Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Erster Teil

Von der Entstehung der Theokratie bis zur Herrschaft des Gesetzes

 

Das Motiv

Von allen Kulturvölkern, die auf der Erde leben, ist das jüdische Volk zugleich das bekannteste und das unbekannteste. Es gehört zu den tragischen Sonderheiten seines Geschickes, daß es niemals ignoriert werden konnte und daß es folglich immer im Urteil der Anderen, der nichtjüdischen Umgebung, bestehen oder versagen mußte. Es ist oft versucht worden, in diesem und jenem Punkte die Verfälschung auszugleichen, die so am Bild des Juden vorgenommen wurde, vorgenommen werden mußte, weil solche Urteile aus Zwecken, Leidenschaften, Feindseligkeiten und Gegensätzen kommen. Das führt zu nichts. Ein Volk von der Lebensintensität des jüdischen darf nicht auf die Apologie angewiesen sein. Es braucht vielmehr die ewige Selbstbesinnung, damit es nicht vergißt, mit welch ungeheurer Verantwortung es in die Welt gestellt worden ist.

Dieses Buch will zeigen, wo die Verantwortung und also der Sinn in der Existenz des jüdischen Volkes liegt. Es will zugleich einer aktuellen historischen Situation des Judentums gerecht werden, die es nötig macht, daß noch einmal in einem großen und gedrängten Zuge das Lebens- und Schicksalsbild des jüdischen Volkes entstehe. Denn dieses Volk steht am Beginn eines neuen Geschichtsabschnittes, vor einem neuen Anfang. Um das deutlich zu machen, müssen wir zwei frühere Zäsuren von eindringlicher Bedeutung in den Vordergrund rücken.

Die eine wurde erreicht, als Rom den Jüdischen Staat zertrümmerte und als das Volk endgültig in die Zerstreuung ging. Von der Zeit an mußte es nicht nur seine eigene Geschichte leben, sondern auch die seiner Umgebung. Es schuf sich seine inneren Begebenheiten und erduldete die äußeren Begebenheiten. Gewalten, die nicht in ihm begründet lagen, insbesondere das Christentum, machten es immer wieder zum Objekt der Geschichte. Dagegen stellte das jüdische Volk sein Bemühen, wieder selbstschöpferisch zu werden, sich als Nation in allen 10 seinen Äußerungen fortzusetzen, wieder die subjektive Geschichtsgewalt zu erlangen. Es entledigte sich dieser Aufgabe in ganz anderer Weise, als es sonst Völker zu tun pflegen. Fast alle sichtbaren Vorgänge, die in die Geschichte anderer Völker die Zäsuren bringen, fehlen hier. Es fehlen Kriege, Eroberungen, Kolonisationen, Herrscher, Revolutionen. Krieg ist hier bei den Juden Abwehr gegen Mord und Totschlag; Eroberungen bedeuten Erringung von Lebensmöglichkeit; Kolonisation ist Aufrichtung einer Gemeinschaft in einem neuen Lande; Herrscher sind Gelehrte, Künstler, Rabbiner; Revolutionen brechen im Bezirk des Geistigen aus. Es ist alles vorhanden, aber alles verhängnisvoll um eine Ebene verlagert.

Diese Situation wurde gebrochen, als die europäischen Staaten die Juden mit der bürgerlichen Gleichberechtigung beschenkten. Damit verlor für ein kurzes Jahrhundert das Erringen der subjektiven Geschichtsgewalt seine Bedeutung. Es trat zurück gegenüber der Tendenz der Angleichung an die Umgebung. Das war nicht nur als Reaktion auf die barbarische Unterdrückung von Jahrhunderten verständlich, sondern entsprach auch einem Gesetz, dem die Geschichte der Juden in der Zerstreuung zuneigt. Die geistigen Leistungen des Judentums begeben sich in Abhängigkeit zum Problem der nackten Existenz. Das heißt: je bedrängter die Existenz wird, desto enger und restriktiver zieht sich die geistige Betätigung auf den Innenraum, insbesondere auf die religiöse Grundlage des Volkstums zurück. Dehnt sich der Existenzraum aus, so weitet sich auch automatisch der geistige Raum. Hört das Existenzproblem wirklich oder scheinbar auf, ein spezielles jüdisches Problem zu sein, so tritt die weltliche, an keinen Glauben und an keine Religion gebundene Kulturleistung in den Vordergrund.

So war es auch nach der Emanzipation, als man das Existenzproblem nicht mehr sehen wollte und als man andererseits die Bereitschaft der Umgebung, aus dem Gedanken der 11 Emanzipation auch geistig die Konsequenzen zu ziehen, überschätzte. Es ist nämlich zu einem freien, gleichberechtigten Austausch zwischen den emanzipierenden Staaten und den emanzipierten Juden in Wirklichkeit nie gekommen. Soweit die Gleichberechtigung nicht einfach Theorie blieb, wurde sie nur der Ausgangspunkt für neue Spannungen. In diesen Spannungen begann eine Verfälschung des Sinnes der jüdischen Geschichte, und zwar nicht nur durch den Verzicht auf die subjektive Geschichtsgewalt, sondern auch durch das Bemühen, diese Spannungen durch zahllose Konzessionen an die Umgebung zu mildern; sich die bürgerliche, geistige, soziale, künstlerische und sogar die menschliche Gleichberechtigung zu erwerben und zu verdienen; sich in den Motiven und Handlungen in Abhängigkeit vom Urteil und von der Auffassung der anderen zu begeben; ein unauffälliges Judentum zu erzeugen, das heißt: das Judentum als unschädlichen Begriff existieren zu lassen und es als Energie mit völlig eigener und unvergleichbarer Gesetzmäßigkeit abzutöten.

Es ist das Verdienst der zionistischen Ideologie, diese rückläufige Bewegung unterbrochen und eine geistige Verfassung vorbereitet zu haben, welche die eigene Leistung und die eigene Bestimmung des Juden in der Welt vom Urteil wie vom Angriff der nichtjüdischen Welt unabhängig macht. Damit erst ist die Grundlage erneuter Produktivität des Judentums als Träger einer Weltidee wiederhergestellt. Die Geschichte der Juden kann wieder weitergehen. Das ist der Punkt, an dem das Judentum jetzt hält.

Wo diese Produktivität liegt, soll in diesem Buche am Ablauf der jüdischen Geschichte gezeigt werden. Wenn Völker nicht isoliert, sondern wirklich miteinander leben, dann kann schon das Anderssein, die bloße Andersartigkeit Produktivität bedeuten. Darum wird in diesem Buche Wert darauf gelegt, die Eigenart und damit die Andersartigkeit des Judentums zu betonen. Wir meinen dabei, daß nicht die klare Scheidung, 12 sondern nur die wertbetonte Trennung verderblich sei. Die klare Scheidung muß – Hoffnung aller wahrhaft gläubigen Menschen – eines Tages versagen und entbehrlich werden vor einem sittlichen Niveau der Menschheit, das Unterscheidungen nicht mehr erlaubt. Die Trennung hingegen verewigt das Element der Feindschaft und gibt selbst dem sublimsten Glauben den Charakter einer Kampfmeinung.

Über solche Einstellung hinaus muß zu allem Anfang bekannt werden, daß dieses Buch kein neutrales Buch ist. Keiner, der sich aus tiefverwurzelter Leidenschaft gedrängt fühlt, Geschichte zu schreiben, zumal die Geschichte seines eigenen Volkes, kann neutral sein, weil er sie sonst nicht erleben könnte. Und wer Geschichte nicht als Schicksal erlebt, das bis zu ihm dringt und wirkt, bleibt Materialsammler. Soweit aber hinter jedem Erleben die innere Aufmerksamkeit und Ehrlichkeit stehen, erwächst daraus so viel Verantwortungsgefühl vor sich selbst, vor seinem Volk und vor der Umwelt, daß man dem Ergebnis zutrauen darf, es sei im Rahmen des subjektiven Erlebens doch das objektiv Wahre, das zutiefst Richtige aus dem Sinn der Vorgänge erspürt worden.

 


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