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In dem Orte Gibea, im Gebiete des Stammes Benjamin, wohnt Schaul ben Kis (Saul), ein Bauer mit Muskeln, ein 41 Draufgänger mit einem empfindsamen Herzen, ein Mann, dessen Gesichtskreis genau so weit geht wie der Umkreis seiner Dorfgemarkung, an die Stille und die Natur gewöhnt, darum schlicht in der Phantasie und der religiösen Empfänglichkeit. Er, wie viele andere, erfährt das Zusammentreffen mit den vagierenden Lewiten. Es wird ihm zum Erlebnis, zur ersten und vielleicht einzigen Nahrung des Herzens. Der Begriff »heiliger Krieg«, diese Vermischung von Glaubensdienst und Bluthandwerk, ist dieser Seele ungemein verständlich.
Da ist, jenseits des Jordans, der Ammoniterkönig Nachasch, der die Stadt Jabes belagert, und wie die bedrängten Einwohner Unterwerfung anbieten, macht er zur höhnischen Bedingung, daß jeder Einwohner sich ein Auge ausstechen lasse. Wie Schaul es hört, schlägt der heilige Jähzorn über ihm zusammen. Er nimmt einen Pflugochsen, hackt ihn in Stücke und schickt die blutigen Teile an die Stämme in der Nachbarschaft. »Da – so will ich euch in Stücke schlagen, wenn ihr nicht alle mit mir nach Jabes hinaufzieht!« Für so rauhe und männliche Botschaft haben sie Verständnis. Sie befreien Jabes und vernichten das Heer des Nachasch. Dann geht Schaul wieder auf seinen Acker zurück und pflügt.
Diesen Mann, diese Mischung von Herkules und Ekstatiker, diesen pathetischen Bauern aus dem geringsten der Stämme wählt Schemuël dem Volke zum König aus. Das ist der Augenblick, in dem das Richtertum endgültig Abschied nimmt. Schemuël tut es mit einer fast hochmütigen, großen Gebärde, darin ein Unterton von Stolz und Gekränktheit ist. Unbefleckt tritt das Richtertum ab. Aber was wird das Königtum bringen?
»Schemuël sprach zu all Jisrael:
»Da habe ich auf eure Stimme gehört in allem, was ihr zu mir spracht,
»und habe euch einen König gekönigt.
»Und nun, 42
»da ist der König, einhergehend vor euch,
»und ich bin alt und grau geworden.
»Meine Söhne, – da sind sie, unter euch,
»ich aber bin von meiner Jugend bis auf diesen Tag vor euch hergegangen.
»Da bin ich,
»antwortet wider mich gegenüber IHM, gegenüber seinem Gesalbten:
»wessen Ochsen habe ich genommen?
»wessen Esel habe ich genommen?
»wen habe ich gepreßt?
»wen habe ich geschunden?
»aus wessen Hand habe ich Bestechungsgeld genommen
»und barg darin meine Augen?
»so will ichs euch erstatten!«
Sie müssen bekennen: das Richtertum war rein und ohne Eigennutz. Aber sie wenden sich doch ihrem König zu, diesem Manne, der sie um eines Kopfes Länge überragt. Schemuël geht heim, jetzt nicht mehr Richter, jetzt Seher, Schauer, Prophet, der mit vom Eifer geschärften Blicken mißtrauisch und streng den ersten König des Volkes überwacht.
Dieser König bleibt zunächst das, womit er sich eingeführt und empfohlen hat: Kriegsheld. Er greift die Philister an und siegt. Das Land wird wieder frei. In der Bewunderung des Volkes und der Selbsteinschätzung Schauls wird jetzt erst aus der kriegerischen Führerschaft ein wirkliches Königtum. Schaul beginnt zu herrschen. Er dehnt seine Autorität, die anfangs auf Ephraim und Benjamin beschränkt war, weiter auf die Randgebiete aus. Er schafft ein stehendes Heer. Das Dorf Gibea wird Residenz. Aus der bäuerlichen Lebensführung wächst eine Hofhaltung mit Dienern, Trabanten und Beamten. Ungewöhnlich schnell lernt er die Reize des Selbstherrschers kennen.
Aber in Rama sitzt Schemuël und vergißt nicht einen 43 Augenblick, daß das Königtum nicht Selbstzweck, sondern Instrument sein soll. Was sich da in Gibea an Selbstherrlichkeit entwickelt, ist nicht nach seinem Geschmack. Er besorgt, daß über der Machtentfaltung der Dienst vergessen werden könne. So erteilt er Schaul den Auftrag zu einem Kriege gegen die Amalekiter, zu einem Kriege, zu dem keine politische und keine wirtschaftliche Notwendigkeit vorlag, der ausschließlich den Charakter eines heiligen Krieges tragen sollte gegen das Volk, das zu allem Beginn der jüdischen Geschichte, unmittelbar nach der Flucht in die Wüste, die Jisraeliten befehdet hat. Schemuël erfährt, daß die lewitische Autorität noch intakt ist. Mit aller Selbstverständlichkeit unterzieht sich Schaul diesem Auftrag. Es ist ein mit besonderen Bedingungen belasteter Auftrag: alles Lebendige im Erbfeind Amalek soll ausgerottet werden. Es ist nicht nur ein grausamer Auftrag, sondern auch ein schwer auszuführender, wenn man bedenkt, daß für die Krieger jede Beute an Tier und Menschen ein Ersatz für das bedeutet, was sie durch die lange Abwesenheit auf Kriegszügen versäumen. Man könnte auf den Gedanken kommen, Schemuël habe nicht ohne Bedacht eine Bedingung gestellt, an der der König seinen unbedingten Gehorsam beweisen oder scheitern müsse.
Der Feldzug wird siegreich beendet. Schaul, im Übermaß seines Selbstgefühls, errichtet sich selbst auf der Rückkehr in der Oase Karmel einen Denkstein. Aber die Freude wird schnell gedämpft. Zwischen Schaul und Schemuël kommt es zu einem heftigen und nie wieder ausgeglichenen Zerwürfnis. Lag der Grund in der Verurteilung der cäsarenhaften Gebärde, mit der Schaul sich und nicht seinen Gott als den Sieger feierte? Lag er in der nicht präzisen Ausführung des Auftrags, weil er zuließ, daß seine Krieger lebendige Beute machten? Vielleicht in beidem. Bestimmt aber datiert von diesem Augenblick an Schauls seelischer Zusammenbruch. Noch ist der Zusammenhang zwischen Königtum und göttlicher Unterwerfung stark 44 genug, um den Bruch mit dem Repräsentanten des reinen Jahvismus als drohendes Unheil zu empfinden. Und Schemuël ist es auch, der in der konsequenten Weiterverfolgung seiner Idee den Keim zur Tragödie in das Leben dieses ersten jüdischen Königs senkt. Für das Volk ist Schaul das, was es braucht: ein Kriegsheld. Ihre Klage um ihn bei seinem Tode beweist, wie sie mit ihm zufrieden waren. Aber der Prophet ist nicht zufrieden. Es ist immer noch die Diskrepanz vorhanden zwischen der Anschauung des Volkes und der geistigen Führerschaft. Es ist ein Charakteristikum der jüdischen Geschichte, daß über dem Leben des Alltags stets der Ideenträger mit einer übermäßigen Forderung steht.
An der einmal vollzogenen Königswahl, durch sakrosankten Akt geheiligt, kann Schemuël nichts ungeschehen machen. Aber er kann verhindern, daß aus dem König eine Dynastie entstehe. Er kann schon zu Lebzeiten dieses Königs den Auftrag für die Zukunft an einen anderen vergeben, den er für würdiger hält. Das tut er. Er bestimmt in einem geheimen Beschluß Dawid, Sohn des Isai aus dem judäischen Bethlehem, zu seinem Nachfolger.
Verworfen sein von dem, aus dessen Händen er das Königtum empfangen hat, ist für Schaul eine Bedrückung, der er zu entrinnen strebt. Von dem Vorwurf der Untreue gegen seinen Gott sucht er sich zu reinigen in einer Anzahl von kleinen Fehden gegen die umgebenden Stämme und die kanaanitischen Überreste in den jisraelitischen Siedlungen. Indem er sie samt ihren Kulten ausrottet, will er seine Glaubenstreue beweisen. Er wird Eiferer des Glaubens aus Unsicherheit. Er fühlt sich dabei zugleich als Träger eines ungarantierten Königtums und braucht ein Symbol, um sich erneut zu bestätigen: er setzt sich eine Krone auf. Aus dem schlichten Schwertmenschen wird eine verängstete Kreatur, die überall Drohung wittert. Aus dem geraden Kriegsführer wird ein mißtrauischer Potentat, der auf persönliche Anerkennung bedacht ist. Und um dem 45 Tragischen die dramatische Wucht zu geben, führt das Schicksal ihm den Mann in das Haus, der schon als der Würdigere nach ihm befunden und erwählt worden ist: Dawid.
Schaul nimmt ihn zu sich, um in seiner Gegenwart die dunklen Bedrohungen zu vergessen. Aber jetzt erst werden sie riesengroß, weil alles, was er an Dawid tut, das Gute wie das Hinterhältige, ihm, Dawid, den sichtbaren Zuwachs an Macht und Ansehen bringt. Zweimal müht er sich, die Umklammerung zu durchbrechen, beide Male durch einen Mordversuch. Beide Versuche schlagen fehl. Dawid flieht. Schaul hetzt ihn mit krankhafter Hartnäckigkeit. Er meint, er könne an seinem Schicksal etwas ändern, wenn er den Vollstrecker seines Schicksals vernichtet. Es gelingt ihm nicht.
So von der Sorge um sein eigenes Schicksal völlig belagert, fehlt Schaul jede Entschlußkraft und Zuversicht, wie er sich einem erneuten Angriff der Philister stellen muß. Die Beziehung zum lebendigen Bezirk der Gläubigkeit, die ihn in seinen Anfängen getragen hat, ist ihm jetzt verschüttet. Er läßt nach alter Sitte die Orakel über den Ausgang des Kampfes befragen. Sie geben keine Antwort. Er bricht tiefer in den mystischen Bezirk ein und wartet auf Träume, die ihm Vorzeichen sein können. Sie stellen sich nicht ein. Und in dem letzten verzweifelten Ringen um die Antwort dessen, der ihn einmal berufen hat, wendet er, der in seinem Glaubenseifer die Tätigkeit der Seherinnen ausgerottet hat, sich an eine solche Frau, die Seherin von En Dor, zu magischer Beschwörung des toten Schemuël. Und in dieser letzten, zu späten Stunde wird ihm eine Erscheinung, ein inneres Erlebnis, eine verzögerte Erkenntnis, eine von den Ereignissen längst überholte Hellsichtigkeit, die in der Prägnanz des Buches »Schemuël« diesen Ausdruck findet:
»Schemuël sprach zu Schaul:
»Warum hast du mich aufgestört, mich emporsteigen zu lassen?
»Schaul sprach: 46
»Mir ist sehr bang,
»die Philister bekriegen mich,
»Gott ist von mir gewichen,
»er antwortet mir nicht mehr,
»weder durch die Künder, weder durch Träume,
»so rufe ich Dir,
»mich wissen zu lassen, was ich tun soll.
»Schemuël sprach:
»Warum fragst du mich?
»ER ist ja von dir ferngewichen und ist dein Bedränger geworden,
»so hat er dir getan, wie er durch mich geredet hat:
»ER riß
»das Königtum aus deiner Hand
»und gab es deinem Genossen, dem Dawid . . .
»morgen bist du und deine Söhne bei mir . . .«
Am anderen Tage, nach dem unglücklichen Ausgang der Schlacht, setzt Schaul seinem unerfüllten und unerledigten Königtum durch eigene Hand den Schlußpunkt. Er tötet sich selbst.
Was von ihm in der Erinnerung des Volkes fortlebt, ist kein schöpferischer noch irgend ein erfüllender Akt auf dem Wege der politischen oder geistigen Entwicklung des Volkes, sondern nur der Respekt vor seiner männlich-kriegerischen Kraft.