Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Organisation der Zeitlosigkeit

Der Untergang des Reiches Samaria, das spurlose Verschwinden des größten Teiles des jisraelitischen Volkes verhängt von neuem über die jüdische Gemeinschaft das Gesetz der Auslese. 79 Die nicht gefangenen und nicht getöteten Überreste des nördlichen Reiches fliehen nach Judäa und scharen sich dort um den noch verbliebenen Kern. Mit ihnen ziehen Zeugen eines ungewöhnlichen Erlebnisses in das judäische Reich ein. Sie stehen wieder vor der Frage, warum innerhalb der Entfernung von wenigen Meilen sich so verschiedenes Schicksal erfüllt habe. Sie bekommen eine schlichte, eindringliche Antwort aus dem geistigen Wirken der Propheten: äußere Kraft und innere Kraft decken sich nicht. Äußere Kraft, die Gewalt ist, ist zeitlich. Innere Kraft, die Gewaltlosigkeit, ist überzeitlich.

In dem Erlebnis dieses schicksalhaften Gegensatzes verläuft die ganze nunmehr folgende Epoche des judäischen Reiches bis zur Zertrümmerung seiner staatlichen Form. Von den Bne Jisrael, einem Volke von einst sechs Millionen, ist jetzt nur ein winziger Rest geblieben, ein belangloser palästinischer Kleinstaat unter assyrischer Oberhoheit, ganz in seiner Winzigkeit auf sich selbst gestellt. Aber gegen diesen isolierten Rest drücken jetzt von allen Seiten die großen Mächte so der Erde wie des Himmels. Sie sind der Ambos geworden, auf den von Nord und Süd die gewaltigen Hämmer der Völker schlagen.

Rundum haben sich Machtkolosse aufgebaut, die nach dem Imperium als dem Selbstzweck lechzen. Assyrien, dieser Block aus nichts anderem als Eroberungen, kann die unterworfenen Gebiete nicht mehr zusammenhalten. Babylonien, das Mutterland von einst, regt sich wieder und etabliert seine Selbständigkeit als chaldäisches Reich. Ägypten will an der Erbschaft des zerbrechenden Kolosses teilhaben und erneuert seine sinnlosen Vorstöße zum Euphrat hin. Für Ägypten ist Palästina das Durchgangsland. Für Babylonien ist Palästina die Grenzmark gegen den Rivalen aus dem Süden. So sitzt Judäa als kleines Gebiet zwischen den Grenzen zweier Giganten. Von beiden Seiten her drücken die fremden Gewalten ohne Unterlaß und mit der ständigen Drohung, es zu vernichten. Davon wird die Atmosphäre, in der sie leben, komprimiert, schwer zu atmen, 80 erzeugt eine Steigerung des Blutdruckes, daß sie in Fieberstimmung geraten.

Solche Fieberkrisen entlassen aus sich die Extreme, die Nachgeben und Widerstand heißen. Aber sowohl das Nachgeben wie das Widerstehen tragen in dieser jüdischen Atmosphäre einen ganz besonderen Sinn und eine doppelschichtige Bedeutung. Da ist eine Gruppe von Menschen, die aus den ewigen Schwankungen einer unverbürgten, von übermäßigen Gewalten bedrohten Existenz endlich zur Ruhe kommen wollen. Sie wollen endlich eine Entwicklung abschließen, die sie vor immer neue, ungewöhnliche Aufgaben stellt. Sie wollen der Verpflichtung zu einer Sonderexistenz kein weiteres Opfer mehr bringen. Jeder Kult, jede Kultur ist ihnen recht. Wer sie gerade beherrscht, mag den geltenden Kult bestimmen. Sie treiben Opportunismus aus seelischer Erschlaffung.

Dagegen steht die Auffassung derer, die diese kulturelle Angleichung ebenfalls als erstrebenswertes Ziel ansehen, die aber unter allen Umständen eine nationale Selbständigkeit wieder erringen wollen. Ein in der Geschichte der Juden in dieser flachen Eindeutigkeit bisher unbekannter Begriff des Nationalismus taucht auf. Sie haben von der Umgebung gelernt, daß man bei einer bestimmten geistigen Einstellung sogar einen Staat als Selbstzweck ansehen kann.

Sowohl das Nachgeben wie das Widerstreben faßt eine andere Gruppe von Menschen endlich in einem viel differenzierteren Sinne auf: diejenigen, die zwar nachgeben wollen, aber nur der Macht der politischen Verhältnisse; und die doch Widerstand leisten wollen, aber jenseits der Macht, auf dem Gebiete des Geistes. Ihr Ziel ist geistige Selbsterhaltung unter – wenn es sein muß – Verzicht auf staatliche Selbständigkeit.

Der Niederschlag solcher Extreme im innerpolitischen Leben heißt Parteien. So verläuft diese Epoche scheinbar in dem Kampfe zwischen politisch-religiösen Parteien, während es 81 sich in Wirklichkeit um die Auseinandersetzung zwischen Anschauungen, Welt-Anschauungen im klarsten Sinne des Wortes handelt. Wenn der König Hiskia, der zu Beginn dieser Zeit regiert, eine durchgreifende Beseitigung der gemischten Kulte anordnet und wenn sein Nachfolger die bunteste Mischung aller Kultarten fördert, wenn dann wieder unter dem König Josia ein absoluter Jahvekult zur Geltung kommt, so hat das mit Innenpolitik oder Außenpolitik nichts zu tun, sondern es handelt sich jeweils um eine aus dem Weltanschaulichen allein zu begründende Stellungnahme zwischen den beiden großen Extremen, die sich in dieser Zeit herausbilden und sich so zur Entscheidung stellen, wie schon in der Periode des Reiches Samaria ein nur von innen her faßbares Existenzproblem zur Entscheidung stand. Die strengste Formulierung dieser nach Entscheidung verlangenden Weltauffassung ist wieder Geist aus dem Geiste der Prophetie. Sie ist es, die letzten Endes die Entscheidung über die Fortexistenz dieses Volkes gefällt hat.

Die seelischen Konflikte der Zeit haben einen Brennpunkt in der einzigartigen Gestalt des Propheten Jeremia. Er, der sein Amt ungewöhnlich jung antritt, erlebt es mit einer unvergleichlichen Kraft der Hingabe und Hellsichtigkeit. Auch er ist Amtsträger wider Willen. Er wird überrannt von einer Kraft, der er gehorchen muß, ohne sie zu lieben. Und da das Erdulden seiner Schau so ungewöhnlich stark ist, kann es nicht ausbleiben, daß auch die Wirkung von fast unvorstellbarer Dauer ist. Wenn wir im folgenden von ihm sprechen, meinen wir ihn über seine Persönlichkeit hinaus zugleich als Vertreter der damaligen Prophetie überhaupt.

In Jeremia bekommt die Fragestellung: was wird nun? ihre endgültige Antwort. Er zieht aus den Ereignissen einer krampfhaft belebten Welt die Folgerungen. Er sieht: Volk auf Volk, Staat auf Staat wächst, dehnt sich, bläht sich, breitet sich aus durch Gewalt und Machtanwendung, und bricht eines Tages zusammen vor einem anderen Volk, vor einer anderen 82 Gewaltanwendung. Ihre Existenz beginnt und schließt mit Macht. Sie dauert, bis eine andere Gewalt sie niederschlägt. Das ist ein Vorgang, der in grauenhafter Folge und Eintönigkeit so weitergehen kann. Da Macht sich immer noch übersteigern kann, sei es in Menschenmassen, sei es in Kriegsmitteln, kann auch ein Machtgebilde jeweils von einem anderen, größeren vernichtet werden. Folglich kann die Macht der einzelnen Gemeinschaft nicht dauern. Wann sie untergeht, ist eine Frage der Zeit; daß sie untergeht, ist eine Frage der Gewißheit.

Der Prophet begreift alle diese Machtverschiebungen nur als lebendige Demonstration dieses Gedankens. Alles, was er sieht und an Erfahrungen sammelt, muß ihm einen Sinn enthüllen. Mit der bloßen Folge der Ereignisse kann er sich nicht zufriedengeben, denn ein Mensch, der von der Idee eines universalen Gottes ausgeht, kann nicht an die Zufälligkeit des Geschehens glauben. Handlungen haben unter allen Umständen ihren Sinn. Nackte Machtanwendung Gottes ist für den jüdischen Geist nie ein tragbarer Begriff gewesen. Also kann Macht nur Mittel zu einem Zweck sein. Andererseits kann sie, als in sich selbst lebensunfähiges Element, nur durch ihr Gegenteil überwunden werden, durch »Gewaltlosigkeit«, durch »Anarchie« im Sinne des Fehlens jeglicher Gewalt. Da es aber auch in der Gewaltlosigkeit und in der Anarchie ein Regulativ für das Verhalten des Menschen geben muß, kann es nur der Inbegriff dessen sein, was wir Sittlichkeit nennen, Ethik, Haltung des Gebundenseins durch die Entscheidung dessen, was gut und böse ist, was jenseits oder diesseits einer erspürbaren Grenze für die Eigensucht des Einzelnen wie der Gemeinschaft liegt.

Das Ergebnis solcher Erwägungen sind praktische Forderungen. Erstens: Judäa soll jedem politischen Ehrgeiz entsagen. Es soll nicht den Versuch machen, sich mit den Kolossen zu messen. Es soll seine Gemeinschaft nicht auf das zu gründen versuchen, woran die anderen sichtbar scheitern: auf Gewalt. 83 Judäa soll sich der jeweiligen Oberhoheit beugen und seinen nationalen Ehrgeiz mit den richtigen, nicht mit den falschen Inhalten versehen. »In Umkehr und Ruhe liegt euer Heil, im Stillehalten und Vertrauen liegt eure Kraft.«

Das bedingt die zweite Forderung: Judäa soll Widerstand nur leisten aus der Ebene des Geistes her. (Geist soll hier nicht etwas Abstraktes bedeuten, soll nicht der Auftakt sein für die Wiederholung der alten, aber darum nicht minder irrigen Ansicht, die Juden seien ein »abstraktes Volk«. Sie sind nicht abstrakt. Aber sie können abstrahieren.) Geist bedeutet hier Haltung aus dem Geistigen her. Was damit gemeint ist, stellt ein Vorgang klar, der den Zentralpunkt dieser geschichtlichen Epoche bildet.

Im Jahre 621, wie der zum reinen Jahvekult neigende König Josias eine Ausbesserung des Tempels anordnet, wird in den Archiven ein Schriftwerk aufgefunden, das dort – man weiß nicht, wie lange – gelegen hat. Es enthält eine eigenartige Bearbeitung der bislang kodifizierten Gesetze, eine Wiederholung und Neuschöpfung, ein Beieinander von Anweisungen für das Verhalten des Menschen zu Gott und zu seiner Umwelt. Es ist in die Form von Reden gekleidet, die Mosche vor seinem Hinscheiden jenseits des Jordans in den Mund gelegt werden. Wer diese Bearbeitung vorgenommen hat, weiß man nicht. Ersichtlich ist nur, daß sie streng im Geiste der Prophetie erfolgt ist. Dieses sind seine Grundideen: Es besteht noch das alte Bündnis zwischen dem Volke und seinem Gott. Gott hat sich das Volk auserwählt; das Volk hat sich Gott verpflichtet. Von der Einhaltung oder Verwerfung dieser Verpflichtung hängt nunmehr seine Existenz ab. Es kann heute noch nein sagen. Dann ist der Lauf seiner Existenz als eines Sondervolkes abgeschlossen und beendet. Es kann ja sagen – aber nicht ja mit dem Munde, sondern ja mit der Einsetzung der ganzen Existenz. Dann ist es zeitlos; dann ist es stärker als alle nackte Gewalt. Einsetzung der Existenz heißt hier: seine 84 Beziehungen zum Himmel und zur Erde klar und eindeutig auf die Herrschaft der Seele und des Geistes zurückführen; glauben, daß das Leben nicht ein Zufall sei, den man zu fürchten hat, sondern etwas aus der höchsten Lebenskraft, aus Gott, Entlassenes; etwas, das als ewiges Geheimnis da ist und keine Begründung braucht, sondern nur einen Ausdruck. Dieser Ausdruck, dem Transzendenten zugewandt, ist die Anerkennung eines Gottes, der das Universum geschaffen hat und der in seinen eigenen, sakramentalen, bildlosen Formen anerkannt sein will, nicht in entlehnten, magischen, die einen Teil von ihm, die Zeugungskraft, in Symbolen gegenständlich und greifbar machen. Dieser Ausdruck, der Erde zugewandt, ist die Gerechtigkeit als gestaltende Norm des menschlichen Zusammenlebens.

Ungerechtigkeit ist der letzte und entscheidende Ausdruck aller Gewalt. Gewalt schafft Ungleichheiten. Die Gerechtigkeit soll sie beheben. Das ist der Kernsatz der sozialen Vorschriften dieses Buches. Sie regeln generell oder allgemein eine Unsumme von Lebensverhältnissen, vom Taglohn des Arbeiters, der ihm nicht bis nach Sonnenuntergang vorenthalten werden darf, bis zum Recht des Jungvermählten, ein Jahr lang Heeresdienst und Abgaben zu verweigern und bis zum Fluch über den, der seinen Vater und seine Mutter gering achtet. Und wann immer die Verschiedenartigkeiten der sozialen Entwicklung eine Ungleichheit entstehen lassen, wird die Pflicht zum Ausgleich begründet, nicht als Wohltätigkeit, die einer üben oder verweigern kann, sondern als Anspruch der Armen, sei es als Recht auf die Nachlese, als Verfall der Schuld, als Rückfall des verkauften Ackers oder in anderer Form. Mit besonderer Eindringlichkeit wird höchste Gerechtigkeit gefordert für Witwen, Waisen und Fremdlinge. Diese Fürsorge für den Fremden hat kein anderes Volk ausgebildet. Die Juden haben es erfahren, als sie später Fremdlinge wurden.

Alle Gesetze, die dieses Buch aufstellt, sind diesseits der Utopie. 85

»Denn dieses Gebot, das ichselb heuttags dir gebiete,
»nicht entrückt ist es dir, nicht ferne ist's.
»Nicht im Himmel ist es, daß du sprächest:
»Wer steigt für uns zum Himmel und holt's uns
»und gibt's uns zu hören, daß wir's tun?
»Nicht überm Meer ist es, daß du sprächest:
»wer fährt für uns übers Meer hinüber und holt's uns
»und gibt's uns zu hören, daß wir's tun?
»Nein, sehr nah ist dir das Wort,
»in deinem Mund und in deinem Herzen,
»es zu tun.«

Das ist die Begründung des sittlichen Imperativs. Das ist der Auftakt zu einem Leben aus der Gesinnung her und nicht aus dem Interesse. Hier wird von neuem die Erde aufgebaut und mit einem Himmel überwölbt. Hier wird nicht ein Himmel aufgerichtet und mit einer Erde unzulänglich fundamentiert. Hier wächst Religion von der gelebten Wirklichkeit her. Hier entsteht eine leidenschaftliche Bejahung des Daseins mitten aus der Tiefe religiöser Hingebung. Gottes Reich ist von dieser Welt und das Reich des Menschen, der sich seinen Gott geschaffen, ist auch von dieser Welt. Hier wächst die entscheidende Widerstandskraft gegen die spätere Idee, die das Judentum aus sich entlassen hat, gegen die Idee des Daseins als eines provisorischen und vorbereitenden Zustandes. Indem sie von hier aus schon das Leben als ein Provisorium ablehnen konnten, vermieden sie es in der Zukunft, in einem konstanten Widerspruch zu einem Dogma leben zu müssen. »Denn nicht dankt dir die Unterwelt, nicht preist dich der Tote; nicht harrt, wer zur Grube gefahren ist, auf deine Treue. Wer da lebt, der dankt dir wie ich heute . . .« (Jesaja 38, 19.)

Wenn auf der einen Seite die Verpflichtung steht, so steht auf der anderen Seite die Verheißung. Hier wird ein Punkt berührt, der je und je den Polemiken und den Angriffen neue Nahrung gegeben hat: die Auserwähltheit. Da muß vorweg mit 86 einer Entartung dieser Idee aufgeräumt werden, mit dem Gedanken von der Mission des jüdischen Volkes. Das Judentum hat keine Mission und hat nie Missionare ausgesandt. Aber es ist das lebendige Paradigma für die entscheidenden Grundsätze des Zusammenlebens von Menschen: für die Anerkennung einer sittlichen Ordnung in der Welt, für die Zeitlosigkeit des Geistes und für die zeitliche Begrenztheit der Gewalt, für die Notwendigkeit von Recht und Gerechtigkeit und für den Glauben an einen Zustand des Friedens unter den Kreaturen. Das ist zugleich der Sinn der Auserwähltheit: ein Sich-Bewähren als Vorbild. Es ist eine Auserwähltheit aus der Verpflichtung, nicht aus dem Anspruch. Nicht: wir dürfen; sondern: wir müssen.

»Das Geheimnis
»ist bei IHM, unserem Gott,
»die Offenbarung
»ist bei uns und unseren Söhnen
»auf immer:
»alle Worte dieser Weisung zu tun!«

Mit diesem immanenten Bestande an geistiger Verpflichtung, von den Propheten zuerst bindend formuliert, hat das Judentum durch alle Irrwege und alles zeitliche Versagen bis heute gelebt. Ob es heute noch berufen ist? Vielleicht. Es ist ein Volk, das auf lange Sicht berechnet ist. Noch hat es sich zu bewähren. Noch kann es als Paradigma dienen. Vielleicht wird es eines Tages untergehen dürfen. Aber noch sind seine Energien lebendig. Folglich bedeuten sie etwas. Sie zu töten, hat es kein Recht.

Dieses Gesetzbuch, Deuteronomium genannt (oder Mischne Thora), tritt also in der Schicksalsstunde des judäischen Volkes in die Erscheinung. Der König selbst liest es öffentlich im Tempel vor. Das ist ein grandioser und formeller Akt der Gesetzgebung. Es ist aber auch zugleich ein Aufruf zur Entscheidung, ein Angriff gegen alle chaotischen Gefühle und 87 Empfindungen, die sich in dieser Fiebersituation im Volke angesammelt hatten. Das Volk wird von dieser neuen Erfahrung in einem Zustand betroffen, in dem es – gleich einem Kranken – eine besondere Feinfühligkeit, ein gesteigertes Tastvermögen entwickelt hat. Die fortgesetzte Bedrohung der staatlichen – und damit der individuellen – Existenz züchtet jetzt zum ersten Male das Anklammern an das, was bedroht ist, das Anklammern an die äußere Form ihres Zusammenlebens, an den Staat. Während es früher nur Stammesstolz gab, gibt es jetzt eine erweiterte Ausprägung: die nationale Leidenschaft. Und diese nationale Leidenschaft, auf das Land übertragen, erzeugt den Patriotismus.

Dieser Patriotismus hat eine besondere Färbung. Sie beginnen, dieses Land, das ihren Vorfahren schon eine Heimat bedeutete, ehe sie es betreten oder nur gesehen hatten, mit einer besonderen Seele, mit einem besonderen Grad der Heiligkeit auszustatten. Samaria geht unter, aber der Süden mit Jerusalem und dem Tempel bleibt verschont. Das bedeutet etwas. Der Assyrer Sanherib belagert (701) Jerusalem, aber er muß plötzlich, eine Sekunde vor der äußersten Not, abziehen. Das muß einen Sinn haben. Das muß eine besondere Heiligkeit von Land und Stadt und Tempel zur Ursache haben. Die Skythen, dieser Heuschreckenschwarm braust durch die Länder und frißt alles kahl. Aber Judäa streift er nur am Rande. Stadt und Tempel bleiben verschont. Das bedeutet die Unverletzlichkeit. Sie begreifen ihr Vaterland als beseelt, als heilig. Gott hat mit diesem Lande zu tun. In einer Rede des Jeremia ist ein Aufschrei Gottes über den Lebenswandel des Volkes: »Ihr verunreinigt mein Land!« Das ist in Wahrheit die Geburtsstunde des »heiligen Landes«. Aus solchem Erlebnis ist zu begreifen, wie die Verlesung des Deuteronomiums sie aufwühlte und wie sie doch, von dem Erfahren ihres Landes als beseeltem Wesen überrannt, Insurgenten werden mußten.

Diese geistige Neuorientierung des Volkes durch die 88 Propheten löst das Chaos auf in ein entschiedenes Für und Wider. Alles verläuft hier in Extremen, wie alles auf die Alternative eingestellt ist. Kultmischung wird abgelöst von Kultreinigung. Friedenspolitik wechselt mit Geheimdiplomatie. Babylonische Bacchanale werden gefeiert, während die Propheten blutig verfolgt werden. Alles, was geschieht, ist Fragestellung der Alternative: Isolierung oder Angleichung, Sonderschicksal oder Verzicht, gestaltendes oder genießendes Dasein, Segen oder Fluch.

So, genau so, wie die Zeit empfand, sprach das Deuteronomium:

»Siehe,
»gegeben habe ich heuttags vor dich hin
»das Leben und das Gute,
»den Tod und das Böse ...
»zu Zeugen habe ich heuttags gegen euch den Himmel und die Erde genommen,
»das Leben und den Tod habe ich vor euch hingegeben,
»die Segnung und die Verwünschung,
»Wähle das Leben,
»damit du selber lebst und dein Same . . . !«

Das Volk hat also die Wahl. Die Prophetie stellt das unerbittlich klar. Indem sie zur Entscheidung aufruft, organisiert, begründet und motiviert sie die Dauer, die Zeitlosigkeit des jüdischen Volkes. Sie haben nicht umsonst gewirkt. Für ein Volk, seelisch so vorbereitet wie dieses, war den jetzt eintretenden politischen Katastrophen von vornherein die schwerste Schlagkraft genommen.

Die von dem König Ahas freiwillig aufgenommene Oberhoheit Assyriens besteht noch. König Hiskia, mehr Patriot als Politiker, möchte sie beseitigen. Die nationalen Leidenschaften drängen zur Konspiration mit den anderen unterworfenen Kleinstaaten. Das Ergebnis ist nur, daß Sanherib viele Gefangene fortführt und sich zur Belagerung Jerusalems anschickt. 89 Aber Angriffe der Ägypter und Unruhen im eigenen Reiche lassen ihn nicht zum Ziel kommen. Die Bedrohung geht gnädig vorüber. Sie sehen aus der Ferne den assyrischen Koloß in sich zusammenbrechen.

Auch Josias begreift sein Amt und seinen Patriotismus zugleich als die Verpflichtung, die staatlichen Grenzen seines Landes zu erweitern. Er besetzt Striche von Samarien, dem einstigen Bruderreich, und träumt davon, er könne dem Reiche einmal die Grenzen geben, die es unter Dawid gehabt hatte. Schon damals steigert sich der Gedanke, daß die zehn Stämme für immer verschwunden und aus dem Gesamtverband gestrichen sein sollten, zu einer immer wachsenden Hoffnung auf Rückkehr und Vereinigung. Selbst die Propheten verkünden, daß der Norden sich wieder mit dem Süden vereinigen werde. Diese Prophezeiung ist nicht in Erfüllung gegangen. Sie war ein Wunschtraum. Aber das Volk hat zwei Jahrtausende diese Prophetie in seinem Herzen lebendig erhalten. Indem es die Rückkehr der zehn Stämme zur Voraussetzung für eine messianische Erlösung machte, hat es das Ziel seines Daseins von neuem in die absolute Zukunft, in die nicht mehr fixierbare Zeitlosigkeit gesetzt.

Auch Josias Träume scheiterten an der Wirklichkeit. Wie die Ägypter ihren Kampf um den Anteil am Nachlaß Assyriens wieder aufnehmen, verweigert er ihnen den Durchzug. In diesen Kämpfen wird er tödlich verwundet. Das Reich wird der Oberhoheit Ägyptens ausgeliefert.

Die neue Untertänigkeit ist kurz. Sie erfährt ihre Ablösung, wie das neue Babylonien und Ägypten sich über den Besitz der Durchgangsländer Syrien und Palästina auseinandersetzen. Mit dem Siege fällt Babylon auch die Herrschaft über Judäa zu. Wieder reißen im Lande die Extreme auf. Die einen wollen unter allen Umständen Krieg gegen Chaldäa. Die anderen wollen die innere Autonomie und die ungestörte geistige Entwicklung. Drei Jahre lang wird die neue Abhängigkeit getragen. 90 Dann wagt es das kleine Reich, den Tribut zu versagen. Nebukadrezzar bricht sofort zu einer Strafexpedition auf. Jerusalem wird kurze Zeit belagert. Der König Jojakin, seine Familie, die adligen Familien, viele begüterte Jerusalemer, die Priester und die Waffenschmiede, insgesamt etwa 10 000 Menschen, werden nach Babylonien verschleppt. Tempel und Paläste werden ausgeplündert. Als Vasall wird ein anderer König, Zedekia, eingesetzt.

Diese erste Verbannung, das Galuth Jehojachin, bringt eine maßlose Aufregung im Volke hervor. Ein übermäßiger Haß gegen Babylonien wächst auf; ein heldenhafter und völlig nutzloser Nationalismus reißt die Lebenskräfte der Nation in eine falsche Richtung. Von Babylonien aus flehen und hetzen und schüren die Verbannten. Sie rufen die Heimat auf, sie zu befreien. Jeremia drängt vergeblich in sie, sich ihrem Schicksal zu fügen. »Baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und genießt ihre Früchte. Nehmt Weiber und zeugt Söhne und Töchter . . . daß ihr euch mehret und nicht weniger werdet! Kümmert euch um die Wohlfahrt des Landes, in das Jahve euch weggeführt hat, und betet für es zu Jahve, denn seine Wohlfahrt ist eure eigene Wohlfahrt.« (Jerem. Kap. 29.)

Sie hören nicht auf ihn. Sie denunzieren ihn als Verräter an der nationalen Sache. In Jerusalem wird er bekämpft und beargwöhnt und die Reinheit seiner Absichten mißdeutet. Er kann nichts aufhalten. Die Menschen sind wahnsinnig geworden. Sie wagen mit ihren lächerlichen Kräften einen militärischen Widerstand gegen die waffenstrotzende, gewaltige Nation der Zeit. Nach neunjähriger Untertänigkeit verweigert Zedekia den Tribut und proklamiert die Unabhängigkeit des judäischen Staates.

Nebukadrezzar rückt von neuem an. Er läßt das Land systematisch verwüsten. Viel Volk flieht nach Jerusalem. Im Winter des Jahres 587 wird die Stadt eingeschlossen. Eine grauenhafte Hungersnot bricht aus. Sie rafft zusammen mit Krankheiten 91 haufenweise die Menschen, schwächt die Krieger. Am 9. Tamus 586 können die Babylonier in die Stadt eindringen. Sie morden sinnlos. Der König wird geblendet. Seine Söhne, der Oberpriester und viele Würdenträger werden hingerichtet. Alles Volk, soweit es zu greifen ist, wird nach Babylonien verschleppt. Zwischen dem 7. und dem 10. Ab werden die Stadt zerstört, der Tempel und die Paläste verbrannt. Stadt und Land sind verödet und verlassen, ein Trümmerhaufen. Elegien (Kinoth, Ejcha), dem Jeremia zugeschrieben, weinen über den Untergang einer Hoffnung. Noch heute, nach 2500 Jahren, werden diese Elegien am 9. Ab, dem Tischa be'Ab, in den Synagogen aller Welt gebetet.

Der Tragödie folgt ein kurzes Nachspiel. Nebukadrezzar will verhindern, daß seine Provinz Judäa völlig verödet. Er läßt einige arme Winzer und Bauern im Lande und gibt ihnen Gedalja zum Statthalter. Aber Freischärler, die aus ihren Verstecken hervorkommen, stiften Unruhen und ermorden Gedalja. Der verbleibende Rest fürchtet Repressalien Babylons. Darum flieht er nach Ägypten, während Nebukadrezzar auch noch den Rest Menschen zusammenlesen und in sein Reich führen läßt.

Unter den nach Ägypten Fliehenden, denen die Stadt Taphnis gastfreundlich eingeräumt wird, ist Jeremia. Er erlebt noch die Gründung einer jüdischen Kolonie und in ihr die ewige Wiederholung der gleichen Probleme: Angleichung oder Isolierung. Aber die Lösung der Frage hat er nicht mehr erlebt.

So schließt auch diese Epoche mit großen Symbolen ab. Ein Teil des Volkes kehrt, armselige Flüchtlinge, in das Land zurück, aus dem sie einmal in die Freiheit und die schöpferische Lebensgestaltung aufgebrochen waren. Der andere Teil sitzt als Gefangene in dem Landstrich, durch den schon ihre frühesten Vorfahren als Nomaden wanderten. Der Staat ist vernichtet, Hauptstadt und Tempel in Trümmer. Das Land ist entvölkert und verödet. Die Menschen gefangen, zersprengt, 92 vermindert. Nichts ist mehr da. Und doch ist noch alles da: die geistige Kraft.

 


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