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Während der Norden des Landes sich einer tumultuarischen Entwicklung im Inneren und nach außen überläßt, geht das Leben im Süden, im Reiche Juda, einen ruhigeren, trägeren, 65 stabileren Gang. Zwar fehlt es auch da nicht an Erschütterungen, aber sie dienen einem Aufbau, weil sie von anderen Kräften als im Norden getragen werden.
Die politische Potenz dieses restlichen Reiches ist gering. Es verliert sogar seinen Ausgang zum Roten Meer. Schiffahrt und Binnenhandel, zwei Hauptquellen seines kurzen, übermäßigen Reichtums, entfallen damit. Grundlage der wirtschaftlichen Existenz wird wieder der Ackerbau. Diese wirtschaftliche Verengung geht mit der politischen Hand in Hand. Es ist kein Blick mehr da für die Orientierung in der Umwelt. Selbst Samaria wird abwechselnd bekämpft und abwechselnd zum Bundesgenossen erwählt. Immerhin dient diese politische Belanglosigkeit dazu, daß dem Reiche größere Kriege und damit größere Kraftverluste erspart bleiben. Es entzieht sich auch der Auseinandersetzung mit dem mächtigen Assyrien, und zwar in einer Art, die seiner Machtlosigkeit entspricht. Der König Ahas bietet Tiglat-Pileser die Vasallenschaft an, wenn er ihn von seinen Feinden, der antiassyrischen Koalition des Nordens befreit. Die politische Selbständigkeit Judas ist damit bis auf weiteres erledigt.
Dem entsprach durchaus, daß auch das Königtum in Juda nicht mehr die absolute Führerschaft besaß, sondern seine Autorität von Adel, Priesterschaft und Prophetentum beschränken lassen mußte. Diese drei Gruppen sind jede für sich das Ergebnis einer logischen und organischen Entwicklung. Der Adel, die »Fürsten Judas«, erwachsen aus dem Übergang patriarchalischer Führerfamilien zu Besitzenden, zu königlichen Beamten, zu Richtern, zur anmaßenden Clique mit eigenen Interessen, die sich um jeden Preis bereichern will und das Königtum nur insoweit respektiert, als es seinen privaten Zielen nicht im Wege steht. Zusammen mit den jeweiligen Verwandten des Königs sind in Wirklichkeit sie es, die sowohl gegenüber dem Volk nach Belieben schalten und walten, als auch die auswärtige Politik jeweils inspirieren. 66
Die zweite Gruppe, die Priesterschaft, begründet sich selbst historisch durch ihre Ableitung von Aaron, dem Bruder des Mosche. Seit der König Schelomo den Zadok zum Oberpriester eingesetzt hat, ist das Amt in dieser Familie erblich. Es stellt einen Rang dar, der die Position des Königs sehr oft einengt und zuweilen bestimmt. In einer höchst kritischen Situation ist die Fortexistenz der Dawidischen Dynastie überhaupt dem Eingreifen der Priesterschaft zu verdanken. Als im Reiche Samaria die Dynastie Omri durch Jehu vernichtet wurde, fiel dem Massenmorden auch der König Ahasja von Juda zum Opfer. Dessen Mutter, Atalia, Tochter der phönizischen Isebel, rächte sich, indem sie das ganze Dawidische Königsgeschlecht töten ließ. Nur ihr Enkel Joasch wurde von dem Oberpriester Jojada gerettet, heimlich im Tempel erzogen und von ihm mit Hilfe des Heeres später zum König gemacht. Solches Verdienst um die Erhaltung der Dynastie stellt die Priesterschaft fortab gebührend in den Vordergrund. Darüber hinaus wahrt sie auch eifersüchtig die Unantastbarkeit und die Ausschließlichkeit ihrer Position. Sie ist ihr zuweilen wichtiger als die Reinheit und die Ausschließlichkeit der Idee, die sie zu verwalten hat. Als der König Ahas, der freiwillige Vasall Tiglat-Pilesers, in devoter Nachahmungssucht die Aufstellung eines assyrischen Altars im Tempel wünscht, findet er bei dem Oberpriester keinerlei Widerstand. Die Idee des Priestertums war noch nicht zu Ende gewachsen.
Es ist dabei zu betonen, daß das, was wir jüdische Idee oder jüdisches Wesen oder jüdische Weltanschauung nennen wollen, noch im Ringen sowohl um die Form wie um den Inhalt lag. Die Form, soweit sie im Kult ihren Ausdruck findet, war im Tempel zu Jerusalem nur offiziell, aber nicht ausschließlich zentralisiert. Noch bestanden Kultstätten auf den Höhen, noch vollzog sich der Ritus vielfach in entlehnten Formen, und noch war es mehr als einmal möglich, daß von Seiten der Regierenden völlig fremde Kulte in Juda eingeführt werden 67 konnten. Aber es ist für die Zustände im judäischen Reich kennzeichnend, daß – im Gegensatz zu Samaria – immer Reaktionen einsetzen, die teils vom Königtum ausgehen, teils von der Priesterschaft und teils von den Propheten. Fast erschöpft sich die Geschichtschreibung dieser Zeit in dem Anmerken solcher Vorgänge, die in der religiösen Sprache als »Abtrünnigkeit« und als »Rückkehr« bezeichnet werden. Das hat einen tiefen Sinn. Noch decken sich für den äußeren Schein Kult und Weltanschauung, Brauch und Religionsgesetz, Form und Inhalt. Und doch beleben sich schon die Kräfte, die hier einen Unterschied machen wollen, die zwischen Ritus und Gesinnung, zwischen formalem Gottesdienst und sittlicher Haltung die Kluft sehen.
Es geschieht jetzt ein Doppeltes: der alte, halb vergessene religiöse Bestand wird wieder lebendiggemacht, und der neu erworbene Bestand wird in grandioser Umdeutung der jisraelitischen Zentralidee angepaßt.
Vermutlich zur Zeit des Oberpriesters Jojada werden die Lewiten angewiesen, das Land zu durchziehen und das Volk mit Inhalt und Bestand seiner nationalreligiösen Überlieferung bekannt zu machen. Das breite Volk wußte kaum noch etwas davon. Die Existenz der biblischen Bücher, soweit sie damals schon abgefaßt oder angelegt waren, war ihnen überhaupt unbekannt. Andere hatten dieses geistige Gut für sie wie eine Erbschaft verwaltet: die Lewiten und die Priester. Jetzt profitierte das Reich Juda von dem, um was Samaria zu allem Anfang verarmt war: von dem Zustrom der Traditionshüter, der Lewiten. Sie – und neben ihnen die Propheten – sind es, die das in der Zwischenzeit angesammelte geistige Gut zu einer besonderen Formung treiben. Sie schaffen dabei nichts grundsätzlich Neues. Sie nehmen die Überlieferung und das, was sie an Möglichkeiten im Volke vorfinden, und zwingen es zu einer Konsequenz, die das jüdische Antlitz und die jüdische Seele geprägt hat. Alles war vorhanden, aber alles war im Chaos. 68 Der Norden fand nicht die Kraft, es zu ordnen. Der Süden hat es getan. Gerade der Umstand, daß gleichzeitig im Norden wie im Süden die zur geistigen Führerschaft Berufenen die gleichen Versuche unternahmen, beweist, daß es sich nicht um irgendwelche priesterliche oder prophetische Konstruktion handelte, sondern nur um das Herausbilden, um die Kraft, aus einem Zustand Folgerungen von zeitloser Tragweite zu ziehen.
Gewiß: man diente dem einmal erkannten Gotte. Baal war verschwunden. Aber seine Formen lebten noch, und der in ihnen angerufene Gott war noch Gott gerade des Stammes, der ihm diente. Aber ihre religiöse Art, zu denken, wird auf die Dauer von einem solchen separatistischen Gott nicht befriedigt. Wenn es schon eine Macht außerhalb der Erde und außerhalb menschlicher Einflußnahme gab, dann konnte es nur die letzte, die äußerste, die höchste sein; dann ging es nicht um eine Macht, um einen Gott, sondern um die Macht, um den Gott. Eine solche Denkart mußte aber notwendig zu der Erkenntnis führen, daß ihr Gott nicht Gott eines Stammes oder eines Volkes, sondern Gott der Welt, des Universums sei. Und während sie ihn, wenn auch nicht in seinem Bilde, so doch in einem Symbol noch hier und dort darstellten, begriffen sie fortschreitend, daß die Summe aller Machtvollkommenheiten, das ganz und gar Unirdische, sich überhaupt nicht mit der kleinen Technik des Irdischen darstellen, daß es sich vielmehr nur glauben, fühlen, ahnen oder denken lasse. So näherten sie sich dem Prinzip Gott als einer Einheit, einer Universalität und einer nicht darstellbaren Unfaßlichkeit.
Diese Ideenentwicklung bleibt nun keineswegs abstrakt, sondern sie konkretisiert sich sowohl in einem schriftlichen Niederschlag wie auch in ihrer praktischen Auswirkung.
Der schriftliche Niederschlag liegt vor in dem Buche »Reden«, Deuteronomium, dem fünften Buche des Pentateuch. In der Zeit der Sonderung der beiden Reiche hat es seine 69 Herausbildung erfahren, wenn es auch erst später in seiner endgültigen Gestalt der Öffentlichkeit übergeben wurde. Je größer die Gefahr einer Angleichung an die Umgebung wurde, desto lebendiger entfaltete sich – mit dem bewußten Zwecke, das Volk zu erziehen und die religiöse Idee zu steigern – das jüdische Schrifttum. Schon unter Dawid und Schelomo haben die ältesten Bestandteile der Bibel ihre Abfassung erfahren. In der Zeit der Sonderung werden unter dem Einfluß der Propheten die alten Stammessagen gesammelt, belebt, erweitert und umgedeutet, aber nicht mehr willkürlich, nicht nur zu dem Zwecke, Material zu häufen, sondern es insgesamt als repräsentativ für die Idee hinzustellen. Da dies in beiden Reichen geschieht, kommen – bei aller Wahrung des zentralen Gedankens – doch verschiedene Fassungen zustande. So sind bei der späteren Zusammenlegung dieser verschiedenen Fassungen zwei Schöpfungsgeschichten nebeneinandergeraten, eine kosmogonische, die aus dem Chaos in organischem Aufstieg Erde, Pflanze, Tier und Mensch entstehen läßt, und eine geozentrische, in der der Mensch aus dem Staub gebildet wird und in der nach ihm Tiere und Pflanzen entstehen. Auch sonst ergeben die Verschiedenheit des Entstehungsortes und die Verschiedenheit der Tendenz, die der Redaktor aus erzieherischen Gründen befolgen mußte, Abweichungen in dem Bericht von Vorgängen und in der Auswertung von Vorschriften. Diese Entdeckung hat Kritikern zu absonderlichsten Erkenntnissen Anlaß gegeben. Wir brauchen uns damit nicht zu befassen. Es liegen hier nur entwicklungsgeschichtliche Niederschläge vor, die aus Zeit und Anlaß der Entstehung zu begreifen sind und die sich einer tendenziösen polemischen Auswertung entziehen.
Die praktische Auswertung dieses Schrifttums und der Kenntnis, die dem Volke davon vermittelt wird, greift ganz tief in das Dasein der Menschen hinein. Was sie an Sitten und Gebräuchen halten, was sie an Kulten und Riten vollziehen, wird ihnen nicht nur aus der Sphäre der trägen Gewohnheit gerückt, 70 sondern es wird ihnen eindringlich vorgeführt als der notwendige Ausdruck einer Lebenshaltung, einer seelischen und sittlichen Existenz. Die Bräuche, die Sitten, die Kulte, die Lieder, Sagen, Erinnerungen und Feste werden zusammengeschweißt und ergeben anstelle eines Konglomerats eine Weltanschauung. Bisher trieben sie Dinge von einem Tag zum anderen. Jetzt lernen sie: es geschieht nichts ohne Zusammenhang mit einer höheren sittlichen Idee. Geschehen im Leben des Einzelnen und Geschehen im Leben der Gemeinschaften sind nicht zufällig. Es manifestiert sich darin ein ethischer Gedanke oder Gott oder kosmisches Gesetz oder wie man es nennen will. Sie beginnen, den Ablauf der geschichtlichen Ereignisse sinnvoll zu begreifen. Als der Norden, unwillig und unfähig zu dieser inneren Umstellung, vom Erdboden verschwand, als das Gesetz der jüdischen Geschichte von neuem das Prinzip der Auslese über sie verhängte, begriffen die Übriggebliebenen, der »Rest Israels« etwas Ungewöhnliches: es ist nicht wahr, daß Gott mit den stärkeren Bataillonen ist. Aber zuweilen bedient er sich der stärkeren Betaillone, damit die Menschen die innere Aufmerksamkeit nicht vergessen.
So ist das Geschehen, das sich bis zum Untergang Samarias im Reiche Juda vollzog, im wesentlichen ein inneres. Die äußeren Vorgänge haben nichts Bleibendes gestaltet, was den heutigen Menschen noch anginge. Aber es sind Ideen geschaffen worden, die das Gesicht der Erde verändert haben. Diese Ideen waren so mächtig, daß sie sich ihre eigene Repräsentanz erzwangen: die Propheten, dieses geistige Reservat der judäischen Rasse.