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Die Eroberungen, die die islamische Welt nach dem Tode Mohammeds beginnt, sind mehr als nur ein politischer Vorgang und mehr als eine rein kriegerische Aktion. Sie sind der Rückstoß des Orients gegen die abendländische Welt, die mit Hellas und Rom in Asien eingebrochen war. Orient und Okzident sind mehr als geographische Verschiedenheiten, sie sind 312 Kräfte verschiedener Begabung. Alle Versuche in der Geschichte, der einen das Übergewicht über die andere zu geben, sind gescheitert. Ihre Bestimmung liegt nicht in der Überzwingung der einen durch die andere, sondern im Austausch und in der gegenseitigen Befruchtung; selbst da, wo ihre Eigenschaften unversöhnlich scheinen. Aus solcher Gesetzmäßigkeit kommt die Pendelbewegung zwischen Abendland und Morgenland zustande. Aber das einzige Volk, das die ganze Schwingungsweite dieser Pendelbewegung besetzt und nicht wieder verlassen hat, sind die Juden. Darum wird für sie der Einbruch des Islam von überragender Bedeutung; und zwar verständlicherweise zunächst da, wo sie in kompakten Massen siedelten und wo sich das Zentrum ihrer Verwaltung befand: in Babylonien.
Der Elan des Islam, in dem sich religiöser Fanatismus und die Raublust des Beduinen vereinigten, erledigte die Eroberung Babyloniens in kurzer Zeit (633–638) und unterwarf auch das übrige Persien sehr schnell (644–656). Dem byzantinischen Reich werden Syrien, Palästina, Ägypten und die Küste Nordafrikas entrissen. In wenig mehr als einem Jahrhundert entsteht ein Reich von derart riesenhaften Ausmaßen, daß es an seiner eigenen Größe in Teile zerbrechen mußte. Aber gerade diese Ausdehnung der islamischen Herrschaft bringt zugleich einen gewaltigen Teil der jüdischen Diaspora unter dem Zeichen gleicher politischer Oberhoheit miteinander in Kontakt. Wo der Islam eine Grenze überschreitet, fällt auch für den Juden eine Grenze. Diese Einbeziehung des Juden in das islamische Weltreich bekommt sehr reale Stützpunkte zugleich durch die wirtschaftliche Expansion des Orients. Der Islam verbindet Afrika und Asien mit der europäischen Welt. Es geht eine große und bedeutsame Handelsstraße von Basra über Bagdad nach Arabien, an das Rote Meer, über Suez, über die Häfen Ägyptens, Byzanz', Italiens, Spaniens bis in das fränkische Reich und weiter nach Osteuropa und in die slawischen Länder. 313 Überall auf diesen Wegen haben die Juden Stützpunkte und Kolonien. Sie ziehen als die wichtigsten Vertreter des Welthandels auf diesen Straßen hin und her.
Diese vermehrte Handelsbetätigung war nicht ganz freiwillig, sondern zum Teil eine Folge der islamischen Eroberung. Der Islam mußte in dem Augenblick, in dem er in die Welt hinaustrat, einsehen, daß das religiöse Gefüge der übrigen Menschheit schon zu dicht war, um ihr in ihrer Gesamtheit eine neue Glaubensform aufzwingen zu können. Vor den politischen Notwendigkeiten, die jede Eroberung mit sich bringt, trat denn auch das religiöse Moment immer wieder zurück. Man konnte eine Welt erobern; aber man konnte sie nicht bekehren. Das Beispiel der christlichen Welt, wo das Kreuz immer erst in Gefolgschaft des Schwertes auftrat, konnte dem Islam nicht dienen, weil er die internationale Hierarchie des Klerus nicht kannte. So mußte sich Omar darauf beschränken, wenigstens das eigentliche Arabien zu einem rein muselmanischen Lande zu machen, indem er die Christen zum Aufgehen in dem Islam veranlaßte und den Rest der Juden durch Ausweisung und Verpflanzung nach Syrien beseitigte. Im übrigen baute er die muselmanische Gesetzgebung auf dem Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen Moslems und den Bekennern eines andern Glaubens auf. Den Ungläubigen ließ der Islam – im Gegensatz zum Christentum –- völlige wirtschaftliche Freiheit und autonome Selbstverwaltung, aber er brachte die Unterscheidung zwischen dem wahren und dem falschen Glauben und zugleich die Tatsache der Unterwerfung durch eine exzessiv hohe Besteuerung zum Ausdruck. Für manche Kalifen erschöpfte sich der Sinn ihres Regiments in der Ausarbeitung genauer Vorschriften und Gebote, um alle steuerpflichtigen Personen und Vermögen zu erfassen.
Ein großer Teil der jüdischen Landwirtschaft in Babylonien konnte die Bodensteuer nicht aufbringen. Sie und auch andere, die mit ihrem bisherigen Beruf nicht die nötigen Beträge 314 für die Kopfsteuer erarbeiten konnten, gingen aus diesem Grund zum Handel über. Aber auf den gleichen Straßen zogen auch diejenigen, die vor dem wirtschaftlichen Druck und den Kriegswirren überhaupt auswichen und nach Europa auswanderten. So setzt also mit dem Zug des Islam zugleich der Zug des Judentums ein. Die jüdische Welt, die sich für eine Zeitlang gesetzt hatte, kommt von neuem in Bewegung; und es handelt sich hier nicht nur um die nackte Ortsveränderung, um die geographische Bewegung, sondern überhaupt um eine neue Bewegtheit, um das Wiedererwachen der dynamischen Kräfte, um das Einbrechen lebendigen Orients in den Zaun, den das babylonische Judentum um sich und die von ihm beherrschte Welt errichtet hatte.
In der Sinnfolge der jüdischen Geschichte war Babylonien nach dem doppelten Choc des staatlichen Zusammenbruches und des vehementen Angriffs des Christentums auf die jüdische Heimat das Refugium, in dem die Widerstandskräfte ausgebildet werden konnten. Das geschah mit starker geistiger Produktivität in der Schaffung des Talmud; das wurde – schon ohne jedes Schöpfertum, schon mit den Funktionen einer religiösen Bürokratie – fortgesetzt durch die Ausdehnung des Talmud und seiner Gültigkeit über die jüdische Welt. Damit war aber die jüdische Geistigkeit an der Grenze angelangt, an der sie ihren eigenen Sinn: Dienst an der Theokratie, in das Gegenteil verkehren und Dienst an sich selber, Dienst am Gesetz um des Gesetzes willen werden mußte. Es stellte sich heraus, daß Talmud und Judentum nicht identisch waren, daß der Talmud nur eine der geistigen Möglichkeiten des Judentums kodifizierte und daß er wohl ein Führer der Lebenshaltung, aber nicht ein Führer der Lebensanschauung sein konnte.
Das war auch weder seine Aufgabe noch seine Absicht. Er regulierte das Tun, nicht das Glauben. Er kannte Vorschriften, aber keine Dogmen. Er befriedigte jede religiöse und rituelle Skrupulosität, aber nicht die untergründigen Bedürfnisse des 315 Herzens. Er ließ die Kluft zwischen Religion und Religiosität unberührt. Die Opposition des Herzens gegen das Gesetz mußte eintreten schon als Prüfstein dafür, ob die religiöse Kraft des Judentums noch intakt war.
Sie hatte es nicht leicht, sich zu behaupten. Was damals für die Judenheit in Babylonien repräsentativ auftrat, lag entweder auf dem Gebiete der Weltlichkeit oder auf dem der geistigen Systematisierung. Die Institution der Exilarchen, die sich von der islamischen Eroberung an Nassi, Fürst, nennen, bekommt eine gesteigerte Bedeutung. Sie wird die offizielle Vertretung der jüdischen Bevölkerung gegenüber dem Kalifen. Der Nassi ist Vasall des Kalifen, und je mächtiger und glanzvoller der Vasall ist, desto ehrenvoller für den Kalifen, dem er untersteht. Die Kalifen waren also aus Gründen der eigenen Reputation daran interessiert, die Macht und das Ansehen der Exilarchen zu heben. Sie verweltlichten sie aber vollends dadurch, daß sie dieses Amt käuflich machten und damit die Amtsträger veranlaßten, die Kosten durch Besteuerung der jüdischen Gemeinden wieder einzubringen.
In gleicher Weise brachte die Stärkung der autonomen Verwaltung die Akademienvorsteher zu vermehrter Geltung. Die Akademien von Sura und Pumbadita, deren Leiter sich Gaonim nannten, übten die gleichen Funktionen aus wie das frühere Synhedrion. Von ihrer Sanktion war der Nassi abhängig, und ihre Autorität mußte bei der Ähnlichkeit der weltlichen und religiösen Gesetze des Judentums immer wieder mit der des Exilarchen zusammenstoßen. Wenn sich auch beide Institutionen, das Exilarchat und das Gaonat, ihrer Aufgabe für das Volk bewußt blieben, so waren sie doch letzten Endes nur Funktionäre der Verwaltung, oberste Beamte eines fiktiven Staates. Die eine war abhängig von der politischen Konstellation, die andere von der religiösen Entwicklung. Darum ging das Exilarchat zusammen mit dem Kalifat unter, während das Gaonat seinen eigenen Zweck nicht überleben konnte. 316
Jedes Gesetz unterliegt eines Tages der Frage nach seiner Legitimation; auch das jüdische Gesetz. Aber diejenigen, die jetzt unter dem Überwuchern talmudischer Vorschriften vom unbedingten Gehorsam zur Fragestellung übergingen, lehnten sich nicht dagegen auf, daß das Gesetz streng war und sie unterjochte; ihr Zweifel ging vielmehr dahin, ob das Gesetz, wie es heute über ihnen stand, wirklich das war, als was es die Gelehrten und Gesetzgeber ausgaben: als die Fortsetzung einer Tradition, die in der Kette der Überlieferungen bis auf den frühesten Ursprung, bis auf Mosche, zurückzuführen sei. Also nicht der Zwang beunruhigte sie, sondern die Frage nach der Heiligkeit des Zwanges. Die Bibel war ihnen die offenbarte Satzung. Es gab nichts außer der Bibel, es sei denn, es lasse sich ohne weiteres aus ihr ableiten.
Überall da, wo auf diese Weise Gesetze in Frage gestellt werden, geschieht es, weil neben der Anerkennung des notwendigen Zweckes sich ein stärkeres Gefühl erhebt: die Frage nach dem Objekt des Gesetzes, dem Menschen. Das Gesetz mag gut sein; die Frage ist, ob es dem Menschen dient. Und diese Frage wieder nach der Dienlichkeit für den Menschen wird von daher angeregt, von wo überhaupt die Frage nach gut oder ungut angeregt wird: von der Religion, vom Faktum Glauben her.
Die Welt des Glaubens lag – streng genommen – außerhalb des Talmud. Der Glaube ging seine eigenen Wege. Während gerade der Talmud seine Wirksamkeit, seine Potenz zur Erhaltung und fast Verewigung der Diaspora entfaltete, brach der ewig bereite Wille des Volkes zur Beendigung der Diaspora in verschiedene messianische Bewegungen aus. Rom und Arabien waren ihnen nicht nur politische, sondern auch apokalyptische Begriffe. Rom war das Edom, Arabien war der Ismael der Bibel. Edom wurde jetzt von Ismael abgelöst. Zwar sollte nach vielen Verheißungen Rom durch Judäa abgelöst werden, aber auch das Zwischenreich konnte der Erfüllung dienen und das Ende der Zeiten, das heißt: die Wiedererrichtung der 317 Theokratie in der alten Heimat und ihre Ausbreitung über die Welt, bringen.
Abu-Isa, ein Jude aus Ispahan, erklärt sich für den Vorläufer des Messias und sammelt Gruppen, mit denen er einen Aufstand gegen das Kalifat versucht (Ende des VII. Jahrhunderts). Seine Erbschaft ist eine Sekte, die sich als Isawiten in Resten bis zum X. Jahrhundert in Damaskus erhält. Fast gleichzeitig, im Beginn des 8. Jahrhunderts, ruft sich in Syrien Zonarias als Messias aus und proklamiert die Wiedereroberung Jerusalems. Selbst aus Spanien wandern ihm Juden zu. Nach einigen Jahren verfällt die Bewegung.
Wenn dieses offenbare messianische Bewegungen sind, so stellen die weiteren Vorgänge dieser Zeit latente oder verkappte messianische Bewegungen dar. Das gilt insbesondere von den Sektenbildungen, denen allen gemeinsam ist, daß sie durch das Herausstellen irgendeines Extrems ihrem Ziel, der religiösen Erfüllung, näherkommen wollen. Das gilt von den Isawiten wie von der Sekte eines der Jünger Abu-Isas, den Judghaniten und den wiederum von ihnen abgeleiteten Al-Muschkania. Das, was man in der Geschichte gewöhnlich die Sekte der Karäer nennt, ist ursprünglich nicht Sekte gewesen, sondern Vertretung dessen, wovon bis jetzt gesprochen wurde: die Gläubigkeit in Opposition zum Gesetz aus dem Zweifel an seiner religiösen Legitimation; latenter Messianismus; zugleich ein Beleg dafür, daß Antitalmudismus und Messianismus wesensverwandte Begriffe sind. Die auslösende Gebärde zu dieser Bewegung geht von Anan ben David aus, der um die Mitte des 8. Jahrhunderts vergeblich um die vakant gewordene Würde eines Exilarchen kandidierte. Er galt denen, die seine Wahl ablehnten, schon vorher als ketzerischer Ansichten verdächtig. Nach diesem Mißerfolg geht er offen in Opposition gegen die Siegelbewahrer des talmudischen Gedankens. In seiner Idee, alle »mündlichen Überlieferungen« als unverbürgt abzulehnen und die Gestaltung des Lebens durch das Gesetz wieder der 318 lebendigen Quelle zu nähern, der allein sie entsprang: der Bibel, steckt der Beginn einer reformatorischen Bewegung. Aus dieser Tendenz her fand er auch seine große Anhängerschaft. Die Ananiten stellten eine Volksbewegung dar, nicht eine Sekte. Und sofort bricht auch aus dieser Volksbewegung wieder die messianische Idee durch. Die Sehnsucht nach Zion, die vor 1200 Jahren im gleichen Lande das Judentum erschütterte, lebt wieder auf. In strenger Askese, in verschärften Reinheitsgesetzen und gläubiger Lebensführung sehen sie die Vorbedingungen für das Heranbringen der Erfüllungszeit. Ihre Opposition gegen den Talmud und ihre Hinwendung zur Bibel war nicht Selbstzweck. Sie erstrebten die Heimkehr zur Bibel vor der Heimkehr nach Jerusalem. Viele zogen daraus die Konsequenzen und wanderten nach Palästina aus. Sie bezeugen als die ersten ein Gesetz der Judenheit in der Zerstreuung: überall, wo das Judentum seine religiösen Impulse vermehrt, erhebt sich der messianische Gedanke. Jüdischer Glaube und Messianität sind nicht mehr voneinander zu trennen.
Wie konnte es nun geschehen, daß eine Bewegung mit einem so richtigen Kern und einer so bedeutsamen Zielsetzung nicht eine erfüllende Kraft aus sich entließ, sondern eines Tages als isolierte Partei dastand und – wenn auch nach einem zähen und jahrhundertelangen Kampfe – ihr Leben als Sekte beschließen mußte? Das mußte geschehen, weil sich im Religiösen als der edelsten Form des Lebens alles unorganische Beginnen noch schwerer rächt als in anderen Erscheinungsformen des Lebens. Organisch, sogar logisch war ihre rückwärtige Tendenz zum Ursprung des Glaubens; aber die Methode war unorganisch, und sie wurde ihr Untergang. Schon der Kernsatz, in dem Anan ben David sein Wollen und seine Zielsetzung zusammenfaßt, enthält das Wahre und das Verfängliche: »Forscht sorgsam in der Heiligen Schrift!« Seine Nachfolger forschten in der Bibel, und sie forschten bald nicht anders, als es die Talmudisten taten. Es entsteht eine ganze Reihe ritueller 319 Änderungen und Neuerungen, und sie sind fast alle eine wesentliche Erschwerung der bisherigen Gesetze. Der Sabbat erfuhr eine Belastung mit Vorschriften, die ihn zu einer Tortur mehr als einem Feiertag machten. Das Verbot der Verwandtschaftsehe wird erweitert, die Zahl der Fasttage vermehrt, die Kalenderberechnung durch Rückkehr zur alten Methode erschwert, die rituelle Reinheit verschärft: alles mit der Begründung aus der Bibel her; alles mit der unausweichlichen Richtung auf die Herausbildung eines neuen Talmud. Selbst die letzte mögliche Quelle religiöser Produktivität, die Poesie, wird aus dem Gottesdienst der Ananiten verdrängt. So nehmen sie sich jede Möglichkeit der geistigen Auflösung. Die Opposition, von der sie ausgingen, überrennt sie und fesselt sie mit den Stricken der Opposition. Sie gelangten gar nicht wirklich bis zur Bibel. Sie wurden schon auf halbem Wege Talmudisten. Sie waren zur Sekte verurteilt, als sie darangingen, nicht nur den Anteil der Seele am religiösen Leben zu erhöhen, sondern das durch die Tradition Gegebene rückwärtszudrehen und an einem ihnen genehmen Punkte anzuknüpfen. Sie beweisen damit, daß das Formale das Kriterium und der Tod der Sekte zugleich ist. So entglitt ein Teil des Volkes dem verpflichtenden Anspruch des Talmud durch einen andern Talmud. Aber ein nicht minder großer Teil entglitt ihm, nicht weil er die Gesetze nicht respektierte, sondern weil er sich ein religiöses Eigenleben, einen privaten Bezirk der Gläubigkeit geschaffen hatte, der so weit in die Mystik und in die Theosophie, in die plumpe Anthropomorphisierung Gottes, in Geheimlehren, Wunderkuren, Glauben an Geheimmittel und Talismane, kurz: in jede Form eines profunden Aberglaubens abirrte, daß ein Leben in solchem Umkreis schon einer Verneinung des Gesetzes samt ihrer Grundlage, der Bibel, gleichkam.
Die Ananiten, die sich später die »Bibeltreuen«, Karäer, nannten, finden weithin in der jüdischen Welt Anhänger. Im 10. Jahrhundert reicht ihre Gemeinde von Persien bis Spanien. 320 Aber sie gedeihen weder zu einer einheitlichen Wirkung noch zu einer klaren Idee. Sie werden vom offiziellen Judentum streng ferngehalten. Dennoch bleiben sie nicht ohne Einfluß. Sie haben mit ihren Angriffen die Frage nach dem Sinn des Gesetzes, nach seinem Gehalt an Sinn erhoben, und sie ist für lange Zeiten nicht wieder verstummt. Diese Frage wurde zu einer Zeit erhoben, als neben dem Judentum und in seiner nachbarlichen Reichweite ähnliche Fragen gestellt und umkämpft wurden: vom Islam her, der jetzt überall auf den Stationen seiner Eroberungen die Stationen seiner Entwicklung nachholen mußte. Mohammed konnte den Islam propagieren, aber nicht gestalten. Die gestaltenden Kräfte wuchsen erst im 8. und 9. Jahrhundert, und sie erst enthüllen in der unverbrauchten Kraft des arabischen Semitentums bedeutende kulturelle Energien. Die politischen, geistigen und religiösen Auseinandersetzungen der islamischen Welt spielen sich in Babylonien in spürbarer Nähe der jüdischen Welt ab. Die scharfe Trennung zwischen Gläubigen und Ungläubigen blieb, von wenigen reaktionären Kalifen abgesehen, Wunschtraum muselmanischer Priester. In Wirklichkeit vollzog sich die Begegnung zwischen Juden und Arabern mit dem größten Nutzen für beide. Die Juden nehmen die allgemeine Auflockerung, die der Vorstoß des Islam dem Orient verschaffte, mit solcher Intensität auf, daß ihr geistiger Umkreis wieder in die Welt der allgemeinen Kulturgüter hinübergreift; und bald sind sie es, die dem Islam die bislang so furchtsam gemiedene »griechische Weisheit« vermitteln können. Sie tun es sogar in arabischer Sprache, die das Aramäische völlig zurückdrängt. Vom 9. bis in das 12. Jahrhundert kann so eine hebräisch-arabische Literatur entstehen, die in Spanien eine Höhe von besonderer Farbigkeit und Kraft erreichte.
Neben dem geographischen Wanderweg nehmen die Juden Babyloniens jetzt auch den geistigen Weg auf, der vom orientalischen Islam her in die Welt weist. Ganz ähnlich der 321 jüdisch-hellenischen Kultur entsteht eine jüdisch-arabische Kultur. Dort wie hier erschließen sich Gebiete des Wissens und der Forschung, die der konservative Teil des Volkes aus Furcht vor jeder übermäßigen Angleichung perhorreszierte. Gleichsam als Reaktion auf die unfruchtbare geistige Spekulation wird überall die Naturwissenschaft studiert. Juden übersetzen nicht nur Aristoteles und Plato und Ptolemäus ins Arabische, sondern auch die griechischen Mathematiker und Naturforscher. Es entstehen auch unter ihnen selbst bedeutende Mathematiker und Mediziner, von denen einer, Isaak Israeli aus Kairuwan, als einer der Schöpfer der mittelalterlichen Medizin gilt. Und wie sich die hellenistischen Juden dem Christentum annäherten, so die Juden der islamischen Geisteswelt – mangels eines bestimmten angleichungswerten Objektes – an das Wissenschaftliche, Freigeistige überhaupt. So haben wir schon hier die Ansätze zu dem späteren Kulturkampfe des 13. und 14. Jahrhunderts vor uns: hie aufgeklärte Rationalisten, hie Mystiker aller Schattierungen bis zum wüsten Aberglauben.
Wenn aber in einem Volke solche extremen Spaltungen eintreten, wenn das religiöse Bewußtsein sich entweder jeder Bürde entlädt oder jede erdenkliche seelische Knechtung auf sich nimmt, dann ist immer von der schöpferischen Mitte her ein Gleichgewicht gestört; dann ist immer im religiösen Ablauf eines Volkes etwas versehen und gefehlt worden. Um auf die Frage des Glaubens nur noch impulsiv und spontan, nur noch aus der schlichten Nähe eines Naturkindes reagieren zu können, war das Judentum längst nicht mehr jung genug. Um alle Gläubigkeit nach Schemen und Normen zu erledigen, war es noch nicht alt genug. Es brauchte diejenige geistige Kraft, die dem Herzen und dem Verstand Genüge tat, und zwar beiden im Hinblick auf ihr Gemeinsames: den Glauben. Der Talmud war eine Erhaltungsmöglichkeit, aber keine Erfüllungsmöglichkeit. Wenn er sich das Ziel gesteckt hatte, einem Volk die Sinngebung zu bringen, so war er schon jetzt gescheitert. Es mußte 322 also zu einem neuen Realisationsversuch der jüdischen Idee geschritten werden, und zwar, nach dem oben Gesagten, aus der Ebene des Geistes, der geistigen Begründung her. Auch das Christentum hatte sich um eine geistige Begründung von allem Anfang an bemüht. Der Islam stak mitten in dem Kampf um seine geistige Motivierung. Jetzt unternimmt das Judentum das gleiche.
Die Gestalt, in der ein solches Bemühen den sichtbaren Ausdruck gefunden hat, ist Saadia ben Joseph aus Fajum in Oberägypten (882–942), ein Geist von enzyklopädischer und universeller Weite, der schon mit 20 Jahren die Übertragung der biblischen Schriften ins Arabische beginnen konnte. Das frühe Ansehen, das er genoß, verschaffte ihm bald einen Ruf nach Babylonien. Hier gerät er in Konflikt mit dem herrschenden Exilarchen und wird in den Bann getan. Aber diese erzwungene Zeit der Zurückgezogenheit und seine Beobachtung der geistigen Kämpfe lassen ihn zu einer bedeutenden literarischen Produktion reifen. Er wird, insbesondere mit seinem Traktat Emunoth we' deoth, Glaubenslehren und Beweisführungen, ein neuer Orientierungspunkt für den jüdischen Geist. Was die Rationalisten des Islam, die Mutaziliten, ausgesprochen hatten (die Willensfreiheit als Grundlage der religiösen Ethik), was Philo an Synthese zwischen Judentum und Philosophie zu geben versucht hatte und was aus den Lehren des Aristoteles und des Plato sich in sein monotheistisches Weltbild fügen wollte, schuf er zu einem System zusammen, mit dem er den Zweck verfolgte, Rationalisten wie Mystikern den mittleren Weg zu weisen, Talmud und religiöses Bedürfnis zu versöhnen, die einen nicht an der Vernunft und die anderen nicht am Glauben scheitern zu lassen. Er begründet: »Ich sah, wie die einen im Meer des Zweifels untergehen, während die anderen im Abgrund des Irrtums versinken.« Er gibt ihnen beiden ein System als Richtungspunkt, ein philosophisches Lehrgebäude. Es hat Grundsätze, aber auch keine Dogmatik. Er stellt in den Anfang 323 die Schöpfung aus dem Nichts durch den Entschluß eines Gottes, der absolut und einzig ist. Die Krone der Schöpfung ist der Mensch, denn er allein hat eine Seele und damit das Vermögen, Gut von Böse zu unterscheiden, nach freiem Willen sündig oder rein zu sein. Das Gesetz ist dem Menschen als Offenbarung gegeben, damit er sich ein Maß verschaffe, das er in sich nicht besitzt. Aber die sittliche Entscheidung bleibt doch bei ihm. Die Sünde wird erst von ihm geschaffen, je nach seinem Verhalten. Sie ist nicht von Anfang an in der Welt. Darum ist sein Geschick nicht gebunden, sondern er bereitet es sich zur Verdunkelung seiner Seele mit schlechten und zur Läuterung seiner Seele mit guten Taten. Erst das Jenseits gleicht das Für und das Wider aus. Es wird eingeleitet durch den Tod, der das Leben nicht abschließt, sondern der nur überleitet zu einem neuen Schicksalsweg der Seele.
Mit der Fixierung und Systematisierung solcher Ideen öffnet Saadia der jüdischen Welt von neuem den Durchbruch in die Freiheit des Denkens. Von Saadia an darf man um den Talmud kämpfen und um das Gebiet der religiösen Dogmen. Er gab der Zeit zu ihrem Abschluß eine Möglichkeit. Zu einer Vollendung konnte die babylonische Epoche nicht gedeihen. Sie stellt eine Etappe dar, die zwei Gegensätze begrenzen und einschließen: das Gesetz und das Herz, die Halacha und die Haggada. Schon da stehen sie einander gegenüber und sind doch beide aus einer Quelle und füreinander bestimmt. Eines haben sie in aller Ewigkeit gemeinsam: das Sichbemühen um Gott.