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Die äußere Situation des Juden in der Welt war bis in das 18. Jahrhundert hinein verhältnismäßig einfach: der Jude hat Pflichten, aber keine garantierten Rechte; er erfüllt wirtschaftliche Funktionen, aber er steht nicht im sozialen Verband; er ist Insasse, aber nicht Einheimischer; er ist Gegenstand einer Gesetzgebung, aber nicht Bürger; er ist Mensch, aber er ist dafür bestimmt, daß sich die Instinkte der Umgebung an ihm abreagieren; er ist der Träger des Monotheismus, aber er wird im Namen des Monotheismus massakriert.
Diese schlichte Situation erfährt jetzt eine Komplikation, und zwar sowohl von seiten des Juden wie von seiten der Umgebung aus. Durch das Nachlassen der geistigen Bindungen aus dem Judentum selbst und durch die Aufnahme der neuen Bindungen an die Kultur der Umgebung entdeckt der Jude die Diskrepanz in seinem äußeren Dasein und sucht sie zu beseitigen, indem er die Äußerung und Umbiegung seiner Voraussetzungen, seiner Geschichte, seines Gewordenseins und seines Bestandes in diesen Änderungsversuch einbezieht. Der Jude beginnt das Experiment mit sich selbst. Die Umgebung entdeckt, daß die Anwesenheit von Juden im Organismus der verschiedenen Staaten mehr ist als nur ein Faktum, sie ist ein Problem. Ihre eigene Entwicklung hindert sie, an diesem Problem ohne Lösung vorüberzugehen. Ehe es zu der generellen Lösung kommt, die in der Beseitigung der Rechtsungleichheit besteht, versuchen die meisten Staaten, den geistigen und zivilisatorischen Zustand der Juden so weit zu ändern, daß die bisherige Unterschiedlichkeit möglichst beseitigt ist. Es beginnt das Experiment mit dem Juden.
Um zu verstehen, von welcher Grundlage aus diese Experimente jeweils einsetzen, müssen wir erneut einen Rückblick über die objektive Rechtslage der Juden in den einzelnen Ländern geben. Dabei ist die Feststellung wichtig, daß der jüdische 528 Umkreis sich durch zwei neue und zwei alte Länder vermehrt hat, durch Nordamerika und Rußland als die neuen, durch Frankreich und England als die wieder in Angriff genommenen Siedlungsgebiete.
Nach der Vernichtung der ersten jüdischen Siedlungen Amerikas durch die Inquisition setzt um 1650 eine neue Besiedlung ein, die sich auf den Nordrand Südamerikas, die Antillen, Britisch-Westindien und Nordamerika ausdehnt. In Nordamerika, das keine kirchliche Tradition hat, sind nur Reste des aus Europa verschleppten Widerstandes gegen die Juden spürbar. Das Fehlen einer kirchlichen Erziehung wirkt sich denn auch im entscheidenden Moment der amerikanischen Geschichte, im Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) aus. Die Juden nehmen an diesen Kriegen teil, die meisten auf seiten der Freiheitskämpfer. Daß auch hier ein Jude, Chaim Salomon, die Revolution finanzieren muß, ist beinahe selbstverständlich. Die Rechtsgleichheit der Juden bildete hier kein besonderes Problem. Sie war implizite schon vorhanden in der Unabhängigkeitserklärung von 1776: »Alle Menschen sind als gleich erschaffen, und allen hat der Schöpfer bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen: das Recht auf Leben, Freiheit, Glück . . .« Man erkennt: hier spricht Religion, nicht Kirche. Die Formulierung in der Bundesverfassung war die Konsequenz: »Keinem Menschen, der die Existenz Gottes anerkennt, dürfen von Gesetzes wegen die bürgerlichen Rechte abgesprochen werden, wie er überhaupt seiner religiösen Überzeugung wegen keinerlei Bedrückung ausgesetzt werden darf.« Damit scheidet Amerika zugleich aus der Geschichte der Emanzipation aus.
In Frankreich wird das jüdische Problem erneut praktisch durch das Eindringen von Marranen nach Südfrankreich und durch die Angliederung des Elsaß mit seinem alten aschkenasischen Bestand an Juden. Den sephardischen Juden gegenüber, die mit erheblichem Kapital und weitreichenden Handelsbeziehungen ins Land kommen, hält die französische Regierung 529 um des Prinzipes willen die Fiktion aufrecht, daß sie es hier mit Portugiesen zu tun habe, selbst noch zu der Zeit, als sich diese Portugais längst als Juden bekannt haben. Ihnen verleiht Ludwig XVI. im Jahre 1776 das freie Wohnrecht für Frankreich. Für die Juden im Elsaß entschließt er sich (1784) nur zur Aufhebung des Leibzolls; im übrigen behandelt er sie traditionell, das heißt: er legt ihnen bei völliger Rechtlosigkeit unerhört schwere materielle Verpflichtungen auf und sucht im übrigen den Bestand durch Beschränkung der Eheschließungen zu vermindern. In den übrigen Provinzen werden Juden nur vorübergehend zum Abschluß von Handelsgeschäften geduldet.
Marranen waren es auch, die auf ihrer Flucht vor der Inquisition kurz vor dem Ausbruch der englischen Revolution in England wieder auftauchten. Die Situation war ihnen günstig. Der Puritanismus mit seinem religiösen Fundament sah hier eine Möglichkeit, historisches Unrecht wieder auszugleichen, während Cromwell darüber hinaus wirtschaftliche und politische Vorteile begriff: er wollte von dem großen Handelsrivalen Holland die Juden zu sich herüberziehen und die immer noch andauernde marranische Wanderung nach England ablenken. Aber es gelang ihm nicht, seine Absicht auf dem Wege der Gesetzgebung zu realisieren. Es blieb einstweilen bei dem wohlwollenden Interesse. Dabei spielte die ständig zunehmende wirtschaftliche Verknüpfung eine erhebliche Rolle. Karl II., der in Flandern im Exil war, sagte den Amsterdamer Juden Unterstützung zu, wohingegen sie ihm ihre finanzielle Hilfe versprachen. Diese englisch-holländische Bezeichnung wird unter Wilhelm III. noch enger, die wirtschaftliche Bedeutung der Juden in England noch größer. Die Börsen von Amsterdam und London werden von den Juden beherrscht. In Einzelfällen wird angesehenen Juden auch die Naturalisation verliehen, aber wie das Parlament im Jahre 1753 ein Gesetz erläßt, wonach alle Juden, die länger als drei Jahre in England ansässig sind, beim Parlament ihre Naturalisation beantragen können, muß es im 530 nächsten Jahre auf den Protest der interessierten Bevölkerungsklassen wieder aufgehoben werden. So blieb bei wachsendem Einfluß in Handel und Industrie und bei erheblichem kulturellen Niveau ein Zustand der Freiheit, der nur des Rechtstitels entbehrte, noch für ein Jahrhundert bestehen.
Auch Holland beschränkte sich darauf, den Juden Gewissensfreiheit und die Selbständigkeit ihrer Gemeindeverwaltung zu geben. Die bürgerliche Gleichheit erkannte es ihnen nicht zu. Während es die reichen Juden, die an der Ost- und Westindischen Kompanie erheblich beteiligt waren, begünstigte, hielt es die große Masse der Juden unter Druck, indem es ihnen alle Berufe untersagte, für die Zünfte oder Gilden bestanden.
Im Kirchenstaat ist das jüdische Problem über das Getto mittelalterlichen Formats noch nicht hinausgekommen. Noch immer sind die Juden auf ihren Wohnwinkel beschränkt, noch immer sind Kleinhandel und Handwerk die einzig erlaubten Betätigungen, noch immer werden ihnen in ihrer Armseligkeit horrende Steuern für die Kurie abgepreßt (die kleine römische Gemeinde hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts über eine Million Mark Schulden), und noch immer werden ihnen Kinder zwecks Taufe gestohlen.
Auch Spanien und Portugal halten – mit dem Mittel der Inquisition – ihr Judenproblem aufrecht. Dreihundert Jahre nach dem »Heiligen Krieg« gibt es noch heimliche Juden in Spanien. Noch immer muß folglich die Inquisition in Spanien arbeiten. Die Verbrennung von Menschen um ihres Glaubens willen ist Bestandteil der öffentlichen Unterhaltung geworden wie die Stierkämpfe. Für die Vermählung Karls II. mit der Nichte Ludwigs XIV. wird in Madrid ein pompöses Autodafé veranstaltet, bei dem noch 86 Ketzer, darunter 50 judaisierende Marranen, verbrannt werden können. In der Zeit von 1720 bis 1730 finden noch über 100 solcher »Glaubensakte« statt. Immer noch fliehen Marranen. Daß hier die Frage einer Gleichberechtigung der Juden überhaupt nicht auf die Tagesordnung 531 kommen konnte, ergibt sich schon daraus, daß es für die spanische Auffassung keine Juden im Lande gab, sondern nur abtrünnige Christen.
Das gleiche gilt für Portugal, sogar noch im verschärften Maße. Die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ist noch angefüllt mit zahllosen Opfern der Inquisition. Es trifft wohl zu, was Montesquieu in seinem »Esprit des lois« 1748 über die Inquisition sagt: »Wenn jemand in künftigen Zeiten die Behauptung wagen sollte, daß in unserem Zeitalter die Völker Europas bereits zivilisiert gewesen seien, so werdet ihr als Beweis dafür dienen, daß sie Herden von Barbaren waren.«
Es ist erschreckend, zu sehen, welch geringer Mittel es bedurfte, um der Inquisition das Handwerk zu legen. 1751 verfügt Joseph I. von Portugal, daß Inquisitionsprozesse fortan unter Einhaltung der allgemeinen Rechtsvorschriften stattzufinden hätten und Urteile nur mit Zustimmung der Regierung vollstreckt werden dürften. Damit ist die Inquisition faktisch erledigt, denn wenn sie Rechtsgarantien einhalten soll und nicht mehr unbeaufsichtigt ihr grauenhaftes Gewerbe treibt, kann sie nicht existieren.
Auch in Polen hat sich an der grundsätzlichen Haltung gegenüber dem Juden nichts geändert. Wie sollte dieses Land auch einem fremden Volksteil gegenüber zu einer Einstellung der Vernunft kommen, wo nicht einmal seine eigenen Bestandteile sich unter der Katastrophe der wiederholten Aufteilung ihres Reiches unter Preußen, Österreich und Rußland zu einer Verständigung bequemen konnten? Nicht einmal im Judenhaß herrscht Einigkeit. Nichts kann die Situation klarer umreißen als die Erklärung der Plocker Synode von 1733: »Wohl wissen wir, daß man dieses ungläubige Geschlecht in anderen Gemeinden des Reiches sowie im Auslande duldet, doch bezweckt man hiermit nur die Bekehrung des Restes Israels . . . Es geschieht dies aber auch zu dem Ende, damit die unter uns lebenden Juden uns an die Leiden Christi des Herrn gemahnen und damit 532 sich an ihnen, unseren Sklaven, in ihrer Schmach und Not die göttliche Gerechtigkeit kundtue . . .« Aber die Schlachta, deren Konkurrenz sie sind, meint: »Mehr von Geldgier als von religiösem Eifer geleitet, verlegen sich die Vertreter der Geistlichkeit darauf, allerlei Vorwände ausfindig zu machen, um die Juden zu bedrängen.«
Von der dreifachen Teilung Polens wird, wie mehrfach erwähnt, die Judenheit sehr empfindlich betroffen, am schwersten aber der Teil, der unter die Herrschaft Rußlands gerät. Diese Einverleibung in das Moskowitische Reich bedeutete für Hunderttausende von Juden, ohne daß sie sich vom Fleck rührten, ihre Verschleppung nach Asien und ihre Auslieferung an das früheste Mittelalter. Denn Rußland war bislang gegen Juden hermetisch abgeschlossen, und es scheint ein Gesetz zu sein, daß jedes Volk, in dessen Mitte Juden geraten, erst alle Stadien der Reaktion durchlaufen muß; als ob der Jude dazu bestimmt sei, daß alle Völker in ihrer minderen Entwicklung ihre ungereiften Instinkte an ihm abreagieren müssen. In diesem Sinne hatte Rußland ein reichliches Jahrtausend Entwicklung und Reaktion nachzuholen. Es hat kein Mittel unversucht gelassen, dieser Aufgabe gerecht zu werden.
Der Russe kannte den Juden nicht. Als die Ausbreitung der Diaspora die Grenzen Rußlands berührte, war es schon verriegelt, weil die Annahme des griechisch-katholischen Glaubens an sich schon, den westlich angrenzenden Ländern gegenüber, eine Isolierung bedeutete, die zudem durch einen besonderen Fanatismus der Gläubigkeit unterstrichen wurde. Nur aus der Erziehung der Geistlichkeit kannte das Volk den Juden als eine Erscheinungsform des Antichrist, als ein satanisches Wesen. Die ersten Juden, die es zu sehen bekam, waren die Gefangenen des Krieges gegen Polen 1655/1656. Davon wurde ein Teil mit Gewalt getauft und festgehalten; aber die Ungetauften gab man an Polen zurück. Trotzdem dringen die Juden unter dem übermächtigen Druck wirtschaftlicher Not in die russischen 533 Randgebiete ein, nach Kleinrußland und Smolensk, aber nur, um dort sehr bald das Schicksal der Ausweisung zu erfahren. Andererseits wächst die jüdische Bevölkerung Rußlands durch die Annexion neuer Gebietsteile. 1668 kommt der Bezirk Kiew, das fanatische Zentrum der russischen Orthodoxie, zu Rußland. 1772 gliedert es sich Weißrußland mit 100 000 Juden an. Mit diesem Gebiet zusammen bilden die Ukraine und Litauen, die mit der 2. und 3. Teilung Polens zu Rußland geschlagen werden, das Gebiet Westrußland. Aber die neue Staatszugehörigkeit der Juden erschließt ihnen nicht etwa das Land als Ganzes, sondern sie bleiben von Anfang an auf ihr bisheriges Siedlungsgebiet beschränkt. Es entsteht der sogenannte Ansiedlungsrayon, der schon mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts seinen im wesentlichen gleichbleibenden Umfang angenommen hat: 13 Gouvernements, davon 5 litauisch-weißrussische, 5 ukrainische und 3 neurussische.
Die russische Diaspora beginnt also mit den gleichen Elementen wie überall: Aufenthaltsbeschränkung, willkürliche Ausweisung und das Akzeptieren von getauften Juden. Aber die ganze Anomalie der jüdischen Situation kommt erst darin zum Ausdruck, daß selbst die Einordnung in das allgemeine Rechtssystem für sie einen schweren Schlag bedeuten kann. Auf Grund der ersten Verträge, die zur ersten Teilung Polens führten, waren den Juden ihre bisherigen Rechte garantiert. Sie konnten damit theoretisch in Weißrußland an der kommunalen Selbstverwaltung mit aktivem und passivem Wahlrecht teilnehmen. Dafür mußten sie sich aber der ständischen Verfassung unterordnen, die die städtische Bevölkerung in Kaufleute und Kleinbürger einteilte. Sie sind verpflichtet, sich in einen dieser beiden Stände aufnehmen zu lassen, was zur Folge hat, daß sie in die Städte ziehen müssen. Dadurch werden die auf dem Lande als Pächter und Schankwirte tätigen zahlreichen Juden nicht nur ihrer Existenz beraubt, sondern auch durch das Zusammendrängen in den Städten zu einem verschärften 534 Konkurrenzkampf gezwungen. Außerdem müssen sie die doppelte Steuer zahlen wie die Christen.
Auf dieser objektiven Rechtsgrundlage, wie sie eben dargestellt ist, beginnen nunmehr die Experimente. Es versteht sich, daß Amerika, Spanien und Portugal dabei ausscheiden, und England insofern, als dort das Experiment einseitig von den Juden vorgenommen wird, und zwar in der Erscheinungsform, die wir Assimilation nennen. Soweit die einzelnen Regierungen die Experimente vornahmen, hatten sie zur Voraussetzung die Entstehung einer geistigen Situation, in der das Bewußtsein von der allgemeinen Gleichheit der Menschen akut wurde, und die Erkenntnis, daß zwischen der Rechtsposition des Juden und seiner starken wirtschaftlichen und zunehmenden kulturellen Bedeutung ein allzu großer und störender Gegensatz bestehe.
Der früheste Verfechter der Gleichheitsidee für die Juden, aus dem Geiste der Humanität her, ist wohl John Toland, der Aufklärungsphilosoph, der auch wohl als erster den Begriff des »Freidenkers« aufgestellt hat. In seiner Polemik gegen den »Sondergeist« der Nationen grenzt er an Lessing, der richtig verstanden hat, daß Toleranz nicht Duldung ist, sondern Verzicht auf das Prestige, Verzicht auf die Idee der christlichen Staaten, daß man es ihnen in ihrer Gottgegebenheit nicht zumuten könne, den Juden, solange er nicht Christ geworden ist, als gleich zu behandeln. Neben Lessing als dem Idealisten steht Chr. W. Dohm als der Politiker und Praktiker, der 1781 unter dem mitwirkenden Einfluß Mendelssohns seine Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« erscheinen läßt. Darin ist die ganze Zeit mit ihrer Vorstellung von Menschlichkeit und Nützlichkeit, mit ihrem guten Willen und ihrer Befangenheit eingeschlossen. Diese Schrift ist eine sehr vernünftige Apologie für die Juden, die in den Vorschlag ausläuft, sie allmählich und in dem Maße ihrer »bürgerlichen Verbesserung« zu befreien, ihnen Gewerbefreiheit zu geben, aber sie möglichst keinen Handel treiben zu lassen und sie nur ausnahmsweise zum 535 Staatsdienst heranzuziehen. Menschenliebe und Gerechtigkeit, in kleinen Dosen verabfolgt; die Nützlichkeit als Grundlage der Humanität.
Von solcher Einstellung wich auch die französische Geisteswelt nicht stark ab. Voltaires, dieses pathetischen Rechtsfanatikers Einstellung zu den Juden kann nicht gewertet werden, weil er sich bei seinen zahlreichen Geld- und Börsengeschäften zu zwei Malen von Juden den Vorwurf der Unterschlagung und der Urkundenfälschung machen lassen mußte und seine Rache eben durch Ausnutzung seiner Publizität nahm. Vor seinem Konflikt mit den Juden ging seine Äußerung dahin: »Mögen die Christen aufhören, diejenigen zu verfolgen und zu verachten, die als Menschen ihre Brüder und als Juden ihre Väter sind.« Damit gab er allerdings an sich nur einen Beitrag zu einem aktuellen Thema: der Beschäftigung der Gebildeten mit der Judenfrage. Das Interesse ging nicht sehr tief; es war eben das Interesse der »Gebildeten«, und selbst die Teilnahme hervorragender Einzelner beseitigte nicht das utilitaristische Element. Nichts ist bezeichnender, als daß die »Königliche Gesellschaft für Wissenschaft und Künste« in Metz im Jahre 1785 daraus eine Preisaufgabe macht (so wie man für den Neubau eines Rathauses ein Preisausschreiben veranstaltet) und dabei die Grundeinstellung schon im Titel bekennt: »Gibt es ein Mittel, die Juden in Frankreich nützlicher und glücklicher zu machen?« Von den neun Arbeiten, die eingehen, sind sieben für die Lösung der Frage durch Emanzipation, zum Teil mit ausgezeichneter Begründung und weit weniger utilitaristisch in ihrer Antwort, als es die Fragestellung implizite ist.
Die Spontanität und unmittelbare Herzenswärme etwa eines Lessing oder eines Mirabeau kann natürlich von den einzelnen Staaten, beziehungsweise Regierungen nicht erwartet werden. Man muß zugeben: es ist eine schwere und langsam zu übende Erkenntnis für Völker, Unrecht getan zu haben, und nur zu leicht kommt eine geistige Haltung zustande, die aus der 536 Erfüllung einer ganz selbstverständlichen, ganz primitiven Verpflichtung die pathetische Gebärde eines großen und edlen Geschenkes macht, das den Beschenkten aber zu einer an Selbstmord grenzenden Dankbarkeit verpflichtet. Sämtliche Länder, mit Ausnahme von Amerika, England und Holland, hielten dabei unentwegt an der uralten Idee der christlichen Kirche fest: Vernichtung des Judentums. Im Jahre 400 wie im Jahre 1800 ist die Taufe der Abgrund, in den die Fremdheit und der Widerstand von gestern versenkt werden können. Und wo mit der Taufe nicht zu rechnen ist, erstrebt man – wie im Osten – die tatsächliche Vernichtung oder – wie im Westen – eine partielle Vernichtung, das heißt: Unterdrückung und Beseitigung des Unterscheidenden. Schon das »Toleranzpatent« Josephs II. von Österreich ist in diesem pädagogischen Sinne gehalten. Die Juden sollen sich nach Möglichkeit nicht mehr von den anderen Vertretern der deutsch-christlichen Kultur unterscheiden, und wer von dieser Kultur so weit durchdrungen ist, daß er sich taufen läßt, bekommt zur Belohnung das von ihm gepachtete Land geschenkt. Aber die Masse der österreichischen Juden, soweit es sich nicht um die Hochfinanz oder die gebildete Oberschicht in Wien, Prag und Budapest handelte, stand diesen Erziehungsversuchen und diesen Prämien für gute Leistungen mit ausgesprochenem Mißtrauen gegenüber. Denn dieses »Besserungssystem« brachte viele Tausende von ihnen, besonders in Galizien, an den Bettelstab, weil ihnen die Pachtung von Landgütern und die Ausübung des Schankgewerbes untersagt wurde. So locker war das Wirtschaftsgefüge nicht mehr, daß sie von heute auf morgen eine neue Existenz hätten aufbauen können. Zudem waren ihnen Steuern von fast unerschwinglicher Höhe auferlegt. Die Verminderung ihres Bestandes durch Beschränkung von Eheschließungen wurde nach wie vor erstrebt. Andererseits wurden sie hier als die ersten Juden der Welt zum Militärdienst herangezogen, worin sie eine schwere Gefährdung der traditionellen Lebensweise für ihre 537 Jugend erblickten, während das Militär selbst in der Anwesenheit von Juden im Heere eine Entehrung der Kaste erblickte.
In Preußen galt bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts noch das vom Geiste des Kasernenhofes erfüllte »Reglement« Friedrichs des Großen, dem Mirabeau das Prädikat einer »loi digne d'un canibale« erteilte. Friedrich Wilhelm II. verbindet seinen Regierungsantritt mit warmherzigen Versprechungen, die »Lage dieser verfolgten Nation nach Möglichkeit zu erleichtern«. Er hob auch tatsächlich den Leibzoll auf. Aber die »Verbesserungen«, zu deren Abfassung die preußische Regierung zwei Jahre brauchte, erwiesen sich als so miserabel, daß die Juden es vorzogen, beim Reglement des »alten Fritz« zu verbleiben. Derselbe Vorgang wiederholte sich, als Preußen unter dem Eindruck der Emanzipation der Juden in Frankreich einen nochmaligen Entwurf vorlegte.
Auch Polen, vom Hauch einer liberalen Zeitströmung flüchtig gestreift, erhebt die Judenfrage zum Problem. Hier sind, der Tradition getreu, fast alle Stimmen darüber einig, daß das Problem nur durch Zwangsmaßnahmen gelöst werden kann. Streit herrscht nur über die Methoden. Zu eigener Erziehung unfähig, wollten sie doch zunächst den Juden politisch und geistig erziehen, ehe sie ihm die Würde eines Bürgers verliehen. Der Sejm setzt zur Untersuchung der Frage eine Kommission ein, die aber weder den Willen noch die Möglichkeit hat, zu einem präzisen Vorschlag zu kommen.
Inmitten aller dieser Experimente fällt ein Ereignis, das seine Wirkung über die ganze europäische Welt warf und für eine Weile der Emanzipationsfrage eine übereilte und unorganische Lösung verschaffte: die französische Revolution. In ihrem Auftakt ist die antijüdische Stimmung durchaus stark vertreten. Die Abgeordneten für die Nationalversammlung, die aus dem Elsaß und aus Lothringen kamen, hatten ausdrücklich judenfeindliche Instruktionen mit auf den Weg bekommen. Das Elsaß greift in den ersten Jahren der Revolution, um die 538 Debatten und die Gesetzgebung entsprechend zu beeinflussen, zu der Methode, Judenverfolgungen zu veranstalten, um demonstrieren zu können, daß die Fremdheit zwischen dem Volke und den Juden zu groß sei, als daß man ihnen die Gleichberechtigung gewähren dürfe. Es kann unter diesen Umständen nicht verwundern, daß selbst der revolutionäre Gedanke der Freiheit und Gleichheit, von der Brüderlichkeit ganz zu schweigen, nicht ohne weiteres auch die Juden umfaßte. Trotz der generellen Erklärung, daß niemandem wegen seiner Überzeugungen, auch nicht der religiösen, Beschränkungen auferlegt werden dürfen, gedeiht man bei der Interpretation dieses Grundsatzes nur dazu, Katholiken und Nicht-Katholiken im aktiven und passiven Wahlrecht gleichzustellen. Wegen der Juden, die sich erst durch eine besondere Deputation in Erinnerung bringen müssen, beschränkt man sich einstweilen auf Vertagung. Nur mit den südfranzösischen Juden, den Sephardim, wird eine Ausnahme gemacht. Sie bieten selbst die Hand dazu, indem sie im Gegensatz zu den elsässischen Juden erklären, daß sie auf jede Art der Gemeindeautonomie verzichten und daß sie im übrigen mit den aschkenasischen Juden nichts zu tun hätten.
Die Aschkenasim beginnen eine lebhafte Agitation für ihre Gleichberechtigung, während hinter den Kulissen der Nationalversammlung eine ebenso lebhafte Agitation dagegen entfaltet wird. Selbst von der Vergünstigung, daß Ausländer nach fünf Jahren das französische Bürgerrecht erwerben können, werden die Juden ausgeschlossen. Erst als der König die Konstitution vom 3. September genehmigt hatte, mußte man notgedrungen, um sie nicht durch einen entgegenstehenden Tatbestand widersinnig zu machen, auch die politische Gleichberechtigung der Juden ausdrücklich anerkennen. Das geschah am 28. September 1791. Zugleich aber dekretiert man den elsässischen Juden, daß sie im Wege einer noch vorzunehmenden Liquidation auf einen Teil ihrer Forderungen gegen die christlichen Schuldner zu verzichten hätten. 539
Man sieht: die Anwendung der Menschenrechte stutzt vor dem jüdischen Anspruch und kann auf pädagogische Maßnahmen nicht verzichten. Man war überhaupt mit den Juden nicht recht zufrieden, sofern sie sich nicht, wie die Sephardim, in sehr schnellem Tempo assimilierten. Auch die aktive Teilnahme insbesondere der Pariser Juden an der Nationalgarde, den politischen Klubs und den Verteidigungskriegen, ihre materielle Beihilfe zur Revolution, ihre Opfer auf den Schlachtfeldern und unter der Guillotine, verbesserte die Einstellung nicht. Die égalité, auf den Juden angewendet, darf man nicht mit Gleichheit, sondern höchstens mit Gleichartigkeit im Sinne von uniformité übersetzen. Es stand im Zeichen der einzigen modernen Revolution in der Welt nicht anders als in reaktionärsten Ländern: man übersah geflissentlich, daß die eingerissenen Zustände historisches, von der Umwelt verschuldetes Produkt waren, und wollte unter allen Umständen eine Umstellung von heute auf morgen und vor allem Einordnung und Untergehen des Juden in der mehr oder minder homogenen Volksmasse erzwingen. Eine solche schwierige Umstellung, die schon unter ruhigen Verhältnissen ihre Zeit braucht, war in dieser Epoche der ständigen Kriege und der wirtschaftlichen und finanziellen Krise schlechthin unmöglich. Besonders während der Koalitionskriege der Direktorialzeit und später Napoleons als des Ersten Konsuls und Kaisers warf man den Juden ihre geringe Teilnahme an diesen Kriegen als mangelnden Patriotismus vor. Dagegen steht allerdings die Erwägung, ob die Juden nach 1500 Jahren barbarischer Unterdrückung nicht vielleicht doch ein anderes Ideal konzipiert hatten als das, sich auf den Schlachtfeldern der Welt für die Idee eines großen Einzelgängers töten zu lassen.
Dieser große Einzelgänger hatte im übrigen zur Judenfrage die übliche konventionelle Einstellung, die nur durch die Methode, die er zur Lösung anwendet, ihre Originalität bekommt. Auf seinem seltsamen Zuge nach dem Orient, nach der 540 Einnahme von Gaza und Jaffa, versucht er die Juden von Asien und Afrika durch das Versprechen, die Heilige Stadt wiederherzustellen, zur Unterstützung seiner Expedition zu veranlassen. Aber die Juden hatten gar keine Möglichkeit, auf ein solches Phantasiegespinst zu reagieren. Vielleicht hat er ihnen das heimlich nachgetragen. Jedenfalls fehlte ihm zu einer objektiven Beurteilung so der Wille wie die persönliche Kenntnis. Er läßt sich, wie die Judenfrage durch den Abschluß des Konkordats mit dem Papste wieder für ihn sichtbar wird, lediglich von seinen Kanzleien über die Juden und ihre Situation Bericht erstatten. Darin steht allerdings etwas, das geeignet ist, ihn in Harnisch zu bringen: die Juden hätten seit undenkbaren Zeiten eine Nation für sich gebildet und bildeten sie noch jetzt; es sei nicht möglich, ihren geistigen Status zu ändern. Für Napoleon, der sich eines Staates bemächtigt hatte, war aber der Staat ein fast heiliger Begriff. Er begriff den Staat nicht anders als eine geistig einheitliche Ordnung, deren Spitze er selbst bildete und deren Basis die zu ihm hin orientierten Gruppen und Stände der Bevölkerung waren. Jeder Sonderanspruch, sei es der einer nationalen oder einer kirchlichen Gruppe, erschien ihm als ein verderblicher Angriff auf die Hoheit des Staates. So wie ihn in seinem Kampfe gegen den Papst und die Kirche der erbitternde Gedanke leitete, daß Untertanen seines Staates ihm durch die Priesterordination verlorengingen und Bestandteile einer ihm verhaßten Internationale wurden, so empörte ihn auch die Vorstellung, daß eine Gruppe des französischen Volkes in ihrem geistigen Bezirk ein autonomes Dasein führte. Daher auch seine heftige Polemik gegen sie im Conseil d'état: »Die Juden sind als eine Nation und nicht als eine Sekte zu betrachten. Sie sind eine Nation in der Nation. Ihnen gegenüber ist nicht das bürgerliche, sondern das politische Recht anzuwenden, denn sie sind keine Bürger.«
Napoleon sah bald ein, daß dieser Standpunkt mit der Verfassung nicht zu vereinbaren sei; aber da er das Prinzipielle 541 des Problems richtig erkannt hatte, schritt er auf einem doppelten Wege zur Lösung: durch das auch in den übrigen Staaten geübte Erziehungsverfahren mit dem Zwecke der »Besserung« und durch eine ingeniös verkleidete Erpressungspolitik, mit der er dem französischen Judentum das Rückgrat brach. Neben einer Verordnung, die die Vollstreckung von Urteilen jüdischer Gläubiger gegen die elsässischen Bauern auf ein Jahr sistierte, dekretierte er, daß sich hundert repräsentative Vertreter der französischen Judenschaft zur Abgabe verbindlicher Erklärungen in Paris einzufinden hätten (30. Mai 1806).
Die Gemeinden, auch die an Frankreich angeschlossenen italienischen, beeilen sich, Vertreter zu wählen. Im ganzen sind es 112, die in Paris zusammentreten, Sephardim und Aschkenasim, Aufklärer und Konservative, alle unter dem Eindruck, daß sich entscheidende Dinge vorbereiteten. Das war in der Tat der Fall. Zwölf Fragen wurden ihnen vorgelegt, mit einer einleitenden Ansprache, die die fast unverhüllte, jedenfalls gar nicht überhörbare Drohung enthielt, daß die Judenheit bei ungenügender Beantwortung der Fragen mit Nachteilen zu rechnen hätte. Die ersten drei Fragen bezogen sich auf das jüdische Familienrecht, darunter als wichtigste die Frage, ob Mischehen zwischen Juden und Christen zulässig seien. Die nächsten drei Fragen wollen den jüdischen Patriotismus auf die Probe stellen: Betrachten die Juden die Franzosen als ihre Brüder oder als Fremde? Sehen sie in Frankreich ihr Vaterland, das sie mit Gut und Blut verteidigen müssen und dessen Gesetzen sie gehorchen? Dann folgen Fragen über den Wirkungskreis der Rabbiner und endlich Fragen wirtschaftlicher Art, darunter besonders die nach dem Zinsnehmen, und ob das jüdische Gesetz da einen Unterschied zwischen jüdischen und christlichen Schuldnern mache.
Die Richtung dieser Fragen ist klar. Mischehen, Patriotismus, Rabbinerfunktionen, geschäftliches Verhalten gegenüber dem Nichtjuden: alles will in dem Geiste beantwortet werden, 542 den Napoleon in der Ansprache zum Ausdruck bringen läßt: »Sa Majesté veut, que vous soyez Français.« Er dekretiert, und die Juden gehorchen. Sie halten die Mischehen »zivilrechtlich« für erlaubt, sie wollen gern auf die Selbstverwaltung verzichten, sie sind unter allen Umständen Franzosen und sonst nichts. Es gibt überhaupt kein jüdisches Volk mehr. »Heutzutage bilden die Juden keine Nation mehr, da ihnen der Vorzug zuteil ward, in das Gefüge der großen Nation eingegliedert zu werden, darin sie ja eben ihre politische Erlösung erblicken.« Im Überschwang ihrer Bereitwilligkeit, alles Erdenkliche zu konzedieren, formulieren sie sogar einen Dank dafür, daß die Häupter der christlichen Kirche ihnen allzeit Wohlwollen und Schutz entgegengebracht hätten. Die Quelle solcher historischen Erkenntnis bleibt dunkel.
Man hat das Verhalten dieser Notabelnversammlung Servilität und Kriecherei genannt. Gewiß: das ist richtig; aber das ist nur die Folgeerscheinung, das Entartungsergebnis eines tiefgreifenden Prozesses, den wir zunächst betrachten müssen.
Es ist schon darauf hingewiesen, daß die Erziehungsexperimente der Regierungen mit der Frage der bürgerlichen Gleichstellung der Juden unlösbar verknüpft waren und daß andererseits in dem Bestreben der Juden, diese Gleichstellung zu erlangen, der Utilitätstrieb tief verankert war. In dem Zusammenwirken dieser beiden Richtungen, die von verschiedenen Voraussetzungen zu gleichen Ergebnissen kommen wollen, entsteht die Atmosphäre der Assimilation und darin das Experiment des Juden mit sich selbst. Es ist ein sehr komplexer und vielschichtiger Prozeß, der hier vor sich geht und der das innere Problem der Judenheit bis in die letzte Einzelheit aufdeckt.
Ehe noch die Umwelt das geringste Positive für den Juden getan hat, ja während sie ihn noch mit ihren fatalen Erziehungsversuchen nur mit neuen Schwierigkeiten belastete, stand doch das ganze Leben des Juden schon unter dem Einfluß der 543 Möglichkeiten, die sich vor ihm eröffneten. Die eine Möglichkeit, nämlich die des Anschlusses an die Weltkultur, nahm sich der Jude selbst. Er konnte es, weil die bisherigen Bindungen an seine jüdische Umwelt erlahmten und ihn nicht mehr so ausschließlich fesselten. Die anderen Möglichkeiten, die der wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Freiheit, wurden ihm von der Umgebung gegen die Erfüllung gewisser Bedingungen in Aussicht gestellt. Bisher hatte der Jude nur – und auch das in vielfach beschränktem Maße – eine Existenzmöglichkeit; jetzt steht er seit Jahrhunderten zum erstenmal wieder vor einer Entfaltungsmöglichkeit. Bisher lebte er generell in der Unfreiheit; jetzt sieht er in der Realisierung des Möglichen die Freiheit. Wir werden später sehen, daß dieser Begriff der Freiheit von ihm falsch interpretiert wurde. Für ihn war Freiheit schon die Erlösung aus der Unfreiheit. In Gemeinschaften, auch in staatlichen, entsteht Freiheit aber erst dadurch, daß der andere diese Freiheit in Freiwilligkeit respektiert. Man kann nicht einmal von unserer Gegenwart sagen, daß dieser Zustand überall verwirklicht sei.
Die Ausnutzung der geistigen und das Erstreben der übrigen Möglichkeiten haben die wichtige Folge, daß die bisherige Isolierung spontan durchbrochen wird. Soweit es der Jude nicht schon von sich aus tut, weil er die Isolierung aufgeben will, haben ja gerade alle Erziehungsexperimente die Aufhebung der Isolierung zum Ziel. Es kommt hinzu, daß die Veränderung der wirtschaftlichen Struktur in Europa dem Juden, besonders dem kapitalstarken, neue Beziehungen eröffnet. Verminderte Isolierung bedeutet zugleich vermehrte Berührungsmöglichkeit, das Entstehen von Reibungsflächen, in denen sowohl die Möglichkeiten der Auseinandersetzung wie der Angleichung enthalten sind. Der Jude entscheidet sich nun im wesentlichen für die Angleichung. Der Raum, der für die Auseinandersetzung blieb, war von der Umgebung unter dem Druck und der Lockung der Emanzipation vorgeschrieben. De facto findet eine 544 Auseinandersetzung, das heißt: ein unbeeinflußtes gegenseitiges Abwägen und Ausspielen der Kräfte, nicht statt. Der Jude ist gezwungen, sich nach außen auf die Apologie und nach innen auf die Reform zu beschränken. Die Reform ist aber schon ein Teil der Angleichung.
Angleichung, Assimilation, ist an sich ein natürlicher Vorgang, der fast mit Notwendigkeit eintritt, wenn Minoritäten die Beziehung zu einer umgebenden Majorität aufnehmen (womit noch nichts darüber ausgesagt ist, wer sich assimiliert). Es ist ein Vorgang, der geeignet ist, den geistigen Bestand und das Blickfeld eines Volkes erheblich zu erweitern. Daß die reine zivilisatorische Angleichung etwas durchaus zweitrangiges ist, versteht sich von selbst. Aber zu einem Lebensproblem wird die Assimilation für ein Volk erst dann, wenn es sie nicht als die Hinzunahme geistiger und formaler Güter aus der Umgebung begreift, sondern als deren Annahme unter gleichzeitigem Verzicht auf die bisherige Eigenart. Daß die Juden die deutsche und die französische Sprache, die deutsche und die französische Kultur sich assimilierten, war ein Vorgang, der ihnen wie den Kulturen nur zum Nutzen gereichen konnte. Daß aber demgegenüber die jüdische Kultur in ihrer Existenz und vor allem in ihren Voraussetzungen aufgegeben werden müsse, war ein historischer Denkfehler. An sich ist eine solche Lösung möglich, aber nur als Lösung des persönlichen Problems des Einzelnen. Diesen Weg gingen in der Tat viele Einzelne, und es ist nicht unwesentlich, festzustellen, daß sowohl aus der Familie Mendelssohns wie aus dem Kreise, der seine Ideen zum Zentrum nahm, eine solche spontane Assimilation erwuchs. Namen wie Heine, Börne, Marx und Lassalle bezeichnen nur die Spitzen einer geistigen Schicht, die das zu Ende dachten und zu Ende führten, was ein Mendelssohn aus bester Absicht formuliert hatte. Sie zogen von Mendelssohns Judentum das jüdische Gesetz ab, das sie nicht mehr für sich als verpflichtend anerkennen konnten. Was übrigblieb, war ein Judentum als 545 Ressentiment, nicht stark genug, um sie am Übertritt zum Christentum zu verhindern, nicht verpflichtend genug, um ihr Bewußtsein von der jüdischen Zusammengehörigkeit im Sinne der jüdischen Idee schöpferisch werden zu lassen. Gewiß bleibt die Leistung eines Heine auch nach seinem Übertritt zum Christentum die Leistung eines Juden, eines jüdischen Geistes; aber wenn sie auch aus dem Judentum erwachsen ist, kann sie ihm doch so wenig zugerechnet werden wie die Leistung eines Paulus oder sonst eines Renegaten, der seinen nationalen Zusammenhang aufgibt. Dabei ist die Aufgabe des nationalen Zusammenhanges nur das Äußere, das Formale. Der entscheidende Verlust für eine Gemeinschaft, hier für die jüdische, liegt in dem Verzicht auf den Willen, als schöpferischer Mensch zugleich Erbe dieser Gemeinschaft zu sein, um von da aus Erblasser für alle Gemeinschaften sein zu können. Und wieder ist hier nicht das Bekenntnis zum Nationalen an sich das Wesentliche, sondern die Verfälschung des Weltbildes, die eintritt, wenn die individuelle Note eines jeden Nationalen unterdrückt wird. Vom Gesamt der Völker und Kulturen aus gesehen, ist die Nation das, was der Einzelne von der Gemeinschaft aus gesehen ist: die Persönlichkeit. Dieser Persönlichkeit wohnt schöpferische Kraft inne. Diese Persönlichkeit ist, stärker noch als das Einzelwesen, Träger der Religion, Garant der menschlichen Entwicklung. Solange eine Gemeinschaft das noch begreift, darf sie sich gegen ihre Verfälschung und Unterdrückung als Persönlichkeit wehren und aus den Verpflichtungen, die solche Individualität ihr auferlegt, einen Anspruch gegen alle herleiten.
Solche innere Entscheidung setzt ein Leben als Wirklichkeit und Wirkungsraum voraus. Der Jude des ausgehenden 18. Jahrhunderts hatte nur Möglichkeiten. Vor die Wahl gestellt, seine individuellen Bindungen aufzugeben und dafür die bürgerliche Freiheit einzutauschen oder in der zerbrochenen Isoliertheit und der Rechtlosigkeit zu verbleiben, entschied sich das 546 westeuropäische Judentum für den Verzicht auf seine nationale Form und das nationale Bewußtsein und für die Annahme des Nützlichen: der bürgerlichen Freiheit und der jeweiligen Nation. Da so die Persönlichkeit, wie wir sie eben definiert haben, verschwindet, entfällt auch die Haltung der Würde, die aus dem Persönlichkeitsgefühl entspringt; und von da aus gesehen kann die Haltung der jüdischen Notabeln gegenüber den berüchtigten napoleonischen Fragen in der Tat als servil und kriecherisch bezeichnet werden. Daß aber selbst noch dieser Verzicht auf die Würde ein Ergebnis aufgezwungener Entwicklung ist, braucht dem historisch Betrachtenden nicht mehr bewiesen zu werden.
Während die jüdischen Notabeln noch glaubten, daß sie in einem historischen Augenblick an der Rettung und Befreiung ihres Volkes mitwirkten, waren sie nur in der Hand Napoleons das Werkzeug seiner Politik. Die Erklärungen, die die Notabeln ihm abgegeben hatten, genügten ihm zwar an sich, waren ihm aber aus formalen Gründen nicht verpflichtend genug. Er verlangte jetzt den Zusammentritt einer offiziellen Vertretung der französischen Juden, die mit verbindlicher Kraft die Erklärungen der Notabeln bestätigen konnte. Die Form, die er der Versammlung vorschrieb, war genial erdacht: es war die des alten Synhedrion, eine Institution, die schon als Name so mit Klang und Historie beschwert war, daß davon zugleich eine Wirkung auf die Juden der ganzen Welt erwartet werden konnte. Und das wollte Napoleon in der Tat. In der offiziellen Erklärung fordert er eine Versammlung, »deren Beschlüsse dem Talmud zur Seite gestellt werden und die für die Juden aller Länder die höchste Autorität erhalten könnten«. Aber der genau instruierte Innenminister Champagny schreibt an Napoleon: »Man muß diese Versammlung dazu bringen, daß sie uns durch ihre Beschlüsse eine Waffe gegen sich selbst sowie gegen den von ihnen vertretenen Stamm bietet.« Das war Napoleons eigentliche Absicht, die er auch erreichte: daß die 547 Juden ihm die Sorge für die Lösung der Judenfrage abnahmen. Er erreichte das Ziel durch eine Mischung von brutaler Erpressung und grandioser Inszenierung. Gegeben hat er den Juden nichts außer einer parademäßig aufgezogenen Schaustellung. Hingegen hat er den Vertretern des westlichen Judentums den Mund geöffnet zu Erklärungen, die für lange Zeit die Ideologie des Judentums gefälscht haben. Was die Notabeln als Befreiung feierten, war nur die letzte große Gebärde der Unterdrückung.
Das »Synhedrion« trat im Februar 1807 zusammen. Es bestand aus den traditionellen 71 Mitgliedern, darunter 46 Rabbiner und 25 Laien. Sie sind wie in einer Hypnose. Ihre patriotische Begeisterung überschlägt sich. Alles, was die Notabeln erklärt haben, wird von ihnen in kürzester Zeit bestätigt. Sie gehen noch weiter. Sie als die Repräsentanten des westlichen Judentums aus der Zeit seiner geringsten Spannung und Bindungskraft, diese Erben eines zerbrochenen Impulses, stellen auf dem Wege der Diskussion fest, was Judentum sei. Sie geben »Deklarationen« ab, in denen der Untergang der jüdischen Nation schon als eine vollendete Tatsache behandelt wird. Daher ist es ihnen auch möglich, eine Unterscheidung zwischen religiösen und politischen Gesetzen im Judentum zu konstruieren. Während sie jene für unabänderlich halten, erklären sie von diesen, daß sie für die Juden nicht mehr verbindlich seien, depuis qu'ils ne forment plus un corps de nation. Aber auch die religiösen Gesetze lassen sie hinter die Staatsgesetze im Falle einer Kollision zwischen beiden zurücktreten.
Bei einer solchen Haltung der Bereitwilligkeit ist Napoleons Erwartung, daß sie die Mischehen befürworten, den Kreditgeschäften abschwören und besondere Garantie für die Erfüllung der Wehrpflicht, für die Lieferung von Soldaten geben würden, durchaus berechtigt. Da das nicht geschah, ordnete er diese restliche Frage selbst, soweit sie erzwingbar war. Es ergehen, nachdem die Beschlüsse des Synhedrions dem Staatsrat 548 vorgelegt waren, zwei Dekrete. Mit dem einen wurde für die Juden die Konsistorialverfassung eingeführt, eine beamtete Institution, die im Grunde nichts anderes war als ein Vollzugsorgan der Regierung; mit dem anderen wurde die Verfassung in gröbster Weise verletzt, um Napoleon die Lösung der Judenfrage im Wege des Zwanges und der »Besserung« zu ermöglichen. Es ist das berühmte Décret Infâme von 1808, das sich mit der Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Juden befaßt. Darin wird nicht nur eine ganze Reihe jüdischer Schuldforderungen für nichtig erklärt, sondern auch die Ausübung des Handels und die Gültigkeit von Handelsgeschäften von dem Erwerb eines besonderen »Patentes« abhängig gemacht. Jede Neubesiedlung des Elsaß wird untersagt. In den anderen französischen Gebieten wird sie nur erlaubt, wenn der Ansiedler Landwirtschaft betreiben will. Das allgemeine Recht, seiner Wehrpflicht durch Gestellung eines Ersatzmannes nachzukommen, wird den Juden ausdrücklich entzogen. Mit solchen Maßnahmen war das Prinzip der Emanzipation durchbrochen und durch ein Erziehungssystem ersetzt. Von 68 Departements standen bis zum Sturz Napoleons noch 44 unter dem Regime des Décret Infâme.
Dieses Gewähren und Wiederzurücknehmen der Gleichberechtigung wiederholt sich – mit Holland als Ausnahme – in allen Staaten, die politisch oder militärisch unter den Einfluß der französischen Republik und des napoleonischen Kaiserreichs kommen, von der Republik aus durch Aufoktroyierung des Prinzips der »Menschenrechte«, vom Kaiserreich aus durch den Zwang zur Errichtung konstitutioneller Verfassungen. Als in Holland die Republikaner mit Hilfe der französischen Okkupationsarmee die Batavische Republik aufrichteten (1795), erklärten sie die Gleichheit aller Bürger und damit auch der Juden. Dieser Zustand wurde unter dem späteren Königreich Holland beibehalten. In den anderen Staaten dauert die Befreiung genau so lange, wie die Herrschaft Frankreichs dort 549 dauert. In Rom gibt es ein fatales Hin und Her. Weil in Frankreich die Revolution die Kirche bedrückt, drückt der Papst auf seine Juden. Wie er im Februar 1789 durch den General Berthier abgesetzt wird, erteilen die Franzosen den Juden in der »Römischen Republik« die römischen Bürgerrechte. Wie die neapolitanische Herrschaft die französische ablöst, werden die Juden für ihre Teilnahme an der Revolution mit schweren Geldstrafen belegt (1799). Wie der Kirchenstaat 1809 zu Frankreich geschlagen wird, bekommen sie von neuem die Gleichberechtigung, um sie erneut mit der Rückkehr der Päpste 1814 zu verlieren. Das gleiche Hin und Her spielt sich in Venedig und Padua ab. In der Schweiz, die 1798 zur Helvetischen Republik erklärt wird, hat man ebenfalls ein Judenproblem, wenngleich der Gegenstand der Problematik nur aus 200 Familien bestand. Um die Gleichberechtigung dieses Häufleins entstehen ernsthafte Debatten, die mit der Ablehnung enden.
Das Herzogtum Warschau, die Schöpfung Napoleons, muß sich ebenfalls unter seinem Diktat eine liberale Verfassung geben, die die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz anerkennt. Das gilt auch für die Juden. Aber ihnen wird die Gleichberechtigung sofort wieder entzogen, und zwar auf die Dauer von zehn Jahren, »in der Hoffnung, daß sie binnen dieser Frist die sie von der übrigen Bevölkerung so sehr unterscheidenden Besonderheiten ausmerzen werden«.
In Deutschland werden zwischen 1792 und 1794 Mainz, Worms, Speyer und Köln besetzt und den Juden durch Verkündung der Gleichberechtigung die Bürgerrechte verliehen. Das Königreich Westfalen, dieses kurzlebige Gebilde der napoleonischen Politik, kann den Juden für sechs Jahre die Gleichberechtigung geben, das Großherzogtum Frankfurt a. M. für zwei Jahre (1810–1812), Hamburg für drei Jahre. Der Einfluß der französischen Eroberungen ist es auch, der in Preußen Friedrich Wilhelm III. zu Konzessionen und zur Lockerung des absolutistischen Regimes veranlaßt. So werden die Juden 550 zunächst im Verfolg der neuen Städteordnung Stadtbürger und nach der Flucht des Königs nach Königsberg preußische Staatsbürger durch das »Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in den preußischen Staaten« vom 11. März 1812. Darin werden alle Sondergesetze aufgehoben und Freizügigkeit und freie Berufswahl gewährt.
Die übrigen deutschen Staaten wehren sich nach Kräften gegen diese in der Zeit liegende Emanzipationsströmung. Das ist an sich verständlich. Eine allgemeine geistige Bereitschaft, Menschenrechte anzuerkennen, war keineswegs vorhanden, und wenn sich auch noch die kleinsten Staaten den Luxus leisteten, ein Judenproblem zu haben, so muß doch zugegeben werden, daß sie damit vor ungewöhnlichen Schwierigkeiten standen. Sie hatten, um sich ein Urteil über die Juden zu bilden, nie eine andere Vergleichs- und Kontrollmöglichkeit gehabt als sich selbst, als die jahrhundertelange Erziehung einer extrem intoleranten Kirche . . . und ihr eigenes wirtschaftliches Interesse. Da ist jede liberale Beurteilung derer, die sich von solchen jahrhundertelangen Bindungen freimachen, objektiv um so mehr anzuerkennen. Wenn Bayern erst 1808 und Sachsen gar erst 1813 unter dem Druck der Besetzung durch das preußisch-russische Heer den Leibzoll für Juden abschaffte, so entsprach das genau dem Zustand ihrer Einstellung und ihrer politischen Reife.
Je weiter nach dem Osten zu und je weiter vom französischen Einfluß entfernt, desto hemmungsloser wirken sich die Erziehungsexperimente am Juden aus. Der Osten verwandelt sich in eine Korrektionsanstalt für Juden. Der polizeiliche Geist bedient sich pädagogischer Gebärden. Jede neue Unterdrückung wird mit der feierlichen Versicherung eingeleitet, daß sie das Beste des Juden im Auge habe und als Vorstufe für die Zuerkennung der Gleichberechtigung zu betrachten sei. Österreich setzt seine schon erwähnten Zwangsmaßnahmen fort. Drei Maßnahmen vor allem kehren immer wieder: exzessive 551 Besteuerung, ein Nachklang der alten Idee, daß der Jude Geld einbringen müsse; Zwang zum Besuch der christlichen Schulen, eine Konsequenz der Idee, man müsse dem Juden die christliche Kultur vermitteln; und verschärfte Heranziehung zum Militärdienst als Mittel der Erziehung zum Patriotismus und als Gegenleistung für gewährte Rechte.
In Rußland, dessen Anfangszustände einleitend geschildert worden sind, meldet sich ebenfalls das 19. Jahrhundert mit einer verschärften Erziehung der Juden an. Alexander I. ernennt das »Comité zur Wohleinrichtung der Juden«. Die Juden wissen, was »Wohleinrichtung« bedeutet. Eine Kahalversammlung zu Minsk stellt daher in Moskau den Antrag, man möge doch lieber alles beim alten lassen. Es nützt ihnen nichts. Sie sollen verbessert werden. So ergeht Ende 1804 das »Statut über die Einrichtung der Juden«. Sein Hauptzweck war, eine soziale Umschichtung der jüdischen Bevölkerung zu erzwingen. Im Rahmen dessen, was dem Juden bisher an Berufen zugänglich war, war übrigens die soziale Schichtung durchaus nicht anormal, wenn sie auch verständlicherweise begrenzt war. Der Jude auf dem Land war überwiegend Pächter, zugleich Schankwirt, Getreideaufkäufer und Händler. In den Städten trieb er Handel, vor allem Kleinhandel, Schankgewerbe und in sehr ausgedehntem Maße Handwerke. Die russische Regierung, die den nützlichen Einfluß des wohlhabenden Juden auf ihre noch schwach entwickelte Industrie erkannte, aber andererseits in der Tätigkeit des Dorfjuden eine Ausbeutung der Bevölkerung sah, wollte die Industrie fördern und den Pächtern das Handwerk legen, zugleich ihnen den Übergang zur Landwirtschaft ermöglichen. Als radikale Lösung wurde ihnen daher der Aufenthalt in den Dörfern verboten und die Abwanderung von rund 300 000 Menschen verfügt.
Da auch in den Städten der Ansiedlungsrayons für die Juden kein Lebensraum mehr gegeben war, mußten sie es auf ihre gewaltsame Evakuierung ankommen lassen. Sie begann 552 auch. Zum Teil wurden sie durch Soldaten in die Städte gejagt, wo man sie auf den Straßen stehen ließ. Jetzt verlangten die Juden das von der Regierung versprochene Land, um Bauern werden zu können. Bis Ende 1806 hatten sich schon 1500 Familien gemeldet. Die Regierung war aber gar nicht in der Lage, das nötige Land und die nötigen Mittel zur Ansiedlung bereitzustellen. Ungefähr 2000 Personen konnten sie 1807 im Gouvernement Cherson ansiedeln. Dann gingen ihr die Mittel aus. 1810 mußte sie die Kolonisation ganz einstellen, obgleich der Andrang sehr groß war. Die Vertreibung der Juden aus den Dörfern hatte sie schon 1808 suspendieren müssen. Bis auf die Schaffung von ein paar Tausend jüdischer Bauern hatte dieses Experiment als einzige Wirkung die Zerstörung zahlloser Existenzen.
In der Reaktion des Juden auf alle diese Experimente kündigt sich schon jetzt eine unheilvolle Spaltung an. Das westliche Judentum hatte zu der Zeit, als im Osten das polnische Zentrum in seiner Blüte stand, überhaupt keine eigene Kultur. Es war geistig völlig vom Osten abhängig. Diese Abhängigkeit wird im Westen durch die »Aufklärung« unterbrochen und zunehmend gelöst. Das kommt zunächst in dem Verhalten nach außen zur Geltung. Während im Osten der Jude in seiner überwiegenden Mehrheit den »Besserungsversuchen«, besonders soweit sie in sein geistiges Leben eingriffen, einen erbitterten passiven Widerstand entgegensetzt, haben wir im Westen Erscheinungen wie die Notabeln von Paris. Zugleich aber empfindet der Jude im Westen das Verhalten seines Bruders im Osten als eine Störung und Beeinträchtigung seiner Bereitwilligkeit zur Assimilation. Was in Frankreich der sephardische Jude gegenüber dem aschkenasischen tat, geschieht jetzt im Verhältnis des westlichen zum östlichen Juden: es wird auf Grund der gerade eben angenommenen fremden Kultur die Verschiedenartigkeit des Juden in West und Ost formuliert. Von dieser Zeit an kann man von Westjuden und Ostjuden sprechen. 553
Eine gleiche Spaltung, die sich mit dem Besitz europäischer Bildung legitimierte, ergab sich wieder innerhalb der Westjuden, besonders der in Deutschland. Einer intellektuellen Oberschicht steht die Masse der übrigen Juden gegenüber, wobei das eigentlich Trennende nicht so sehr das Mehr oder Weniger an Bildung ist, sondern der Richtungssinn dieser Bildung, der Gebrauch, der davon gemacht, und die Konsequenz, die daraus gezogen wird. Auch da, wo es sich nicht um Erwägungen der Nützlichkeit handelte, hatte die überschnelle kulturelle Assimilation die nationale Assimilation im Gefolge. Einmal in den Umkreis der europäischen Kultur eingetreten, gab es für sie nichts anderes mehr als diese Kultur. Man muß zugeben, daß sie sie intensiv angriffen, und der Umstand, daß jüdische Frauen, wie Henriette Herz und Rahel Lewin, ihre Salons zu Treffpunkten der deutschen Geistesaristokratie machen konnten – so belanglos diese Tatsache im historischen Rahmen auch ist – belegt doch die Aktivität und Wärme, mit der hier Kultur berührt wurde. Es ist nur die Konsequenz einer solchen Hingabe, daß immer mehr gebildete Juden zum Christentum übertreten und daß diese Flucht in das Christentum aus Gründen der humanitären Gesinnung oder der Zweckmäßigkeit zu einer wahren Massenerscheinung wurde. Der Gedanke der französischen Revolution, den die Wirklichkeit so bald wieder zu Grabe trug, war in den besten Köpfen und Herzen der Zeit verhaftet geblieben. Aber soweit es Juden waren, verlangte ihre historische Situation von ihnen eine Konsequenz besonderer Art. Der Deutsche, der sich dem Gedanken der Revolution verschrieb, wurde Kosmopolit und konnte doch unbeschadet Deutscher bleiben. Der Jude, der sich dem Gedanken der Revolution verschrieb, wurde auf dem Wege zum Kosmopolitismus . . . Deutscher. Sein Judentum ging unter. Das war die Folge eines verfrühten Versuches, sich als Jude universalistisch zu gebärden.
Wir haben den Standpunkt vertreten, daß die Juden auch 554 jede andere Kultur als die deutsche als Hilfsmittel der Befreiung aus dem Kreislauf der Unterdrückung und der geistigen Selbstbeschränkung aufgenommen hätten. Dennoch ist die Frage berechtigt, ob nicht besondere Affinitäten obwalteten, die den Juden gerade für das Eindringen in die deutsche Kultur empfänglich machten. Wir wollen die zahlreichen Definitionen, worin das deutsche Wesen bestehe, nicht noch um eine vermehren, aber in drei Richtungen sehen wir etwas, was den jüdischen Geist anspricht: das Bedürfnis des Deutschen nach dem Ausdruck und nach der diesseitigen schöpferischen Gestaltung des Metaphysischen (was uns zugleich als die stärkste Quelle für die überragende musikalische Schöpferkraft des Deutschen erscheint); sodann die deutsche Sprache, nicht nur deshalb, weil die jüdischen Massen diese Sprache unverlierbar in den Jargon, das Jiddisch, einbezogen haben, sondern auch weil diese Sprache – die uns nach der hebräischen Sprache als die schönste der Welt erscheint – in Weite und Reichtum dem jüdischen Pathos am meisten entspricht. Luthers Bibelübersetzung wäre ohne eine solche Verwandtschaft nicht der Sprachen, aber der Sprachmöglichkeiten nicht denkbar gewesen. Endlich haben Juden wie Deutsche das Bewußtsein von einer Auserwähltheitsidee, wenn auch von ganz verschiedenen Voraussetzungen her. Der Satz: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen« ist jedenfalls durchaus ernsthaft gemeint. –
Daß in diesem jüdischen Experiment der Angleichung eine Fehlerquelle enthalten ist, trat sehr bald zutage. Ähnlich wie die spanische Gesellschaft auf das Eindringen der Marranen, reagierte ein erheblicher Teil der Deutschen auf das Eindringen des Juden. Zwar liefen alle Erziehungsversuche letzten Endes darauf hin, den Juden zu uniformieren, und immer noch wie seit Jahrhunderten war die Taufe die endgültige Rehabilitation. Aber die Massenübertritte zum Christentum erzeugen immerhin eine preußische Verordnung, wonach der Täufling dem Pfarrer eine polizeiliche Bescheinigung vorzulegen hatte 555 darüber, daß es ihm mit der Taufe wirklich ernst sei. Auch die öffentliche Meinung wird mobilisiert. Schleiermacher kritisiert heftig das Erlangen bürgerlicher Vorteile durch die Taufe. Eine ganze Literatur polemischer Schriften für und wider die Juden entsteht, die so scharfe Formen annimmt, daß die Zensur die öffentliche Erörterung der Judenfrage unterbindet.
Das sind die sachlichen und geistigen Voraussetzungen, unter denen die Juden nunmehr Objekt der allgemeinen großen europäischen Reaktion in der Zeit von 1815–1848 werden.