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Prophetie ist Ahnung, Erkenntnis und Schau dessen, was der Mensch an sittlicher Verpflichtung gegenüber dieser und jener Welt, gegen Gott und Kreatur, in seinem irdischen Dasein 71 leben und verwirklichen soll. Diese Vorausschau kommt aus dem hellsichtigen religiösen Wissen um das, was die Verwerfung der sittlichen Verpflichtungen im Gefolge haben kann und wird. Zu solchem visionären Wissen muß ein innerer Anlaß empfunden werden. Stumpfe Zeiten empfinden ihn nicht. Die jüdischen Propheten empfanden ihn durch Jahrhunderte mit immer neuen Impulsen. Das macht sie einmalig.
Prophetie ist also ein Doppeltes, enthält ein religiöses und ein irdisches Element. Es gibt keine Religion ohne Erde. Es gibt nichts in der Sphäre des Religiösen, was es nicht in der Sphäre des Außerreligiösen auch gäbe. Sonst wäre das Religiöse nur fiktiv und nicht real. Es muß, wenn von Religion gesprochen wird, immer das ganze Leben einbezogen werden. Alles andere ist Haltung der Furcht, der Erlebnisunfähigkeit oder der Unwahrheit. Mag sein, daß die Erfüllung von Dasein und Schicksal erst im Himmel gegeben wird. Aber die Erde ist der Ort des lebendigen Menschen. Es nützt kein Himmel ohne Erde.
Die Propheten sind zugleich eine historische und eine zeitlose Erscheinung. Erkennt man an, wie wir den Begriff der Prophetie zu definieren versuchten, dann muß Prophetie zu jeder Zeit und in jedem Volke möglich sein. Es ist nicht unser Amt, zu erklären, warum die christliche Welt in ihrem eigenen Umkreis eine schöpferische Prophetie unterdrücken mußte. Grundstimmungen, die eine Grundlage für das Auftreten prophetischer Gemüter hätten geben können, sind in der Geschichte zahlreich nachweisbar.
Auch schon vor dem Auftreten der jüdischen Propheten hat es eine Prophetie gegeben. In allen semitischen Sprachen findet sich das Wort Nabi, Verkünder. Es sind Menschen aus einer Umwelt, die in viel näheren, nackteren Beziehungen zur Natur in ihrem sinnlichen und übersinnlichen Gehalt stehen, Hellsichtige, Ahnungsfähige, die die Empfängniskraft haben, das mystische Erlebnis über sich zusammenschlagen zu lassen und aus der religiösen Erschütterung Kunde und Zeugnis 72 abzulegen. Aber während bei den anderen Völkern die Prophetie allmählich zum Handwerk einer Priestergilde herabsinkt und daher eines Tages ganz zur Erstarrung und zum Erlöschen kommt, wächst im Kreis der jisraelitischen und judäischen Kultur die Prophetie nach den Möglichkeiten ihrer Vertreter, nach ihrem Ausdruck und nach ihrem Gehalt. Die Prophetie ist hier an kein Amt gebunden. Die Propheten bilden eine Gruppe ohne religiöse und soziale Abgrenzung. Sie haben kein Vorrecht von Stand oder Geburt. Von den meisten weiß man kaum mehr als den Ort ihrer Herkunft und ihren bürgerlichen Beruf: Ackerbauer, Viehzüchter. Sie kommen aus dem Dunkel und verschwinden im Dunkel. Ihre Person ist nichts, ihr Amt alles. Auch die Umwelt begreift sie nur auf diese Weise. Bei der Niederschrift oder der Übermittlung ihrer Reden wurde der Inhalt, nicht der Urheber vor allem respektiert. Darum sind in den Niederschriften Aussprüche verschiedener Herkunft unbedenklich nebeneinandergestellt und zusammengeworfen, darunter sicher auch Aussprüche von Propheten, die man als Personen und Namen nicht mehr kennt.
Da das Zeitlich-Irdische und das Überzeitlich-Religiöse Elemente der Prophetie sind, versteht es sich, daß die einzelnen Propheten je nach Ort und Zeit ihres Auftretens verschieden sind, verschieden reden und wirken. Bei der Fülle des Gemeinsamen kann man dennoch von einer Entwicklung der Prophetie reden, wenn auch nur in dem Sinne, daß ihre Größe mit der Not und dem Bedürfnis einer Zeit wuchs.
Die Prophetie einer Debora ist noch schlicht, primitiv und erschöpft sich in dem Wunsch nach Einheit des Volkes in der Theokratie. Schemuëls Prophetie ist mehrschichtig. Er ist Wahrsager, Ekstatiker und zugleich leidenschaftlicher Vertreter der Gottespolitik. Als unscharfe Figuren tauchen (unter Dawid) Nathan und Gad auf, etwas klarer in seiner politischen Wirksamkeit Ahia aus Silo (unter Schelomo). Elijahu ist der 73 Mann, den das Volk Wunder tun läßt, der in der Legende so untergeht wie fortlebt und doch schon mit Ziel und Programm wirkt: für schlichtes, nasiräisches Dasein, gegen despotisches Königtum und für Reinheit der kultischen Idee. Sein Nachfolger Elischa komprimiert das alles zu einer politischen Zielsetzung: Beseitigung der Dynastie Omri. Die Herausbildung des großen Formats geschieht dann im achten Jahrhundert mit Amos und Hosea in Samaria und mit Jesaja und Micha in Juda.
Alle Propheten gehen von der gleichen Grundidee aus, von der Idealität der Beziehungen zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen dem realen Dasein und seinem Sinn, zwischen Existenz und Sinngebung der Existenz. Sie erkennen, daß der nur vegetative Ablauf eines Daseins eine des Menschen unwürdige Haltung ist. Sie erkennen weiter, daß auch da, wo der Versuch gemacht wird, das Da-Sein durch das Begreifen eines Göttlichen wesentlich zu machen, immer der ewige Widerspruch klafft zwischen plattem Dasein und einem Leben aus der Tiefe des Menschlichen. Es ist ihr unsterbliches Verdienst, das Bewußtsein für diese Differenz geweckt und am Leben erhalten zu haben.
Strebt schon der Mensch, seiner Menschenwürde bewußt geworden, über sich und seinen täglich begrenzten Kreis hinaus, so kann er als das Unbegrenzte, Nicht-Tägliche, Nicht-Irdische nur das Umfassendste begreifen: Gott in seiner Universalität. Das ist die eine Kernidee des Prophetismus. Die andere: wenn ein universaler Gott das Regulativ des Lebens ist, so kann es nur sein, daß er die Gesamtheit aller Lebensverhältnisse und aller Lebensformen ordnet; ordnet nach einer Idee, die nicht Zweckmäßigkeit und nicht Nützlichkeit sein kann, sondern das Übergeordnete: Sittlichkeit. So ist die zweite Zentralidee die des ethischen Monotheismus.
Indem sie das Leben in allen seinen Äußerungsformen, in Kult, in Wirtschaft und in Politik diesen Zentralideen 74 unterordnen, stellen sie an jedes dieser Gebiete entscheidende Forderungen. Sie verlangen vom Kult, daß er sich aller heidnischen Formen enthalte. Das ist mehr als die Ziehung einer nur äußeren Trennungslinie zwischen dem eigenen Volke und der Umgebung. Wiederholt ist betont, wie sehr Kult in frühen Stadien religiöser Entwicklung zugleich Inhalt bedeutet, wie sehr Kult Träger von Sinn und Weltanschauung sein kann. Der Sinn der fremden Kulte erschöpfte sich in allen Formen magisch wertbarer Vorgänge, in vielen Abstufungen der Beschwörung. Die Propheten wollten aber im Kult nicht die Magie, sondern das Sakrament. In der Magie wird die Gottheit beschworen, angerufen, angefleht, wird ihr geschmeichelt und verhalten gedroht, wird die magische Handlung eingesetzt mit dem Anspruch, daß darauf eine Erfüllung, eine Belohnung folge. Der Kranke, der betet, erwartet und verlangt die Heilung. Der Mensch, der ein Opfer bringt, will dafür ein vorteilhaftes Geschick eintauschen, erkaufen, ermarkten. Aber der, dem Gebet und Opfer sakramentale Natur darstellen, setzt sich in unmittelbare Beziehung zu Gott, bringt sich selber dar, schließt sich auf für das Geschehen von etwas, was noch nicht geschehen ist und was ihm widerfahren wird infolge seiner Darbringung. Alles Opfer, zur kultischen Handlung erstarrt, stellt das dar, was in der Sprache der Propheten »Lippendienst« heißt. Darum rennen sie gegen den Opferkult überhaupt an. Sie geben die Losung aus: nicht Opfer, sondern Gesinnung. Das ruft der Prophet dem Volke zu: »Eure Neumonde hasse ich, verachte eure Feste und kann eure Feiertage nicht riechen. Eure Gabe nehme ich nicht gnädig auf und die Mahlopfer von euren Mastkälbern sehe ich nicht an. Hinweg von mir mit diesem Geplärre eurer Lieder; das Rauschen eurer Harfen mag ich nicht hören! Möge vielmehr Recht sprudeln wie Wasser und Gerechtigkeit wie ein nimmer versiegender Bach.«
Aus dieser Einstellung ist begreiflich, daß auch zwischen 75 Prophetentum und Priesterschaft eine aus den geistigen Tiefen begründete Spannung herrschen mußte und daß die Propheten den Priestern das Recht der Unterweisung des Volkes streitig machten. Der Priester ist mit seiner Funktion an den Kult gebunden. Er kann nicht unterscheiden, mit welcher inneren Gesinnung ein Mensch zu ihm kommt, der ein Opfer darbringen will. Er muß so oder so das Opfer vollstrecken, auch das magisch gemeinte. Aber die Propheten machen es sich zur Aufgabe, auf die innere Einstellung des Opfernden und des religiösen Menschen überhaupt zu wirken. Sie erstreben die Überwindung des Ritus durch die Idee. In diese Tendenz gehört auch die Einbeziehung der alten Volksbräuche in den höheren Sinn, ihr Umdenken und Umdeuten, das Versehen mit neuen Erlebnisinhalten. Von hier aus werden die Feste, die einst nichts anderes waren als ländliche Feiertage, zu religiös-nationalen Gedenktagen, werden die Amulette und Schutzmittel zu verpflichtenden Symbolen, wird der Sabbat zu einem Feiertag der Seele inmitten des Gleichmaßes der Arbeit.
Aber alle Umdeutung von Festen und Symbolen hätte nichts genützt, wenn die Propheten nicht imstande gewesen wären, dafür den einheitlichen inneren Grund verständlich zu machen. Sie gehen zurück auf das schon zu Beginn der historisch-religiösen Entwicklung geschlossene Bündnis zwischen den Menschen und ihrem Gott. Wenn sie nun diesen Gott als universal darstellen, als aller Welt, allen Völkern gemeinsam, so müßte damit eigentlich die Auserwähltheitsidee des jüdischen Volkes hinfällig werden. Das Gegenteil ist der Fall. Auf die kürzeste Formel bringt es Amos. »Euch allein habe ich auserwählt aus allen Gemeinschaften der Erde, darum werde ich alle eure Verfehlungen an euch heimsuchen.« Hier steht das Gegengewicht, hier ist die Noblesse oblige der Auserwähltheit mit äußerster Schärfe betont; und die Propheten unterlassen nichts an Hinweisen, um an jedem Tun des einzelnen Menschen wie der Gemeinschaften die Wirkung dieser Maxime 76 zu demonstrieren. Nichts, was einer tut, ist indifferent, ist gleichgültig im Sinne von Gut oder Böse. Alles ist unlösbar verknüpft mit einer sittlichen Ordnung oder mit Gott oder der Gerechtigkeit (oder was man dafür sagen will). Darum ist auch alles historische Geschehen jenseits vom Zufall. Es trägt seinen Sinn in sich. Es bedeutet etwas; vor allem bedeutet es das, daß der Mensch seinen Ablauf bestimmen und gestalten kann durch seine innere Einstellung, durch seine innere Haltung. Die Geschicke der Welt sind so gut oder so böse wie die Gesinnung seiner Menschen. Das ist bis heute wahr geblieben.
Indem die Propheten das Volk mit solchen Ideen durchsetzen, bewirken sie dieses: an die Stelle der panischen Einordnung in ein gegebenes und übernommenes Weltbild tritt die gefügte Weltanschauung. Die Juden werden so das erste Volk, das sein Schicksal nicht unter dem Gesichtspunkt nationaler Geltung, sondern unter dem Gesichtspunkt der sittlichen Harmonie erlebt.
Das im sittlichen Sinne Unharmonische ergreifen und verurteilen sie, wo sie es finden: im alltäglichen Leben des Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft, im sozialen Tun wie in der Politik. Es ist nur konsequent, daß sie, die Gläubigen eines universalen Gottes, auch über das Geschick fremder Völker ihr vorausschauendes Urteil abgeben. Dazu sind sie berechtigt. Sie nehmen ja auch die anderen Völker von den Segnungen eines harmonischen Daseins nicht aus. »Ich werde meinen Geist über alle Kreatur ausgießen.« Die Propheten gehen damit hinaus über jede nationale Grenze. Wenn sie, vor nunmehr zweieinhalb Jahrtausenden, aus tiefster Gläubigkeit »am Ende der Tage« den allgemeinen Frieden auf der Welt erschauen, so erschauen sie ihn für die ganze Welt und für alle Völker. »Und es wird sein am Ende der Tage . . . daß sie zerschlagen ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Ein Volk wird nimmer gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden nicht mehr den Krieg erlernen.« (Jesaja 2, 1.) 77
Weil sie in historischen Vorgängen den sittlichen Gehalt erkennen, haben sie auch die Fähigkeit zu politischer Schau. Sie haben sie, wenn auch nicht immer mit Erfolg, so doch mit hartnäckiger Unablässigkeit betätigt. Es kommt nicht darauf an, daß alles, was sie geweissagt haben, in Erfüllung gegangen sei. Es kommt einzig darauf an, daß sie der konsequente und lebenswahre Ausdruck dessen waren, was im Volke an Ideen und Idealen noch unsterblich lebte. Sie sind nicht das Orakel des Volkes, sondern ihr innerstes, brennendes Bemühen. Kein Volk erzeugt ein ganzes Geschlecht von Ekstatikern anders als aus seiner Begabung für die Ekstase. Diese jüdische Ekstase ist kein wirkliches Tun, sondern ein Erdulden, ein Ertragenmüssen. Keiner von ihnen will Prophet sein. Jeder muß es sein. »Es« spricht in ihnen. Es ist ihnen nicht vergönnt, zu schweigen. Sie leiden unsäglich unter dem, was sie ihrem Volke androhen müssen. Sie schließen entsetzt die Augen vor dem, was ihre Hellsichtigkeit sie zu verkünden zwingt. Aber sie sind – in einem viel höheren Maße und Grade als die »Richter« – Funktionäre der Theokratie. Ob sie wirken wollen oder nicht, steht nicht mehr in ihrem freien Entschluß. Sie sind berufen. Sie gehorchen. Sonst immer liegt die wahre Kraft im Tun. Hier liegt sie im Nachgeben. Jahrhunderte nach ihnen konnten noch von dieser Kraft zehren. Jahrhunderte haben in dieser Kraft eine Manifestation des Göttlichen erkannt und haben den Verkündigungen der Propheten das Gewicht von Offenbarungen eingeräumt. Noch heute nimmt das Christentum zur Begründung seiner Existenzberechtigung die jüdische Prophetie für sich in Anspruch. Wenn es um den wahren Sinn dieses prophetischen Bemühens geht, darf jeder Mensch und jede Gemeinschaft sie für sich beanspruchen.
In der damaligen Gegenwart erschöpfte sich ein großer Teil ihrer Tätigkeit in der Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeiten. Sie tun es so oft und so hart, daß man meinen könnte, eine derartig ungerechte Gemeinschaft habe es nie und nirgends 78 wieder auf der Welt gegeben. Dem ist nicht so. Es gab soziales Unrecht, wie überall, wo sich ein Adel entwickelt, der sich Macht anmaßt, wie überall, wo über einer mühselig arbeitenden Bauernschaft sich zu schnell ein Stand von reichen Händlern entwickelt, wie überall, wo die städtische Kultur sich hemmungslos ausleben will und in der Wahl ihrer Mittel unbedenklich ist. Es gab die soziale Ungleichheit, die mit solchen Vorgängen verbunden ist, aber nicht – wie beispielsweise in Rom – mit einer gesetzlichen Sanktionierung. Es gab im jüdischen Recht keine gesetzlich sanktionierte Ungleichheit und folglich auch kein zu rechtfertigendes Unrecht. Es konnte nie einer seine Verfehlung auf einen Rechtssatz stützen. Vor Gott, dem Menschen und seinem Gewissen war er stets ein Verbrecher. Und das ist es, was die Propheten mit aller Schärfe betonen. Das Ungewöhnliche an diesem Vorgang ist nicht das soziale Unrecht, sondern seine leidenschaftliche und unerbittliche Bekämpfung und Verurteilung. Immer aber ist in aller strafenden Verwarnung der Unterton einer großen Liebe zu diesem Volk. Sie wissen – weil sie es vorausschauen –, daß es mit einer ungewöhnlichen Last des Schicksals bedacht werden wird. Sie kennen schon das Gesetz der Auslese und wissen, daß es angewendet wird, je und je, bis die Idee, als deren Repräsentant dieses Volk zu dienen hat, sich klar herauskristallisiert hat. Sie wissen daher, daß aus aller Verbannung und Versprengung, aus aller Verminderung und Vernichtung ein unsterblicher Rest erhalten bleiben wird. Schear jaschuw, kündet Jesaja; ein Rest wird zurückkehren.