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Die Wortgestalt

Als das stärkste Beispiel, wie im hingestellten Wort zugleich eine Situation mit ihrem ganzen Hintergrund dasteht und der sie beherrschende Charakter mit allen Schauern, die von ihm in alle Entwicklung und dramatische Fortsetzung ausgehen, schwebt mir eine Stelle aus dem Schluß des III. Teils von Heinrich dem Sechsten vor. Wie viele Menschen gibt es, die Bücher lesen, und wie wenige dürften wissen, daß solch ein Wert den vielen unerschlossen ist! Mir ist im ganzen großen Shakespeare nichts bewußt, das sich dieser Wirkung, von einem Wort bewirkt, an die Seite stellen ließe, wiewohl wahrscheinlich die deutsche Sprache daran mitgewirkt hat. Es steht am Beginn von Glosters blutiger Laufbahn und öffnet gleichsam das Höllentor der Richard-Tragödie. Von den drei Brüdern hat soeben König Eduard Margarethas Sohn durchstochen, Gloster sticht nach, Clarence folgt. Da Gloster auch die Mutter umbringen will, mahnt Eduard ab: Wir taten schon zu viel. Während sie in Ohnmacht fällt, wird Gloster von einem Entschluß gepackt:

Clarence, entschuld'ge mich bei meinem Bruder.
In London gibt's ein dringendes Geschäft:
Eh ihr dahin kommt, sollt ihr neues hören.

Clarence.

Was? Was?

Gloster.

Der Turm! der Turm! (ab)

In der nächsten Szene – Zimmer im Turm – wird dann Heinrich, mit einem Buch in der Hand, abgestochen von einem, »der nichts weiß von Mitleid, Lieb' und Furcht« und der »Zähne im Kopf bei der Geburt hatte«. »The tower! the tower!« könnte nicht so das Schrecknis malen oder es mag an dem Grausen des Rufs die Vorstellung der Lokalität ihren Anteil haben. Dieses »Der Turm! der Turm!« ist ein unüberbietbarer Eindruck. Wie wenn darin einer säße, der einem unerbittlichen Gläubiger sein Blut schuldet. Und doch zugleich wie eine Mahnung an die Blutschuld dessen, der ihn beruft, richtet der Turm riesengroß sich auf. Dieser Richard aber weiß, was seine Pflicht ist. Nachdem man die Königin abgeführt hat, fragt Eduard, wohin er verschwunden sei.

Nach London, ganz in Eil, und wie ich rate,
Ein blutig Abendmahl im Turm zu halten.

Da kann Eduard nicht umhin, der Tüchtigkeit dieses Bruders, der ein Mordskerl ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen:

Er säumt nicht, wenn was durch den Kopf ihm fährt.

Der Turm aber steht da und wenn seine Vorstellung noch ein anderes Bewußtsein zuließe, würde man sich fragen, was alle Theaterdekorationen der Welt vor diesem Wortbau eines Wortes vermöchten. Wie dieser ungeheuren Fügung ein Monstrum in Menschengestalt entspringt, wird erst – im Unterschied zweier dramatischen Abgänge – die ganze Macht wie Ohnmacht des Wortes sinnfällig, wenn man dem offenen Höllentor jenes Rufs das dem Mephistopheles verschlossene entgegenhält: wie dort das Wort vermag, was hier Worte versäumen.

Doch in der Goethe'schen »Pandora«: der Wortbrand in der Feuerbotschaft der Epimeleia, der Chor der Krieger, Annäherung und Entfernung des ersehnten Trugbilds in den cäsurversunkenen Versen des Epimetheus – es müßte, immer wieder, auf solche Wunder darstellend hingewiesen werden. »Wenn nach Iphigeniens Bitte um ein holdes Wort des Abschieds der König ›Lebt wohl‹ sagt, so ist es, als ob zum erstenmal in der Welt Abschied genommen würde und solches ›Lebt wohl!‹ wiegt das Buch der Lieder auf und hundert Seiten von Heines Prosa.« (Heine und die Folgen.) Das Geheimnis der Geburt des alten Wortes: niemals noch hat »die Stunde« so geschlagen, niemals noch währte ein Atemzug so die Ewigkeit wie in den vier Zeilen von Claudius' »Der Tod«; nie stand ein Wald so schwarz und still, nie stieg der weiße Nebel so »wunderbar« wie in dem »Abendlied«. In der neueren Wortkunst möchte ich dem »Tibetteppich« Else Lasker-Schülers einen das überhaupt nicht Vorhandene überragenden Rang einräumen. Meine eigenen Schriften gebe ich als Gesamtheit her für einige Stellen, in denen das, worauf es ankommt und wozu überall der Weg beschritten ist, mit einer fast den eigenen Zweifel besiegenden Unabänderlichkeit erfüllt scheint. Es sind, von außen besehen, Beispiele anderer Art als jene, wo ein Turm, ein Wald, ein Brand, ein Gewebe schon als die Wortkulisse den Prospekt der Phantasie stellen. Aber weil die eigentliche Schöpfung die Materie der Vorstellung überwindet und ihr selbst die Schönheit, die der Geschmack ihr absieht, nichts anhaben könnte, so beweist sich die Symbolkraft der gewachsenen Worte ebenso dort, wo sie eine Realität, wie dort wo sie einen gedanklichen Vorgang bezeichnen: alles ist so erst im Wort erlebt, als ob es vorher und außerhalb nicht gedacht werden könnte, und glaubte man auch, dieser Gestalt hinterdrein eine Meinung abzugewinnen wie jener einen Bericht. Worte, die schon allen möglichen Verrichtungen und Beziehungen gedient haben, sind so gesetzt, daß sie das Ineinander ergeben, in welchem Ding und Klang, Idee und Bild nicht ohne einander und nicht vor einander da sein konnten. Wie dort ein Turm, ein Wald nicht war oder erst von diesem den Inhalt empfängt, den er nicht hatte, so ist etwa das Wesen des Reimes als das »Ufer, wo sie landen, sind zwei Gedanken einverstanden«, nun erst zugleich hörbar und sichtbar geworden. Auch hier wäre der Materialwert, wenngleich nur der angewandten Vorstellung, eher jener Reiz, über den die eingeborne Kraft der Sprache hinwegmuß. Was sie von außenher fertig bekommt, verwandelt sie doch erst wieder in das Wort an sich und sie verschmäht durchaus jene Voraussetzungen von Gefühl und Stimmung, die der gewöhnliche Leser eben darum für wesentlich hält, weil er sie als seine eigene Leistung, als sein Mitgebrachtes wiedererkennt. Was die Sprache aus sich selbst vermag, erweist sie im Satz einer Glosse, wo jenen die Beziehung auf den mitgebrachten Anlaß befriedigt, so gut wie im Vers, wo er seine Empfindung zu agnoszieren glaubt. Die äußere Verständigung ist das Hindernis, das die Sprache zu überwinden hat. Wo es ihr erspart bleibt, ist die Daseinsfreude, die sie sich selbst verdankt, reiner. Ich möchte, was sie sich in jenem höchsten Sinne der Eitelkeit »einbildet«, um es zu haben, an einer Strophe dartun, an der sich auch jenen, die es nicht spüren, wie kaum an einem andern Beispiel das Sprachwesen anschaulich machen läßt: die Möglichkeit des unscheinbarsten Wortes, das nur je einer Aussage gedient hat, sich zur Gestalt zu erheben. Es ist die Strophe des Gedichtes »Verlöbnis«, in der die Paarung der Geschlechter zu tragischer Unstimmigkeit, als Mission des Weibes und als Funktion des Mannes, Wortgestalt erlangt hat: im Infinitiv der weiblichen Natur und im Finalsatz der männlichen, in der beruhenden Fülle und im entweichenden Rest.

Und seine Armut flieht von dem Feste,
daß sie nicht an der Fülle vergeh'.
Weibsein beruht in Wonne und Weh.
Mann zu sein rettet er seine Reste.

Welche Hast, die eben noch sich raffend Zeit hat, den Bürger in Ordnung zu bringen, verrät da schnöde die Natur, die eingebettet ruht zwischen diesen rapiden Versen der fliehenden Armut und der geretteten Reste. Wonne und Weh sollen sie nicht lyrisch verklären, darin ist scheinbar etwas von der vorausgesetzten Schönheit, die der Laie für den Wert nimmt. Sie sollen die Pole des weiblichen Wesens bezeichnen, und daß sie im eigenen W alliterieren, ist ihr Gedanke. Nun aber wird die Wesenhaftigkeit der geschlechtlichen Natur ihrer Zweckhaftigkeit gegenübergestellt: Fülle und Haltung, Entsagen und Versagen, Sein und zu sein – um wie viel länger währt doch dieses »Weibsein«, das verkürzte, als dieses »Mann zu sein«; wie bleibt jenes, verflüchtigt sich dieses und wie dürftig, wie weltabschließend, wie »zu« ist diese Partikel, die in ihrer Zielstrebigkeit noch kaum je so zur Anschauung gebracht war. Und wenn er längst dahin ist, sieht man noch Weibsein in Wonne und Weh beruhn. Die schönen Stimmungen, die die Dichter von je haben und in eine Form kleiden, die sich vor den Leuten sehen lassen kann; die Lebensinhalte der neueren und ihre Eigenart, sie nicht ausdrücken zu können: das mag ja alles ungleich wertvoller und preiswürdiger sein. Aber auf dem Nebengebiet, wo ganz ungestört vom Geschmack der Welt die Sprache etwas mit dem Gedanken vorhat, muß so etwas doch etwas zu bedeuten haben.

Wie wenig sie hiebei auf die Stofflichkeit Bedacht nimmt, deren vorhandener Reiz, sei es als Gefühlston sei es als Meinungswert, ihr nur ein Hindernis bietet und nicht die Hilfe, der das Worthandwerk seine ganze Existenz verdankt, soll noch an zwei dramatischen Beispielen gezeigt sein, deren materielle Sphäre viel weiter als ihre geistige von dem Standort jenes Turms entfernt liegt. Bei Nestroy, einem jener seltenen Autoren, die den vielen, die sie kennen, unbekannt sind, gibt es winzige Zwischenszenen, wo ein Satz über die Bühne geht und mit einer Figur ein Milieu, eine Epoche dasteht. Läßt sich etwas Eindringlicheres, Zeitfarbigeres denken als jene Frau von Schimmerglanz, gefolgt von dem Bedienten in bordierter Livree, die nur mit der Weisung:

Sage er ihm: Nein!

ins Leben tritt (nachdem der ehrsüchtige Holzhacker mit der Frage, ob Euer Gnaden vielleicht um a Holz gehn, sich genähert hat), und die, wie sie aufgetaucht war, majestätisch wieder am Horizont verschwindet – eine Fata morgana für den geblendeten Blick, der ihr folgt, um sich dann mit einem »Das ist fatal!« in die nüchterne Wirklichkeit zu schicken. Ich möchte behaupten, daß diese Gestalt, die sich die vier Wörter, die sie zu sprechen hat, abringen muß, eben vermöge dieser Leistung von tieferher ins Bühnendasein eingeholt ist als eine abend-, aber nicht raumfüllende Ibsenfigur, und daß auch jener Bediente mit seinem auf Stelzen nachschreitenden:

Nein, wir nehmen's vom Greisler

– wie nur ein standesbewußter und fächertragender Peter hinter Juliens Amme – ein ganzes Stück Leben und Landschaft bedeutet, weil hier schon der Wortgeist verrichtet hat, was sonst in szenischer Ausführung erst mit schauspielerischen Mitteln bewirkt werden müßte. Und wenn in meiner Travestie »Literatur« die Kluft vorgestellt wird zwischen jener ehrlicheren Generation, die den Kommerz noch im Kommerz, zu der jüngeren, die ihn schon im Geist betätigt, so konnte sie als die weiteste Entfernung von einer neuzeitlichen Schwindelwelt nicht zu besserer Anschauung gebracht werden als in dem »entfernten Verwandten«, der von seinem Spieltisch nur manchmal einen erstaunten Blick in das Geistesleben tut und auf das Absurdum des leibhaftigen »Waschzettels« mit der Frage reagiert:

Sie, wer sind Sie eigentlich, Sie Asisponem?

Wie der gesunde Menschenverstand richtet sich diese Verständnislosigkeit vor einem papierenen Scheinwesen auf, von dem sie dumpf ahnt, daß es auf einem Umweg zu dem gleichen Lebensvorteil gelangen will. Die Stimme klingt von weiter her als dieser Verwandte entfernt ist – man glaubt die Luftlinie zu sehen. Hier ist die Unmöglichkeit, daß diese zwei Daseinsformen in demselben Weltraum vorkommen, als die Möglichkeit, daß sie in demselben Kaffeehaus vorkommen, in einem Naturlaut, der nach beiden Polen zurückschlägt, greifbar geworden. Gleichwohl dürften nicht wenige Leser meinen, daß die Wirkung der Stelle vom Jargonwort als solchem bestritten sein wollte, und sie, je nach Geschmack, komisch oder trivial finden. Die Körperhaftigkeit des Wortes, an dem man gemeinhin nur die eine Dimension der Aussage erkennt, ist immer in einer Unscheinbarkeit gegeben, die erst dem Blick, der über den Sinn hinauslangt, die tiefere Beschaffenheit darbietet, die Geschaffenheit, die Wortgestalt.


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