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Der Impuls, der aus den entfesselten Kräften des semitischen Arabertums über Syrien, Palästina und Ägypten nach Nordafrika einbricht, empfängt dort einen erneuten Anstoß durch die eingesessenen Völkerschaften, insbesondere die Berber, und durch die Juden, die vor den königlichen und klerikalen Barbaren des westgotischen sowohl wie des byzantinischen Reiches dorthin geflohen waren. Die Berber verhelfen dem arabischen Expansionsdrang zum Hinübergreifen nach Spanien. Die Juden stärken dieses Unternehmen militärisch und finanziell. 711 dringen die Berber unter Tarik über die Meerenge und besetzen Andalusien. Während die Juden im Lande Wach- und Besatzungstruppen stellen, vollendet Musa (712) die Eroberung von Süd- und Mittelspanien.
Die eroberten Gebiete gelten als afrikanische Provinz des Omajadenkalifats. Der Charakter dieser Invasion als eines reinen Eroberungszuges drückt den Verhältnissen der nächsten Jahrzehnte seinen Stempel auf. Juden und Christen werden im gleichen Umfange von den Eroberern ausgebeutet, die zudem in vielen kleinen Gruppen miteinander in Streit liegen. Aber schon unter dem Omajaden Abdurrahman klären sich die Verhältnisse. Er ruft sich (756) zum unabhängigen Emir von Spanien aus. Es beginnt der Übergang des eroberungssüchtigen Nomadentums zur Ordnung und Seßhaftigkeit. Das Land erhält eine Verwaltung, die, soweit die Andersgläubigen in Betracht kommen, zwar auf ihrer Duldung, aber doch auf ihrer Sonderbesteuerung aufgebaut ist. Das Problem der verschiedenen Religionen erfuhr durch den massenweisen Übertritt von Christen zum Islam eine Vereinfachung. Die Motive waren Steuerersparnis, die Möglichkeit, zu Staatsämtern zugelassen zu werden, und endlich ein wirtschaftlicher Grund. In Umkehrung des gegen die Juden gerichteten christlichen Gesetzes war ein arabisches Gesetz ergangen, daß jeder Sklave eines 338 Christen, der zum Islam übertrat, freigelassen werden müsse. So zogen die Christen es vor, Muselmanen zu werden, und es entstand eine ganze Bevölkerungsschicht christlicher Renegaten, die sich, um ihre besondere Rechtgläubigkeit zu betonen, bei den Aufständen der klerikalen muselmanischen Partei gegen die Regierung immer zur Orthodoxie hielten. Wirtschaftlich, politisch und kulturell spielen die Christen fortan keine Rolle, was für die Ausgestaltung des jüdischen Kulturlebens von größter Bedeutung ist.
Die Juden ertrugen das Los eroberter Völker, aber nicht mehr. Sie konnten sich langsam von den Angriffen des christlichen Westgotenreiches erholen. Als Abdurrahman III. sich zum Kalifen ausrief (929) und seinem Lande den Rang eines europäischen Großstaates gab, war die innere Konsolidierung der Juden bereits so weit vorgeschritten, daß sie an einen produktiven Ausbau ihrer Existenz gehen konnten. Man ließ ihnen dafür im arabischen Spanien zwei Jahrhunderte Zeit und Luftraum. Sie haben sie voll ausgenutzt. Wenn die Leistungen dieses Zeitraumes von einem Volke hervorgebracht worden wären, das einen anderen Namen als den von Juden getragen hätte, so wäre ihnen in der Kulturgeschichte der Welt ein markanter Platz eingeräumt worden.
Man hat die geistigen Bemühungen der spanischen Epoche eine jüdische Renaissance genannt. Das ist ungenau. Hier wird nicht wiederholt und nachgeahmt und nichts Vergangenes zum Vorbild genommen. Hier wird vielmehr von einem Volke der Versuch gemacht, seine Totalität aus eigener Gesetzmäßigkeit zu leben. Unter Totalität muß hier wirklich jede Funktion verstanden werden, die ein Volkskörper nur aus sich entlassen kann: Organisation der Volksgemeinschaft, Wirtschaft, Religion, Kunst, Philosophie. Alle diese Gebiete werden mit einem unerhörten élan vital angegriffen und gestaltet. Sie finden eine Resonanz von ungewöhnlicher Weite. Die Befreiung der spanischen Juden vom westgotischen Christentum wirkt sich 339 sofort für die Juden der ganzen Welt aus. Alles, was auf dem Wege des arabischen Riesenreiches liegt, alles, was es an Juden zwischen Bagdad und Cordova gibt, ist jetzt wieder miteinander in Kontakt gebracht. Die Einheit des jüdischen Weltbestandes, der mangels eines eigenen Landes immer von der politischen Weltlage abhängig blieb, wird in einem erheblichen Umfange wiederhergestellt. Dieses Weltjudentum hat immer die Tendenz, die verlorene staatliche Gemeinschaft durch eine fiktive zu ersetzen, hat folglich immer das Bestreben, sich nach einem gemeinsamen Zentrum hin zu orientieren. Die erzwungene Beweglichkeit führt zur Ausbildung eines beweglichen Zentrums. Sie akzeptieren es immer da, wo die geistige Auslese sitzt; nie da, wo die wirtschaftliche oder politische Macht sitzt. (Nur praktisch war es so, daß wirtschaftliche und politische Freiheit den Juden auch immer geistige Möglichkeiten gegeben hat.) Sie akzeptieren es jetzt in Spanien. Sie verlegen die nationale Hegemonie vom Osten nach dem Westen. Wie einst Babylonien sich rechtzeitig zur Ablösung Palästinas auftat, so tut sich jetzt Spanien rechtzeitig zur Ablösung Babyloniens auf. Denn Babylonien hatte als Zentrum der Judenheit keine Lebensmöglichkeit mehr. Alles, was dort hatte geschehen können, war geschehen: es war die Fesselung geschaffen worden, in die das Individuum sich begeben konnte, wenn es von der Umwelt nicht verschlungen werden wollte: der Talmud. Es war aber zugleich – als Ergebnis der messianischen Zuckungen, der Karäerbewegung und der Philosophie eines Saadia – der Weg gezeigt worden, auf dem diese Fesselung nicht nur unschädlich, sondern sogar produktiv werden konnte. Babylonien hatte das Judentum so weit vorbereitet, daß es jetzt erneut in die Welt eintreten konnte. Allerdings kam ihm dafür ein Stück Orient, ein Stück heimatlicher Atmosphäre in Gestalt des Arabertums zur Hilfe. Es muß immer wieder betont werden, daß solche Chancen, solche Existenzmöglichkeiten dem Judentum vom Christentum niemals geboten worden sind. (Dieses Gesetz 340 erfährt nur eine Ausnahme für die wenigen Fälle, in denen sich das Christentum jenseits dogmatischer Bindungen auf das rein Menschliche und Geistige beschränkte.)
Dieses neue Zentrum bekommt notwendig ein ganz anderes Gesicht als alle früheren. Nur in einer ganz äußerlichen und formalen Ähnlichkeit wiederholen sich die alten babylonischen Institutionen des Exilarchats und des Gaonats. Da ist der Arzt Chasdai ibn Schaprut (910–970), der politische Berater und Außenminister Abdurrahmans III. und Hakims II., den die Juden seines Einflusses und seiner persönlichen Qualitäten wegen mit Nassi, Fürst, anreden. Da ist ferner die von ihm in Cordova angeregte Akademie, die jüdische Gelehrte aus der ganzen Welt zu sich heranzieht und in der man gerne das Gaonat verkörpert sah. Aber beider Position und Bedeutung beruht nicht mehr auf der offiziellen Anerkennung seitens der Regierung als Repräsentanten, sondern auf dem Entschluß der Judenheit, hier ihre Repräsentanten zu sehen. Auch die Inhalte dieser Ämter mußten notwendig andere werden. Zwar trieb man in der Akademie zu Cordova noch eifrig und eingehend das Studium des Talmud, und es ist wohl in Spanien kein jüdischer Dichter oder Philosoph oder Wissenschaftler entstanden, der nicht in seiner Jugend durch die Schule des Talmud gegangen wäre. Aber der Talmud hat für die geistige Atmosphäre, die da entsteht, längst nicht mehr diese überragende Bedeutung. Er ist nicht mehr Selbstzweck, sondern ein Stück ihres geistigen Bestandes. Sie wollen sich ihm nicht mehr ausliefern, sondern wollen ihn verwenden; und nur zu diesem Zwecke gehen sie daran, ihn übersichtlicher, faßbarer, geordneter zu machen.
Das sind in der Tat die beiden Grundtendenzen, denen das jüdische Leben dieser spanischen Epoche untersteht: Ordnung und Gestaltung. Ordnung, um den geistigen Bestand, die geistige Erbschaft, die geistigen Möglichkeiten übersehbar und verfügbar zu haben; und Gestaltung, um aus dieser Übersicht her die Welt hell, freudig und menschenwürdig zu machen. 341 Darin ist schon zugleich Ausgangspunkt und Ziel dieses geistigen Lebens enthalten: Ausgangspunkt ist das Nationale, Endziel ist die Welt, die Menschheit, das Universale. Nimmt man hinzu, daß das verhältnismäßig ungestörte Leben sie auch wirtschaftlich ungemein förderte (schon aus dem schlichten Grunde, weil sie – hier wie überall – der wirtschaftlichen Entwicklung der Umgebung um einen, um den entscheidenden Schritt voraus waren), so wird begreiflich, daß sie ein ungewöhnliches Niveau auf jedem Gebiet erreichten. Es gab bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts in der Welt, die damals Geschichte machte, überhaupt nur zwei produktive Kulturvölker: die Araber und die Juden.
Grundlage der Gestaltung wird diejenige Form der Bildung, die man im Rahmen allgemeiner Kulturgeschichte als Humanismus bezeichnet. Nur setzt sie bei den Juden Spaniens vier Jahrhunderte früher ein als in Italien. Schon im 9. und 10. Jahrhundert wird diese Bewegung lebendig. Ein starkes Bedürfnis nach Wissen und Erkenntnis und Orientierung macht sich überall spürbar. Sie verankern dieses Wissen sehr gründlich nach rückwärts, in dem Element, das ihnen zum Ausdruck dient: der Sprache. Es entsteht eine Grammatik, es entstehen analytische Wörterbücher, es wird die Struktur der hebräischen Sprache erforscht und erkannt, es wird ihre Form, ihr Ausdrucksgehalt lebendig gemacht und umkämpft. Schlechtes Hebräischsprechen oder -schreiben entfesselt bald den bittersten Hohn und den galligsten Spott. Das Wissen um die hebräische Sprache wird eine Wissenschaft, ihre Anwendung eine hohe Kunst, sie selbst ein Ausdrucks- und Gestaltungsmittel von vollendeter klassischer Schönheit.
Mit der Sprache als Element können sie es auch wagen, ihre letzte rückwärtige Verankerung, die Bibel, neu zu lesen und das aus der Sprachform oder aus fehlerhafter Überlieferung Dunkle aufzuhellen und für das Verständnis aufzuschließen. So entstehen schon zu Beginn des 12. Jahrhunderts die ersten 342 regulären Bibelkommentare. Das setzt ein intensives Interesse für die Bibel voraus. Solche vermehrte Beschäftigung mit der Bibel bedeutet aber in der jüdischen Zerstreuung fast immer, daß zugleich die Beschäftigung mit dem Talmud zurücktritt, ja daß darin sogar eine stille (oft auch sehr betonte) Opposition gegen den Talmud liegt. Hier in Spanien bekommt der Talmud sein Gegengewicht vom Herzen her. Den starren, verpflichtenden, unbiegsamen Riten des Talmud wird gegenüber gestellt, was der Mensch in den ewig wechselnden Situationen des Lebens sich von innen, vom Herzen her, diktieren lassen muß. Herz gegen Talmud, Steigerung der inneren Religiosität: das ist der Sinn des volkstümlichen Buches »Herzenspflichten«, das Bachja ibn Pakuda Anfang des 11. Jahrhunderts verfaßt.
Das Übergewicht des Talmud erfuhr auch schon dadurch eine Beschränkung, daß das Ordnungsbestreben sich auch dieses gewaltigen Stoffes bemächtigte und ihn unter Ausschaltung alles Unwesentlichen und Verwirrenden systematisch bearbeitete und darstellte. (»Der kleine Talmud« von Isaak Alfarsi, 1013–1103.) Alles drei zusammen: Sprachforschung, Systematisierung des Stoffes und die Verweisung des Talmud auf seinen eigentlichen Bezirk konnten erst diejenige schöpferische religiöse Tendenz frei machen, die schließlich auch dem Talmud selbst zugrunde liegt. Was unter anderen Lebensbedingungen Haggada werden und Midrasch bleiben mußte, konnte hier Dichtung und Philosophie werden. Damit sind zugleich die wirklichen Kräfte von Haggada und Midrasch enthüllt.
Solche systematische Fundierung der ererbten Geisteswelt mußte natürlich das Niveau der allgemeinen Bildung ganz beträchtlich heben. Es gab kein Gebiet des damaligen Wissens, das nicht bearbeitet und beherrscht wurde: Medizin, Naturwissenschaft, Mathematik, Astronomie, Sprachforschung, Literatur, Poesie, Moral- und Religionsphilosophie. Es gibt nur ein Gebiet, das die spanischen Juden nicht bearbeitet haben: Historie; nicht einmal ihre eigene. Das hat seinen tiefen Sinn und 343 einen ganz anderen Grund als den, aus dem heraus die Juden in der babylonischen Zeit keine Geschichte getrieben haben: sie waren noch genügend geistig verankert; sie hatten keine Neugier nach rückwärts; sie suchten Anschluß an den Weltgeist und an die Weltseele; sie durchforschen und durchdenken und durchdichten die Welt nach ihren zukünftigen Möglichkeiten; sie hören erst da zu schaffen auf, wo die Spannweite ihrer Erkenntnis aufhört. Und diese Spannweite war ungewöhnlich groß.
Philo im hellenischen Alexandrien und Saadia im talmudischen Babylonien waren zwar jeder der präzise Ausdruck von Zeit und Ort ihres Wirkens, aber sie waren doch vereinzelte Erscheinungen. In der spanischen Epoche dagegen werden die philosophischen Gestalter so zahlreich, daß man in Versuchung gerät, eine Geschichte der jüdischen Philosophie statt einer Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben. Da diese Philosophie aus einer ungewöhnlichen Lebensfülle erwächst, ist mehr oder minder jeder Gebildete ein Philosoph und jeder Philosoph darüber hinaus noch auf einem anderen Gebiete schöpferisch oder doch tätig. Schon der erwähnte Außenminister Chasdai ibn Schaprut ist ein Mann mit gründlicher philosophischer Durchbildung, und da sein Amt ihm zur produktiven Tätigkeit keine Zeit läßt, verwendet er wenigstens sein beträchtliches Vermögen zu einem großzügigen Mäzenatentum.
Ihm gleich als Staatsmann und Mäzen, nur wissenschaftlich und philosophisch noch tiefer geschult ist Samuel ha Nagid in Granada (982–1055). Er ist zugleich Dichter klassischer, wenn auch im Stile etwas mühsamer Werke. Er ist der erste jüdische Dichter Europas, der auch weltliche Motive in seine Dichtung einbezieht. In seiner Mischung von philosophischer Schulung und dichterischer Betätigung stellt er den Übergang dar zu denjenigen geistigen Größen, von denen man nur ungenau aussagen kann, ob sie überwiegend Dichter oder Philosophen oder beides im gleichen Maße gewesen seien. 344
Der erste dieser Reihe, in seiner Tiefe und Reichweite im 11. Jahrhundert völlig einsam, ist Salomon ibn Gabirol (etwa 1020–1070). Hier dichtet ein Mensch, der souverän über Form und Inhalt seines Dichtens verfügt, in aller Wirklichkeit das Ganze, das Gesamt seines Daseins: von der Not und Last seines privaten Geschickes bis zur gläubig-vertraulichen Zwiesprache mit Gott und bis zur metaphysischen Begründung der Welt. Mit stiller Resignation sagt er von sich: »Ich bin das Kind mit dem Herzen eines Achtzigjährigen; mein Leib wandelt auf der Erde, auf den Wolken schwebt mein Geist . . .«
Aber alles Unruhige und Zerrissene seiner privaten Existenz wird still und ausgeglichen, wenn er mit seinem Gott spricht oder seinen Gott mit seinem Volk sprechen läßt. »Gedulde dich noch eine Weile, du Erbarmungswürdige, bis ich meinen Boten hinaussende, daß er den Weg für mich bahne – dann will ich auf dem Berge Zion meinen König krönen.«
Ganz still und ausgeglichen wird er endlich da, wo es um seine Einbeziehung in den größten Zusammenhang, um sein Begreifen von Welt und All geht. Da stößt er bis zum »Quell des Lebens« vor, und diesen Titel trägt auch sein philosophisches Werk, in dem er vom höchsten, notwendigseienden Prinzip bis zur niedersten Kreatur die Stufenleiter einer ununterbrochenen Harmonie aufbaut. Makrokosmos und Mikrokosmos unterstehen dem gleichen Gesetz und der gleichen Kraft. »Die Kraft (des göttlichen Willens) reicht bis an den äußersten Saum der niedrigsten Kreatur.« Und wie das Göttliche Kraft aus sich entläßt, um alles, von der Urmaterie bis zum kleinsten Lebewesen, damit zu durchdringen, entläßt – hinauf gerichtet – das menschliche Leben den ewigen Drang zu Gott als dem »Quell des Lebens«. So ist auch da die Harmonie der Bewegung geschlossen.
Ibn Gabirol ist der erste beachtliche Philosoph des Mittelalters in Europa. Die christliche Scholastik hat ausgiebig aus seinem Werke geschöpft. Sie wußte nämlich nicht, daß der 345 Verfasser ein Jude sei. Albertus Magnus, Thomas von Aquino und Duns Scotus benützten das Werk »Fons vitae« von einem gewissen Avicebron. Das ist kein anderer als Ibn Gabirol.
An der Wende vom 11. bis zum 12. Jahrhundert steht dann eine ganze Schar von Dichtern und Philosophen. Sie haben in aller Verschiedenheit das Gemeinsame, daß sie in ihrem nationalen Herkommen wurzeln und von dort aus das Universale suchen; und während sie als Dichter, als mit dem Herzen Schaffende, das Hebräische bis zur letzten Feinheit meistern, schreiben sie als Philosophen, als mit dem Intellekt Schaffende, ein nicht minder klassisches Arabisch. So betonen sie auch mit dem wichtigen Medium des Ausdrucksmittels ihren Willen, ein Sondervolk und doch ein Weltvolk zu sein. So entläßt diese Epoche aus sich das Paradigma für die Stellung der Juden in der Welt.
Man hat die Leistungen dieser Denker – zu Unrecht – in eine innere Abhängigkeit gebracht von der gleichzeitigen arabischen Philosophie. In Wirklichkeit ist in beiden Völkern nur zur gleichen Zeit das gleiche Problem akut geworden. Jede Philosophie trägt einen Keim von Selbstherrlichkeit in sich, der traditionsfeindlich ist und somit eines Tages im Gegensatz zur Überlieferung, zur Religion stehen kann. Zwischen Bagdad und Spanien, zwischen den Orthodoxen und den Rationalisten unter den Arabern entstand im 12. Jahrhundert der Meinungskampf, ob der Glaube der Vernunft oder die Vernunft dem Glauben unterzuordnen sei. Für das Judentum war dieses Problem als eine Frage der Entwicklung fällig. Glaube, in seiner Ausprägung als Religion eines bestimmten Volkes, kann in Wirklichkeit immer nur den Menschen gerade dieses Volkes binden. (Darum gibt es in Wahrheit keine »Bekehrung«.) Zwischen zwei Gläubigen aus zwei verschiedenen Völkern gibt es daher keine Verständigung auf der Ebene ihrer Religion, sondern nur auf einer dritten, beiden übergeordneten Ebene. Wollte also die geistige Elite des damaligen Judentums den Schritt vom Nationalen zum Universalen wirklich und wirksam machen, 346 mußte sie sich mit der Frage befassen, ob ihr Spezielles, die Religion, die Tradition, auf das Allgemeine, auf die jedem Menschen zugängliche Erkenntnis anwendbar sei. Darum war die Vorfrage zu erklären, wie Glaube und Vernunft, Religion und Philosophie zueinander ständen.
Es beginnen sehr lebendige Kämpfe um dieses wichtige Problem. Kein Denker oder Dichter von Format geht daran vorüber. Da ist Moses ibn Esra (etwa 1070–1138), so reich als Dichter, daß sein Herz noch an einer unglücklichen Liebe brechen kann. Hunderte von Hymnen und Gebeten stammen von ihm, der schwermütige, religiöse Ausgleich für ein Leben, dem man eine lebendige und freudige Jugend zu früh zerstört hat. In seiner Philosophie sucht er nach einer Vermittlung zwischen Vernunft und Glaube, zwischen dem Bedürfnis, geistig klar zu erkennen, und der inneren Notwendigkeit, an das überlieferte religiöse Gut als Offenbarung zu glauben.
Da ist weiter Abraham ibn Esra (1092–1167), ein Polyhistor und Weltwanderer, bald in Ägypten, bald in Rom, in London, in Narbonne, Dichter, Grammatiker, Bibelexeget, Philosoph, ein Virtuose des Intellekts und ein armer Teufel, der von Mäzenen leben muß. Er ist gläubig und traditionsgebunden, aber er macht doch dem Rationalismus hie und da Konzessionen. Während er an die Gestaltung des Geschickes durch die freie Willensbestimmung des Menschen glaubt, glaubt er nicht minder überzeugt an den mystischen Pythagoräismus und an die Einwirkung der Gestirne auf menschliches Schicksal.
Sind diese beiden (und manche andere) Philosophen noch nicht für das Ja oder Nein entschlossen, so sind die beiden größten und farbigsten Gestalten dieses Jahrhunderts um so prächtiger und eigenwilliger im Entscheid, der eine für die unbedingte Vorherrschaft des Glaubens, der andere für die unbedingte Vorherrschaft der Vernunft, der eine im tiefsten Sinn national, der andere im tiefsten Sinn international, der eine Jehuda Halevi, der andere Moses ben Maimon, Maimonides genannt. 347
Jehuda ben Samuel Halevi, mit seinem arabischen Namen Abul-Hassan, 1085 in Cordova geboren, aber im südlichen arabischen Spanien ausgebildet, ist in seinem bürgerlichen Berufe Arzt, in seiner geistigen Berufung der lebendige, vibrierende Ausdruck der jüdischen Seele. Wenn Kunst ein Erschaffen von Werken ist, die uns so erregen, als ständen wir dem Geheimnis der Schöpfung selbst gegenüber, dann ist Jehuda Halevi ein sehr großer Dichter. Noch heute, 800 Jahre nach ihrer Entstehung, ist weder vom Glanz noch von der Kraft seiner Gedichte, Epigramme und Elegien etwas schwach geworden. Das konnte geschehen, weil bei ihm das Nationale und das Universale, das Private und das Allmenschliche, das religiös Gebundene und das geistig Entfesselte eine Harmonie von wunderbarer Einmaligkeit gebildet haben. In dieser Harmonie war ein Element, das ihr die Ruhe gab, und ein anderes, das ihr die Bewegung verlieh; das unbedingt gläubige Wurzeln in seinem Judentum als das Ruhende, die ewige und unstillbare Sehnsucht nach einer Erlösung seines Volkes als das Bewegende.
Bei solchen Elementen seines Wesens mußte das, was er an philosophischen Gedanken zu äußern hatte, notwendig judäozentrisch sein und in diesem Kreise dem Glauben die unbedingte Vorherrschaft über die Vernunft einräumen. Sein Buch »Kusari« (der Chazar) enthält sein System. Schon der arabische Titel ist ein Programm: »Buch der Beweise zur Verteidigung des gedemütigten Glaubens«. Der Beweis wird geführt in einem Gespräch zwischen einem Chazarenkönig, einem Philosophen, einem Christen, einem Muselmanen und einem Juden. Das ist die Idee, die Halevi den Juden gegen Aristoteles, gegen Plato, gegen die Verkettung des menschlichen Geschickes mit einer unentrinnbaren Vorsehung, gegen die Dreieinigkeit, gegen den Koran als die letzte gültige Offenbarung aufstellen läßt: das Judentum ist nicht Produkt philosophischer Spekulationen, sondern Ergebnis religiöser Offenbarungen. Als solches steht es weit über jeder Philosophie, und seine Gesetze sind 348 übervernünftigen Ursprungs. Es sind Gesetze, die nicht nur, wie im Christentum und im Islam, den Glauben, die Anerkennung des Dogmas verlangen, sondern die ein Bekenntnis im Tun, im Handeln und in allen Lebensäußerungen verlangen. Zu solcher Erkenntnis und zu solchem Handeln sei das jüdische Volk als erstes ausersehen. Darum stehe es im Zentrum der Menschheit. Alle Philosophie könne höchstens dazu nützen, dieser Religion zu dienen, deren Wesen die Offenbarung und deren Merkzeichen die Prophetie sei. Diese Begnadung für das prophetische Erkennen sich immer neu zu erringen, sei die Aufgabe des jüdischen Volkes, die sie zu erfüllen habe bis in die Tage des Messias hinein.
Wie der Messianismus der Schlußpunkt seiner Philosophie ist, so ist er auch der Kernpunkt seiner Hymnen und Elegien. Und damit ist er keine isolierte Erscheinung. Je tiefer das Wissen und je reicher die Dichtungen dieser spanischen Epoche werden, desto leuchtender und inniger wird die Liebe zum Gedanken der Erlösung. Kein Wohlstand und kein wirtschaftliches Erblühen, keine Ehrenämter und keine geistige Befreiung haben das Bewußtsein dafür töten können, daß Spanien Fremde sei und Jerusalem Heimat, daß es prächtige Synagogen gibt, aber keinen Tempel, daß es geschlossene Siedlungen gibt, aber kein einheitliches Siedeln des Volkes, und daß rings in der Welt der Jude in einem unvorstellbaren Übermaß der Not und des Elends lebt. Man sieht Jehuda Halevi weinen, wenn er leise singt:
Zion! Nicht fragst du den Deinen nach, die Joch tragen,
Rest deiner Herden, die doch nach dir allein fragen?
Übermächtig wächst in diesem liebevollen Herzen die Sehnsucht des Heimkehrers, der Schmerz einer Verbundenheit, die noch nicht erfüllt ist.
Mein Herz im Osten, und ich selber am westlichen Rand.
Wie schmeckte Trank mir und Speis! wie? dran Gefalln je ich fand? 349
Weh, wie vollend ich Gelübd? wie meine Weihung? da noch
Zion in römischer Haft, ich in arabischem Band.
Spreu meinem Aug alles Gut spanischen Bodens, indes
Gold meinem Auge der Staub, drauf einst das Heiligtum stand!
Wie mit dem Tode seiner Gattin die letzte Bindung an die zweite Heimat entfällt, macht er sich, ein Mann von 55 Jahren, auf die beschwerliche Wanderung nach Jerusalem. Wunderbare Dichtungen reifen auf dem Wege. Man weiß, daß er in Ägypten gewesen ist und daß er den Boden Palästinas betreten hat. Dann weiß man nichts mehr. Man sagt, ein Sarazene habe ihn vor den Toren Jerusalems überritten und getötet. Nach Jahrhunderten hat ihm ein Jude, dessen Sehnsucht so zwiespältig war, wie die Halevis zielstrebig war, Heine, ein Danklied gesungen:
Rein und wahrhaft, sonder Makel
War sein Lied wie seine Seele.
Als der Schöpfer sie erschaffen
Diese Seele, selbstzufrieden,
Küßte er die schöne Seele,
Und des Kusses holder Nachklang
Lebt in jedem Lied des Dichters,
Das geweiht durch diese Gnade.
War Jehuda Halevi noch bereit, das Schicksal seines Volkes zu tragen, so ist Moses ben Maimon gewillt, das Schicksal seines Volkes zu gestalten. Der Erduldende ist auf den Glauben verwiesen; der Gestaltende auf die Erkenntnis. Jener singt Hymnen; dieser sagt Grundwahrheiten. Jener will eine Vergangenheit fortsetzen; dieser will eine Zukunft begründen.
Maimonides (1135–1204) war der größte synthetische Geist seiner Zeit. Wie er in sich alle denkbaren Disziplinen des Wissens zu einer leistungsfähigen Einheit verband: Sprachen, Philosophie, Mathematik, Astronomie, Naturkunde, Medizin, Geschichte – so zwang er auch die philosophischen und die 350 religiösen Elemente im Judentum zu einer Einheit. Sein Ziel war, die ewige Differenz zwischen Glauben und Wissen zu versöhnen. Er lebte in einer Umwelt, in der der Geist, von keinem Christentum belastet und geknebelt, frei zu werden begann. Er wollte für sein Volk bewirken, daß dies geschehe ohne Verlust für den Glauben, ja: unter Steigerung des Glaubens.
Naturgemäß mußte er für solches Beginnen auf das Werk zurückgreifen, in dem das vielfältige Denken und Bemühen des Judentums seinen Niederschlag gefunden hatte: den Talmud. Er verfaßt einen Kommentar zur Mischna. Das haben viele jüdische Gelehrte getan. Aber dieser Kommentar hat ein Ziel: er will in der Wirrnis der Einzelheiten die Zusammenhänge aufdecken; er will das Studium des Talmud aus den Händen des Fachmannes erlösen und seinen Sinn für jeden aufschließen; er will lebendig machen, was die Kommentatoren vor lauter Akribie nicht mehr sahen: die Ethik und die Dogmatik des Judentums; er will dem bunten Konglomerat die ordnenden, systematisierenden Kräfte entlocken, um sie für eine philosophische Betrachtung und Ausbeutung frei zu machen. Sein großer Irrtum, das Endziel aller philosophischen Orientierung sei Aristoteles, hat weder der Wirkung dieses Kommentars Abbruch getan, noch mindert es den Wert der geistigen Leistung. Denn noch heute werden in der Morgenandacht des religiösen Juden die 13 Glaubensartikel aufgesagt, mit denen Maimonides dieses Werk abschloß und die zum Inhalt haben: die Existenz eines Gottes, der die Welt erschaffen hat, eines Gottes, der absolut, einzig, der unkörperlich und unwandelbar ist, ewig und unzeitlich; die Pflicht des Menschen, nur zu diesem Gott zu beten; die Wahrheit der biblischen Prophetie und der Offenbarungen Mosches; die Unverfälschtheit und Unabänderlichkeit der Thora; der Glaube an die Allwissenheit Gottes, an die Gerechtigkeit seiner Vergeltung, an das Kommen eines Messias und an die Wiederauferstehung der Toten.
Das zweite Werk ist gedanklich und stofflich eine Steigerung. 351 Es kommentiert nicht mehr den Talmud, sondern hämmert in dieses ungefüge Werk selbst eine neue Ordnung und eine Sinngebung hinein, so daß fast ein neuer Talmud entsteht. Das Werk heißt »Mischne-Thora« oder mit einem anderen Titel »Jad ha'chasaka« (Die starke Hand). Was Jahrhunderte am Talmud geformt und was seit Saadia darüber gedacht und spekuliert worden ist, verfällt hier in der Tat der »starken Hand« eines genialen Ordners. Geschliffen und geformt sind Anfang und Ende. Der Anfang: »Der Hauptgrund und die Säule aller Weisheit ist, zu erkennen, daß es ein Urwesen gibt, welches alle Kreatur ins Dasein gerufen hat.« Das Ende: »Die Erde wird einst voller Erkenntnis werden, wie das Wasser den Meeresgrund bedeckt.« Und zwischen Anfang und Ende die präzise Definition eines geschulten Rationalisten über Gotteserkenntnis und Offenbarung, über Ethik und Messianismus, über Gebotenes und Verbotenes. Alles, was im Talmud in Kontroversen oder in abweichender Form auftritt, stellt er außerhalb der Tradition, weil echte Tradition nur einheitlich und eindeutig und nicht umstritten sein könne. Aber allem unbestrittenen Gesetz verleiht er ohne Rücksicht auf Zeit und Ort verpflichtenden Charakter. So tut er im Effekt ein Doppeltes: er gibt im Umkreis der Halacha das ordnende, der Vernunft unterworfene Denken frei, aber er schließt zugleich diesen Umkreis gegen jede weitere Entwicklung ab. Sein Werk ist eine Kodifizierung. Der Talmud war eine Sammlung. Der Talmud war so uferlos wie die Glaubensfähigkeit eines Menschen. Sein Talmud war so weit und so eng wie die Erkenntnisfähigkeit des Menschen.
Er hat gespürt, daß hier der Keim zu den größten Gegensätzlichkeiten lag. Darum versuchte er in einem großen abschließenden Lebenswerk von hoher Ebene aus vorzubeugen und Philosophie und Judentum in Übereinstimmung zu bringen, universale und jüdische Philosophie auf die gleichen Begriffe zu bringen. »More nebuchim«, Führer der Irrenden, heißt das 352 Werk. Er setzt voraus: soll Glaube wirklich zu klarer Gotteserkenntnis führen, dann muß er mit den Anforderungen der Vernunft übereinstimmen; denn nicht nur der Glaube, sondern auch die Vernunft ist eine Quelle der Offenbarungen. Die eine ist ihm in der Bibel verkörpert, die andere in der Philosophie des Aristoteles. Er schafft, um beide zu versöhnen, seine eigene Metaphysik, abweichend von Aristoteles, aber von ihm beeinflußt, im Glauben an die creatio ex nihilo und in der Überzeugung, daß das ganze Weltall nichts anderes darstelle als verwirklichte Ideen Gottes. In allem Anfang steht Gott. Zwischen ihm und der sinnlich wahrnehmbaren Welt stehen, aus der göttlichen Vernunft entlassen, die körperlosen Geister. Durch sie ist also die Materie mit dem Ewigen verbunden. So ist in allem Irdischen beides: Form und Materie; so auch im Menschen beides: Leib und Seele, das Zeitliche und das Ewige. Da beides im Menschen ist, hat er die Gabe, sich zu bemühen, vollkommen zu werden, sich in »erworbene Vernunft« zu verwandeln. Die Seele des Menschen vergeht mit ihm, weil sie nichts anderes ist als seine organische Lebenskraft. Aber sein Geist ist unsterblich, weil er Ausfluß unsterblicher göttlicher Vernunft ist.
Maimonides' Werke sind von einer tiefen Nachhaltigkeit für die geistige Entwicklung des Judentums geworden. Sie wurden mit fanatischer Begeisterung und mit fanatischer Feindseligkeit aufgenommen. Sie warfen einen Zündstoff in die Welt des jüdischen Geistes und eröffneten einen Kulturkampf großen Formats. An diesem Kulturkampf wird zugleich die schicksalhafte Belastung des Weltjudentums sichtbar. Es hätte – wären den Juden normale, ja nur menschliche Lebensbedingungen eingeräumt worden – zu einem Abschluß dieser maimonidischen Philosophie kommen müssen. Es war ja auch alles andere zu einer abschließenden Entwicklung gediehen. Die Sprache wurde eine Wissenschaft, die Poesie eine Kunst, der Talmud eine Disziplin, die Philosophie ein schöpferischer Lebensausdruck. Nur hier, in diesem metaphysischen Bezirk, wo es um die 353 endgültige Neuorientierung in dieser und jener Welt ging, löste alles sich auf in ein leidenschaftliches Für und Wider; gab es kein Darüberhinaus. Maimonides hatte doch durch seine Metaphysik das Judentum für es selbst und für die Mitwelt mit einem Ruck ideenmäßig und der geistigen Potenz nach in die Aktualität hineingesetzt. Er hatte doch erst der christlichen Scholastik des Mittelalters, die seine Werke eifrig benützte, die Augen geöffnet über die Möglichkeit, sich im Widerstreit von Glauben und Metaphysik zurechtzufinden. Aber die jüdische Umwelt durfte Maimonides nicht annehmen; sie konnte es nicht. Sie hatte nicht die geistige Freiheit Spaniens. Sie hatte die denkbar tiefste Not. Sie brauchte noch Gott als eine aus dem überschweren Herzen her anredbare Person, mit dessen Wirken nicht die absolute Schöpferkraft verbunden war, sondern die absolute Liebe und die absolute Gnade.
Wie sehr sie dieser Liebe und Gnade bedurfte, wird ein Blick auf die Umwelt jener Zeit lehren.