Eroberer strahlen wollen, womit ihn die Timurs, Attilas, Dessalines und andre Geißeln Gottes oder Knuten des Teufels überbieten? Wie kalt geht man in der Geschichte über die unzähligen Schlachtfelder, welche die Erde mit Todesbeeten umziehen? Und mit welchen Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche die sogenannte Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortspritzenden Wasserstrahl der Fontänen, ebenso nur auf emporspringenden Blutströmen in der Höhe sich erhalten!

Der Satz aus Jean Pauls »Levana«, wörtlich so der Reclam'schen Ausgabe entnommen, dürfte durch einen jener Druckfehler verstümmelt sein, die dieses schwierigste aller Genies noch unwegsamer machen, den Dichter, der sich durch Empfindungs- und leider auch Bildungskonglomerate, die oft – oder vielmehr »häufig« – seine Sätze sind, den Strom der Phantasie staut und den Schritt, der fähig wäre, seiner Vision zu folgen, noch durch die Angeln der Fußnoten zu hemmen weiß. Die Wendung: »die sogenannte Ajüstagen« als alten grammatischen Usus anzusprechen, ist auf den ersten Blick verlockend, hieße aber den ganzen Satz zu einem Monstrum machen, da der Vergleich schlecht konstruiert wäre. Es bleibt wohl nichts übrig als »die« durch » wie« und den Plural »sich erhalten« durch » sich erhält« zu ersetzen. Jener Plural ist kein Druckfehler, sondern offenbar eine Entgleisung, da ja das Verbum von »der Krone«, die verglichen wird, ausgeht und nicht von den Ajüstagen oder Blechaufsätzen, mit denen verglichen wird. Der Dichter war hier offenbar durch die Nähe des Plurals »Blutströmen« klanglich verführt. Aber so schön der Vergleich ist, ganz Sprache ist der Gedanke eben doch nicht geworden, wenn der bessere Klang mit dem bessern Sinn nicht zusammenstimmt. Jean Paul wirkt manchmal so, als ob die Schöpfung an einem Wunder die letzte Korrektur versäumt hätte, etwa auch die vorletzte, und seine Nachdrucker haben das übrige getan, indem sie es unterlassen haben. Der Schutz der Dichter gegen das Recht ihrer Verbreitung ist eine grauenvolle Sorge. Der deutsche Literarhistoriker, dem das deutsche Wort immer ein Fremdwort ist, ahnt nicht, selbst wenn er »Lesarten vergleicht«, was aus den Klassikern im Lauf jener Jahrzehnte, in denen die deutsche Bildung grassiert, geworden ist. Wie sollte es da der Leser ahnen?

*

Sehr geehrter Herr!

In der letzten Nummer der »Fackel« ist eine kleine Unrichtigkeit unterlaufen. Dort heißt es S. 74 im Programm der Berliner Vorlesung vom 26. Februar: Liliencron: Die betrunkenen Bauern.

Liliencron selbst betitelt den dreiundzwanzigsten Kantus von »Poggfred«: Die besoffenen Bauern.

Ich mache Sie auf dieses Versehen aufmerksam, weil dadurch die ganze urwüchsige Titelkraft verlorengeht.

Weidlingau, 14. Juni 1924.

In dankbarer Verehrung

– –

Der Fall ist nicht uninteressant, denn »unterlaufen« kann da gar nichts sein, sondern alles nur beabsichtigt, und die Unrichtigkeit steht vielleicht im »Poggfred«. Tatsächlich verhält es sich so: Der Titel »Die betrunkenen Bauern«, der ja auf keinem Druckfehler und keinem »Versehen« beruhen kann, muß in dem Text, aus dem vorgelesen wurde, vorhanden und müßte dort falsch gewesen sein. Dieser Text ist der der Fackel, in der, wie oft in Vorlesungsprogrammen angeführt erschien, das Gedicht als Manuskript veröffentlicht wurde. Der Kantus des »Poggfred«, in dem es später erschien, war damals schon im Druck und brachte den Titel, den Liliencron de facto ursprünglich geschrieben hatte: »Die besoffenen Bauern«. Die Bezeichnung entbehrt im Gegensatz zur Ansicht des freundlichen Schreibers so sehr der urwüchsigen Titelkraft, daß diese ihr durch keine wie immer geartete Änderung verloren gehen könnte, aber ganz gewiß durch die Änderung in »Die betrunkenen Bauern« zuwächst. Wie nun kam diese Änderung zustande? Weil eben das gerade Gegenteil von dem, was hier gemeint wird, vorhanden ist; weil die »besoffenen« Bauern nur einer ganz äußerlichen Realistik des Exzesses, des alltäglichen Einzelfalles entsprechen, während die betrunkenen Bauern dem Stil, dem Typus, dem Ein- für allemal dieser unvergleichlichen Trunkenheit wie an einem niederländischen Gemälde gerecht werden; weil das kräftigere Wort schwach und leer, das schwächere stark und voll ist, habe ich mich seinerzeit entschlossen, Liliencron, der für stilistische Ratschläge zugänglich war, die Änderung vorzuschlagen. Er ging darauf ein, und in meinem Besitz ist der Korrekturabzug des Gedichtes, auf dem er »besoffenen« gestrichen und »betrunkenen« mit seinen großen Lettern hinzugeschrieben hat. Allerdings scheint er die künstlerische Absicht, die ihm die Korrektur anriet, mißverstanden zu haben, denn er schrieb in dem Begleitbrief:

 

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 29. 10. 5.

Hochverehrter, lieber Herr Kraus,

ich sende mit wendender Post die Correctur zurück, die ausgezeichnet war. Gern: Die betrunkenen statt Die besoffenen Bauern. Einmal mußt ich schon vor Jahren in Österreich Schmutz für Dreck corrigieren. Oh Ihr lieben zarten Österreicher!

Mit alter Liebe
Ihr Liliencron.

 

Ich dürfte wohl daraufhin deutlicher expliziert haben, daß ich keineswegs aus österreichischer Zartheit die nur scheinbar schwächere Fassung der nur scheinbar stärkeren vorzog und daß ich, der natürlich nicht gezögert hätte, Dreck für Schmutz zu setzen, hier aus Gründen der künstlerischen Anschauung, und gerade um die ganze Fülle des Begriffes zu sichern, den schwächeren Ausdruck als den stärkern empfand und vorzog. Ganz gewiß gehört diese Änderung nicht in die Kategorie jener, die Liliencron sonst in Österreich widerfuhren oder die ihm der Simplicissimus angetan hat, der ihm den Titel »Die alte Hure im Heimatdorf« durch den Titel »Im Heimatdorf« ersetzt hat. Liliencron, der mir (April 1903) dieses Gedicht in Alt-Rahlstedt vorlas und mit Recht seine Freude an dem Titel hatte – besonders der Eindruck, den er damit auf die gleichfalls zuhörende Bahnhofwirtin machte, belustigte ihn höchlich –, war über die Verstümmelung, die bald darauf dem Simplicissimus beliebte, ehrlich empört. Frank Wedekind, der sein Lebtag unter den wirklichen oder angenommenen Verfolgungen der Zensur litt, ersparte ihr leider in einem besonders kostbaren Fall die Mühe, zu der sie sich der Fackel gegenüber nie aufgerafft hätte, und schickte mir die moralistisch dürftige Variante des schönen Gedichtes »Konfession«, wonach er mit nicht sehr freier Stirne schwört, daß er viel lieber eine »Dirne« wäre, anstatt – eine Möglichkeit, von der ich leider erst später erfuhr – mit freiem Schwure zu bezeugen, daß er viel lieber eine Hure wäre als an Ruhm und Glück der reichste Mann. Er freilich hat mich nicht für jenen zarten Österreicher gehalten, zu dem er sich wohl des Vorschlags der Abschwächung zu versehen gehabt hätte, weshalb er ihm die stärkere Fassung gar nicht erst zumuten wollte; er hat die Zartheit der Zensur bedacht. Es verdrießt mich noch heute. Daß sich aber Liliencron die Änderung völlig zu eigen gemacht hatte, beweist die folgende rührende Anfrage:

Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 5. 11. 5.

Lieber Herr Karl Kraus, den 20. dieses Monats lese ich vor in Frankfurt am Main. Würden Sie erlauben, daß ich dort » Die betrunkenen Bauern« vortrage? Um freundliche Antwort bittet Ihr alter

Liliencron.

 

Sonst pflegen die Vortragenden nicht einmal um Erlaubnis zu bitten, wenn sie die Gedichte anderer vortragen wollen.

*

In der Fackel ist das links stehende, im Prager Tagblatt das rechts stehende Gedicht gedruckt worden:

Als der erste Schnee fiel
Von Leopold Friedrich Günther von Goeckingk
Das Mädchen an den Schnee
Nach Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (um 1780).
Von Fiete Fischer.
Gleich einem König, der in seine Staaten
Zurück als Sieger kehrt, empfängt ein Jubel dich!
Der Knabe balgt um deine Flocken sich,
Wie bei der Krönung um Dukaten.
Gleich einem Herzog, der in seine Staaten
Zurück als Sieger kehrt, empfängt der Jubel dich!
Der Knabe schlägt um deine Flocken sich
Als um Dukaten.
Selbst mir, obschon ein Mädchen, und der Rute
Lang' nicht mehr untertan, bist du ein lieber Gast;
Denn siehst du nicht, seit du die Erde hast
So weich belegt, wie ich mich spute?
Und mir, obschon ein Mädchen, und der Rute
Kaum noch untertan, bist du ein lieber Gast:
Siehst du, seit du die Erde hast
So weich belegt, wie ich mich spute?
Zu fahren, ohne Segel, ohne Räder,
Auf einer Muschel hin durch deinen weißen Flor,
So sanft, und doch so leicht, so schnell wie vor
Dem Westwind eine Flaumenfeder.
Zu gleiten, ohne Segel, ohne Räder,
Auf einem Schlitten durch den weißen Flor,
So sanft, und doch so leicht, so schnell, wie vor
Dem Winde eine Flaumenfeder.
Aus allen Fenstern und aus allen Türen
Sieht mir der bleiche Neid aus hohlen Augen nach;
Selbst die Matrone wird ein leises Ach
Und einen Wunsch um mich verlieren.
Aus allen Fenstern, allen Türen
Sieht mir der bleiche Neid aus scheelen Augen nach.
Ja selbst die Muhme muß ein leises Ach
Und einen stillen Wunsch um mich verlieren.
Denn der, um den wir Mädchen oft uns stritten,
Wird hinter mir, so schlank wie eine Tanne, stehn,
Und sonst auf nichts mit seinen Augen sehn.
Als auf das Mädchen in dem Schlitten.
Und er, um den ich mit den Schwestern mich gestritten,
Wird hinter mir, schlank wie die Tanne, stehn,
Und sonst auf nichts mit seinen Augen sehn,
Als auf das Mädchen in dem Schlitten.

Der Name des Dichters des rechts stehenden Gedichtes war klein, der der Entdeckerin fett gedruckt. Die gelindere Annahme wäre noch, daß die Dame mit einer früheren Fassung des Gedichts ihr Spiel treiben wollte und unter den Beweis ihres literarischen Geschmacks einfach ihren Namen gesetzt habe. Das ist aber wohl auszuschließen, weil selbst ein erster Entwurf solche Minderwertigkeiten nicht enthalten haben kann. Auch gibt sie ja ausdrücklich an, daß es sich um eine »Nachdichtung« handelt. Nun versuche ein Mensch zu ergründen, welcher Teufel eine Literatin reitet, ein vollkommenes Meisterwerk herzunehmen – das sie, wenn sie es in ihrer Urteilslosigkeit schon für verbesserungsbedürftig hält, noch immer nicht vor der Öffentlichkeit anzutasten hätte – und Zeile für Zeile zu besudeln, mit ihrem Kitsch zu überziehen, ihm den einzigartigen Wohllaut, sein Wesen: die Empfindung des Gleitens durch den Schnee, einfach auszutreiben. Und doch vermeint sie offenbar, all dies erst recht hineinzubringen, wenn sie das Fahren durch ein wörtliches »Gleiten« ersetzt, als ob nicht eben das Wunder in dem Fahren ohne Segel, ohne Räder enthalten wäre. (Man beachte das erstaunte Innewerden, das in dem Komma »zu fahren, ohne ...« angedeutet ist.) Und in der Muschel, die nun ihren Stimmungston und lieblichen Zeitcharakter für einen Schlitten eingebüßt hat. Die ganze Schlittenfahrt war in den Zeilen »Denn siehst du nicht, seit du die Erde hast / so weich belegt, wie ich mich spute«, während »Siehst du« eine ebenso schroffe wie dumme Frage ist, die das entzückende Übergleiten in die zweite Zeile zerstört und damit das »weich belegt« zur nüchternen Feststellung macht. Und welche Verwandlung von »durch deinen weißen Flor« in »durch den weißen Flor«! Man beachte jedoch vor allem, welch empörende Missetat an diesem unsterblichen Hauch begangen ist:

               wie vor
Dem Westwind eine Flaumenfeder.

Wie fest nun die Flaumenfeder dem gewöhnlichen »Winde« standhält. Und wie unscheinbar nun Der ist, der früher »so schlank wie eine Tanne« stand! Was soll man mit dieser Fiete machen, die nicht nur in der Überzeugung lebt, daß sie Goeckingk verbessert hat, sondern auch den Mut hat, sie drucken zu lassen. Und macht man nichts, warum sollte sie nächstens nicht auf die Idee verfallen, dem Nachtlied Goethes auszuhelfen, etwa mit:

Spürest du
Nicht den geringsten Hauch.

Und für solchen Frevel, für den »Verletzung des Autorrechts« – gäbe es ein solches – gar keine Bezeichnung wäre, gibt's keine Sühne, sondern vermutlich noch Honorar in tschechischen Kronen – von einer Redaktion, die wissen mußte, daß das Gedicht in der Fackel erschienen oder hier doch von Goeckingh die Rede war und die, wenn sie schon kein Bedenken gegen den bloßen Versuch der Veränderung eines vorhandenen Kunstwerkes hatte, eine Erkundigung nach dem Urtext nicht unterlassen durfte. Das Mindeste, was sie nunmehr zu tun hat, ist, daß sie diesen wiederherstellt und ihren Lesern die Entscheidung überläßt, ob Goeckingk der Unterstützung durch die Fiete Fischer bedurft hat.

*

Das vielberufene »Zweite Sonett der Louïze Labé lautet nach dem altfranzösischen Original:

O beaus yeus bruns, ô regards destournez,
O chaus soupirs, ô larmes espandues,
O noires nuits vainement attendues,
O jours luisans vainement retournez:

O tristes pleins, ô desirs obstinez,
O tems perdu, ô peines despendues,
O mile morts en mile rets tendues,
O pires maus contre moi destinez.

O ris, ô front, cheueus, bras, mains et doits:
O lut pleintif, viole, archet et vois:
Tant de flambeaus pour ardre une femelle!

De toy me plein, que tant de feus portant,
En tant d'endrois d'iceus mon coeur tatant,
N'en est sur toy volé quelque estincelle.

Rilke hat es übersetzt und in »Worte in Versen« IV hat »nach dem Original und einer vorhandenen Übertragung« – also nach der Rilkes – ein Versuch zu der Gegenüberstellung geführt:

O braune Augen, Blicke weggekehrt,
verseufzte Luft, o Tränen hingegossen,
Nächte, ersehnt und dann umsonst verflossen,
und Tage strahlend, aber ohne Wert.
O schöne Augen, Blicke abgewendet,
o Seufzer, Klagen, o vergoßne Tränen,
o dunkle Nächte, die durchwacht mein Wähnen,
o lichter Tag, vergebens mir verendet!
O Klagen, Sehnsucht, die nicht nachgibt, Zeit
mit Qual vertan und nie mehr zu ersetzen,
und tausend Tode rings in tausend Netzen
und alle Übel wider mich bereit.
O Trauer du, da Sehnsucht stets verweilt,
o alle Übel wider mich bereitet,
o tausend Tode rings um mich gebreitet,
o Ewigkeit der Qual, da Zeit enteilt!
Stirn, Haar und Lächeln, Arme, Hände, Finger,
Geige, die aufklagt, Bogen, Stimme, – ach:
ein brennlich Weib und lauter Flammen-Schwinger.
O Geigenton des Leids, Musik im Schmerz,
o Lächeln, Stirn und Haar, o edle Hand –
zu viele Flammen für ein armes Herz!
Der diese Feuer hat, dir trag ichs nach,
daß du mir so ans Herz gewollt mit allen,
und ist kein Funken auf dich selbst gefallen.
Weh dir, der alle diese Feuer trägt,
daß du sie an mein Leben hast gelegt,
und bleibst von jedem Funken unverbrannt!

Solche Kleinodien zu finden und zu lieben, ist Sache Rilkes, ist ein Teil seiner Produktion; das gefundene zu fassen, ist ihm in diesem Fall nicht so gelungen wie es zu vergeuden. Gelegentlich eines Vortrags hieß es:

Sie trägt, wie man noch hörend sieht, die initialen O als eine Perlenkette der Tränen. In Rilkes Sachlyrik entbehrt sie dieses Schmucks, ist die Leidende der Liebe ein Aschenbrödel der Wortgnade, sich bescheidend auf »Blicke weggekehrt«, auf »Tage strahlend, aber ohne Wert«, und die schmerzensreiche Gewalt des »Tant de flambeaus pour ardre une femelle!« verkümmert zu dem schmerzhaften Kontrast: »ein brennlich Weib und lauter Flammen-Schwinger«. Von dieser Übertragung angeregt, die neben dem Original gedruckt erschienen ist, habe ich eine andere versucht.

Diese folgt sicherlich weniger dem Original als dem Bestreben, jene Härten »wegzukehren«. Felix Grafe, dem sonst manche Nachdichtung – auch ehedem für die Fackel – geglückt ist, hat nun – in der ›Wage‹ – den Ehrgeiz, wieder etwas von dem Weggekehrten zurückzuschaffen:

Oh brauner Blicke wimpernweites Meer,
oh heißer Atemhauch im Strom der Tränen,
oh schwarzer Abend, schwer von eitlem Sehnen,
oh goldner Tage eitle Wiederkehr.

Oh Klagen, Wunsch, oh Schwanken hin und her,
worin vergeudet Stunden leer sich dehnen,
oh Fangnetz, das mit tausendfältigen Zähnen
mich einstrickt in ein Sterben hart und schwer.

Oh heitere Stirn, Haar, Finger, Arm und Hände!
Du Geige, Bogen, Stimme, Aufschrei, Ruf:
Zu heiß, zu heiß für mich armseliges Weib!

Dich klag' ich an, der dieses Feuer schuf,
daß du mein Herz entzündet allerenden,
doch ach, kein Funken sprang auf deinen Leib.

Die Tränen sind beibehalten, aber die Perlenkette ist durchbrochen. Und wo kommt nur der »Aufschrei, Ruf« her, dessen Inhalt ja doch nicht der folgende Vers sein darf, der ihren Aufschrei, ihren Ruf enthält: Zu heiß, zu heiß usw. Dieser ist die Gefühlskonklusion der Erinnerungsmomente und nicht das, was die »Stimme« spricht (die in meiner Umdichtung so wenig wie der Doppelpunkt vorkommt, der in ihr nur allzu klar gewesen wäre, aber hier verhängnisvoll zweideutig ist). Bei Rilke sind immerhin die argen Flammenschwinger (die bloß eine Reminiszenz an den Krieg sind und nicht an die Liebe) an einem zusammenfassenden »ach« entzündet, das unglücklich genug mit einem »nach« reimt. Aber für une femelle: »mich armseliges Weib«, das ist zwar dauerhafter als ein brennlich Weib, gleichwohl wird auch da wieder der Empfindungston mitzerstört, der eben zwar in »femelle«, aber nie in »Weib« enthalten ist und darum, wie immer man dieses auch bezeichne, doch nur in einem »armen Herzen« durchschlägt. Gerade weil »zu heiß, zu heiß« ihn schon hat, wirkt dann das Weib umso armseliger, doch anders armselig als es soll. Recht verunglückt ist in der vorletzten Strophe auch das »Haar«, da es in die Senkung geraten ist, was im Original dem erst an vierter Stelle stehenden »bras« widerfährt, aber hier darum fatal ist, weil es im Vortrag ein Stirnhaar ergibt. (Bei Rilke, wo Stirn in die Senkung kommt, ist's ein Stirn haar.) Der Reim »Hände – allerenden« ist die Sackgasse, in der das nach meinem Versuch recht überflüssige Experiment endet; und daß schließlich kein Funken auf den Leib sprang, wirkt als dürftiges Fazit, Postfizit, Defizit. Gleichwohl ist auch hier eine gewisse poetische Befreiung aus jener Dinglichkeit der Rilkeschen Lyrik geglückt, wo seit jeher »die Liebe geleistet« wird und eine Leidenschaft dem, der sie entzündet hat, es »nachträgt«. (Man soll einem nichts nachtragen, außer ein solches Wort in solcher Sphäre.) Und es wäre eine vielleicht doch nicht fruchtlose Übung, wenn alle deutschen Lyriker es mit diesem Sonett versuchen und mit meinem Versuch aufnehmen wollten. Es wäre die Ausfüllung des Semesters einer Sprachschule, die mir immer vorschwebt und in der ich mich verpflichten würde, in einer Stunde den Hörern mehr von dem Gegenstand beizubringen, als ihnen eine Leihbibliothek der deutschen Literatur vermittelt, und so viel gutzumachen, als zehn Jahrgänge deutscher Zeitungslektüre an ihnen gesündigt haben. Aber es wird wohl, dank der anderen Arbeit, dabei bleiben, daß ich mit solcher Fähigkeit prahle statt sie zu betätigen, ganz wie bei der Großsprecherei, daß ich mit dem kleinen Finger die Bühne führen könnte, die andere mit beiden Händen ruinieren.


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