Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Messianismus

Der mittelalterliche Mensch dachte nicht historisch, weil er die Welt als eine gegebene religiöse Tatsache ansah. Er hatte – der religiösen Idee nach – nur sich selbst zu erlösen. Folglich ging ihn die Welt nichts an. Der mittelalterliche Jude sah ebenfalls die Welt als eine religiöse Tatsache an; aber er dachte historisch. Er hatte – der religiösen Idee und dem Bewußtsein nach – nicht nur sich selbst zu erlösen, sondern alle Menschen, 456 das Gesamt der Welt. Darum ging ihn alles an, was von diesem Gesichtspunkt aus wichtig war. Er mußte historisch denken, weil er sein Geschick immer auf diesen größeren Zusammenhang hin betrachten mußte. Diese Denkform verkümmert oft unter dem Druck gegenwärtiger Not und ist ständig durch die rabbinische Überbetonung des Gesetzes bedroht. Aber unterirdisch strömt immer noch die tiefste Quelle: das Bewußtsein ihrer Sendung; und ewig bleibt darum auch ihre Hoffnung am Leben: Heimkehr nach Jerusalem zum Beginn der Erfüllung. Zuweilen überschlägt sich die Hoffnung in den Paroxismus des Verlangens. Dann tritt diese Quelle der Vergangenheit, die latente Gegenwart ist, plötzlich zutage und reißt tiefe Furchen in den vorbereiteten, durch tausendfaches Leid aufgelockerten Boden ihrer Existenz.

Das Schicksal der Juden in den verschiedenen Ländern der Diaspora mochte noch so verschieden sein: die seelische Grundhaltung war überall die gleiche. Und nur aus solcher Homogenität ist zu verstehen, daß sie eines Tages in der überwiegenden Mehrheit bereit waren, zu glauben, daß der Sinn ihres Exils sich erfüllt habe, daß der Messias gekommen sei und daß sie am Vorabend der Heimkehr nach Jerusalem ständen. Allerdings bedurfte es neben der seelischen Grundhaltung eines besonderen Impulses: der Summierung des Leidens, der Hypertrophie des Martyriums. Wir müssen uns, um dieses Ergebnis begreifen zu können, einen Rundblick über die Schicksale der jüdischen Siedlungen bis zu dem einschneidenden Jahre – 1666 – zunächst verschaffen.

Das massierte, man könnte sagen: das organisierte Leid findet sich immer noch und in unvermindertem Maße auf der pyrenäischen Halbinsel. Das Marranenproblem, in Spanien noch nicht zum Erlöschen gekommen, ist nach Portugal verschleppt. Auf Verlangen Ferdinands des Katholischen bekommt die Inquisition das Recht, auch dort zu wirken. Sie arbeitet dort, solange sie noch keine nationale Institution ist, zusammen mit 457 der portugiesischen Geistlichkeit, die wieder ihrerseits sich des schlichten Volkes als Vollstrecker ihrer religiösen Politik bedient. Das Ergebnis steht hinter dem der Tribunale nicht zurück. Die Mönche rufen zur Ausrottung der Juden auf. Wie zu Ostern 1506 bei verschiedenen Marranen in Lissabon Vorbereitungen zum Passahfest entdeckt werden, veranstalten die Mönche die »Bluthochzeit zu Lissabon«, wobei in zwei Tagen über 2000 Juden erschlagen werden. Daneben geht das Bemühen ständig dahin, gleich dem bevorzugten Spanien auch eine nationale Inquisition zu bekommen. Das Papsttum ist dazu bereit, verlangt aber Einhaltung von Rechtsgarantien bei dem Verfahren. Portugal lehnt das ab, denn Rechtsgarantien gefährden den Zweck der Inquisition. Karl V., der Gesinnung nach der erste wirkliche Habsburger, legt sich ins Mittel. Im Mai 1536 kann die autonome Inquisition ihre Tätigkeit beginnen. Sie haust gleich zu Beginn derartig barbarisch und mit einer so exzessiven Anwendung der Tortur, daß selbst Papst Paul III. Protest einlegt und das Tridentiner Konzil sich mit den portugiesischen Greueln beschäftigen muß.

Die geschäftliche Seite des Unternehmens wird immer sichtbarer. König Johann III. schließt mit den Marranen einen Vertrag, wonach die Vermögen der Verurteilten nicht mehr eingezogen werden sollen. Dagegen zahlen ihm die Marranen eine jährliche besondere Steuer. Aber selbst in den 60 Jahren des vereinigten spanisch-portugiesischen Reiches (1580–1640), als die spanischen Könige sich der Zersetzung des Katholizismus und dem Geist der Reformation entgegenstemmten, um einen katholischen Musterstaat zu errichten, spielt das Geld noch eine bedeutende Rolle. Philipp III., der in Geldverlegenheit ist, läßt sich 1601 von den Marranen 200 000 Dukaten zahlen und erlaubt ihnen dafür, nach den spanisch-portugiesischen Kolonien auszuwandern. 1604 erkaufen sich die Marranen für ein Jahr Amnestie. Sie haben dafür zu zahlen: 1 860 000 Dukaten an den König, 50 000 Dukaten an den Minister Lerma und 458 100 000 Dukaten an die Mitglieder des obersten Inquisitionsrates. Diese Ziffern machen verständlich, warum die Inquisition mit solcher Vehemenz arbeitete.

Die Marranen ergreifen jede erdenkbare Möglichkeit zur Flucht. Nur die wenigsten resignieren und verzichten auf das geheime Judentum. Die Mehrzahl klammert sich mit einem unbegreiflichen Heroismus an ihren Glauben. Ihre Leistung ist übermenschlich. Sie sind von Spitzeln umstellt. Sie sind jeder Verleumdung ausgeliefert. In der Abschätzung Leben gegen Glaube entscheiden sie sich für den Glauben. Sie sind überreif für den Gedanken einer Erlösung.

Den Marranen, die fliehen können oder auswandern dürfen, erschließen sich im wesentlichen drei Gebiete: die Türkei, Holland und Amerika. Über die Verhältnisse in der Türkei ist schon gesprochen worden. In Holland beginnt die Einwanderung sowohl von Juden wie von Marranen unmittelbar nachdem die Utrechter Union von 1579 für die holländischen Staaten die Gewissensfreiheit erklärt hat. Die Ironie des Schicksals will es, daß man die Marranen zunächst als verkappte »Papisten« sehr argwöhnisch betrachtet. Wie man aber eine Gruppe von ihnen 1596 bei der Abhaltung des Gottesdienstes am Versöhnungstage überrascht, gibt man den Marranen die Befugnis, sich zum Judentum zu bekennen. Zwar verlaufen in der Folge die Beziehungen zwischen dem Juden und dem Holländer nicht ganz reibungslos, aber man veranstaltet weder Prozesse wegen Hostienschändung noch wegen Ritualmord. Sie unterlagen gewissen Rechtsbeschränkungen, aber für ihre eigenen Angelegenheiten hatten sie volle Autonomie. Es gab Städte, die Juden nicht zu sich hereinließen, aber im ganzen mußte man die Vorteile für die Wirtschaft und die Kolonisation Hollands gegen sich gelten lassen. Die Juden hatten also über ihr materielles Schicksal nicht zu klagen. Wenn gleichwohl auch unter ihnen der Erlösungsgedanke lebendig war, so kam er nicht aus dem Leid des Augenblicks, sondern aus der Erinnerung an das 459 Marranenschicksal, dem die meisten von ihnen entstammten, und aus der Schlußfolgerung, die ihnen das Leid der Juden in anderen Ländern aufnötigte.

Es bewahrheitet sich im übrigen hier in dieser holländischen Siedlung wieder einmal, daß dem Juden zu seiner geistigen Entfaltung über den Rahmen seiner religiösen Satzungen hinaus jeweils nichts fehlt als der nackte Lebensraum. Die geistigen Leistungen der holländischen Juden sind im Durchschnitt nicht bedeutend, aber es ist sofort mindestens wieder die schöpferische Gebärde da. Sie sind konservativ, talmudgläubig, religiös unduldsam und machen von dem Wort »Ketzer«, das sie in Spanien kennengelernt haben, übermäßigen und oft ungerechten Gebrauch. Aber sie schreiben massenweise Gedichte und Dramen. Sie leben in einer lyrisch-mystischen Grundstimmung. Sie wittern Morgenluft.

Dem Hang, Menschen großen geistigen Formats nur deswegen für das Judentum zu reklamieren, weil sie als Juden geboren wurden, wollen wir nicht nachgeben. Darum übergehen wir eine Erscheinung wie Spinoza. Für sein persönliches Schicksal gilt das, was anläßlich der Lebensgeschichte des Uriel da Costa gesagt worden ist. Das Pathos, mit dem die Intoleranz der Gemeinde Amsterdam gegen Spinoza gerügt wird, ist hohl und töricht. Der Jude ist nicht aus Übermut intolerant geworden. Was wir bisher über das jüdische Schicksal berichtet haben, deckt den Grund solcher Haltung genügend auf. Eine Auseinandersetzung der jüdischen Umwelt mit der geistigen Leistung Spinozas kam selbstverständlich nicht in Frage. Seine Philosophie ist die Leistung eines großen Einzelgängers, eines im tiefsten Sinne Einsamen. Bindungen, die zu großer Belastung ausgesetzt sind, brechen sehr leicht. Der Rabbinismus, der das erkannte, verstärkte sie durch das Gesetz. Die Kabbala verstärkte sie durch die Hinwendung zur mystischen Inspiration. Bei Spinoza war die Bindung spontan gebrochen. Der Philosoph Spinoza ist nur noch der Rasse nach Jude. Das Judentum als 460 Ideenwelt kann seine Leistung nicht für sich beanspruchen. Hier ist nichts gegeben als der Beweis dafür, daß der Geist des Juden eine ungeheure Spannweite annehmen kann.

Die Freiheit, die den nach Holland entflohenen Juden zuteil wurde, blieb den Marranen versagt, die nach dem neu entdeckten Amerika flohen oder auswanderten. So wie ein Marrane die Expedition des Kolumbus erst finanziert und ermöglicht hat, so wie Marranen an der ersten Entdeckungsreise schon teilnahmen, so gehören sie auch zu den ersten Einwanderern und Siedlern der Neuen Welt. Aber selbst in dieses jungfräuliche Land folgt ihnen die Inquisition, selbst dieses reine Stück Welt wird von Folter und Verbrennungen geschändet. Karl V. führt offiziell in Mexiko gegen Marranen, Lutheraner und Calvinisten die Inquisition ein. Zwischen 1596 und 1602 finden zahlreiche Autodafés statt. Auch Peru bekommt die Inquisition zu spüren, besonders aber Brasilien, das im 16. Jahrhundert schon eine große jüdische Siedlung aufweist. Von dort werden sie ausgewiesen, wie Portugal das Land nach einer zeitweiligen Herrschaft der Holländer wieder besetzt.

In dem Zeitraum, der hier interessiert, bleibt die Lage der Juden in Deutschland konstant. Nur ist auch hier eine östliche Verschiebung eingetreten, nach Schlesien, Böhmen und Österreich hin, näher zur dichtesten Judensiedlung der Welt und näher zur Katastrophe. Im übrigen werden sie durch Ausweisungen bald hier, bald dort in Bewegung gehalten. Das geschieht in Mecklenburg 1492 im Verlauf eines Hostienprozesses, bei dem 27 Juden verbrannt werden, und 1510 aus gleichem Anlaß in der Mark Brandenburg, wo viele Juden auf der Folter sterben und 38 verbrannt werden. Der Vorgang beschäftigte noch nach 30 Jahren den Fürstentag zu Frankfurt. Der Denunziant dieses letzteren Hostienprozesses hatte einem Priester gebeichtet, daß die Anzeige erlogen gewesen sei. Der Priester, um der Gerechtigkeit willen, will dieses Verbrechen aufklären, aber sein Vorgesetzter, der Bischof von Spandau, erlaubt ihm nicht, das 461 Beichtgeheimnis zu brechen. Der Priester, in seiner Gewissensnot, tritt zum Protestantismus über, um frei reden zu können. Melanchthon referiert darüber auf dem erwähnten Fürstentag.

Eine kurze Weile konnten die Juden in Deutschland annehmen, daß sich in der geistigen Verfassung der Umgebung eine Änderung anbahne, von der sie für sich vermehrte Freiheit und menschenwürdige Behandlung erhoffen konnten. Die harte, kontrastlose, grandios sture Denkform und Lebensweise, die wir herkömmlich als mittelalterlich bezeichnen, wich einer differenzierteren, nachdenklichen und darum kritischen, problematischen und humanistischen Art der Weltbetrachtung. Unter dem ständigen und übersteigerten Druck eines durch eine Weltkirche verkörperten göttlichen Regimes begann das Interesse zu revoltieren, und zwar das egoistische wie das objektive Interesse, jenes als Drang nach Befreiung, dieses als Drang, die Summe der Erfahrungen methodisch, das heißt wissenschaftlich, zu ordnen. In den jüdischen Bezirk hinein wirkt sich der Kampf Reuchlins gegen die Dominikaner aus.

Ein jüdischer Renegat, Johann Pfefferkorn aus Mähren, Schlächter von Beruf, in seiner Heimat wegen Einbruchsdiebstahls aus der Gemeinde gestoßen, wird von den Kölner Dominikanern dazu angeregt, Schriften gegen den Talmud zu verfassen, insbesondere den berühmten »Judenspiegel«. Durch Vermittlung der Nonne Kunigunde, der Schwester Maximilians, verschafft er sich die Vollmacht, die jüdischen Schriften daraufhin zu prüfen, ob sie verletzende Bemerkungen gegen das Christentum enthielten (August 1509). Aber die Frankfurter Juden wollen dem neuen Christen ihre Bücher nicht aushändigen und protestieren beim Kaiser. Maximilian beruft eine Kommission von Sachverständigen, darunter Reuchlin, um diesen Protest zu prüfen. Die meisten Gutachten, insbesondere das des Inquisitionsrichters Hochstraten aus Köln, sind durchaus für die Verbrennung der jüdischen Schriften, vor allem des Talmud. Reuchlin, vielleicht der einzige, bestimmt aber der 462 profundeste Kenner der hebräischen Sprache und Literatur, ist dagegen, aus Gründen der Einsicht, der Vernunft, der Menschlichkeit und letztlich mit der Begründung, das Christentum tue besser daran, geistige Gegnerschaft mit geistigen Waffen, nicht aber mit der Faust zu bekämpfen. Daneben läßt er es nicht an kräftigen Seitenhieben gegen die Dominikaner und ihren geistigen Helfer Pfefferkorn fehlen. Damit hat er sich eine ganze Meute von Obskuranten auf den Hals gehetzt. Es beginnt ein wütender literarischer Kampf, in dem Reuchlin Sieger bleibt. Die Einzelheiten des Verlaufs interessieren hier nicht, denn es ging in diesem Kampf nicht mehr um die Juden und ihre Schriften, sondern um ein Problem, das sich innerhalb der katholischen Welt zur Entscheidung stellte: Freiheit der geistigen Überzeugung oder Fanatismus, der jeder Entwicklung den gewaltsamsten Widerstand leistet. Bedeutsam ist diese Episode für die jüdische Geschichte nur insofern, als der Sieg Reuchlins möglicherweise den Sieg einer liberaleren und duldsameren Behandlung der Judenfrage hätte im Gefolge haben können. Auch die Reformation erweckte in den Anfängen die gleichen Illusionen.

1523 erscheint die Luthersche Schrift: »Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei«. Er hielt es für nötig, diese Tatsache seinen Freunden ins Gedächtnis zu rufen, sie daran zu ermahnen, daß die Juden Blutsfreunde, Vettern und Brüder des Heilands seien und daß Gott diesem Volke die Heilige Schrift anvertraut habe. »Will man ihnen helfen, so muß man das Gesetz christlicher, nicht päpstlicher Liebe an ihnen üben.«

Solche Worte, nach 1200 Jahren politischem Christentum zum erstenmal in dieser Prägnanz geäußert, lassen aufhorchen und bringen die Vermutung nahe, es handle sich hier endlich um eine Rückkehr zum Christentum als Religion der Liebe. Wohl lag in der Grundidee der Reformation solche Rückkehr beschlossen, wie sie auch äußerlich in der energischen Zurückbeziehung auf die Bibel zum Ausdruck kommt, wo nichts von einem Papst, nichts von der alleinigen Heilsvermittlung des 463 Priesters, nichts von Beichte und nichts von Absolution gesagt ist. Es stellte sich aber sehr bald heraus, daß solche Worte kein spontanes Bekenntnis waren, sondern lediglich einem Zwecke dienten: der Mission. Was Luther unter »Hilfe« für die Juden verstand, hatte auch die katholische Kirche seit je darunter verstanden: Taufe. Und wie das ursprüngliche Christentum sehr bald seinen Untergang in der Kirche fand, wurde auch die reformatorische Idee, die nicht nur religiöse Motive für ihre Entstehung hatte, von einer Kirche eingefangen. Das bedeutete für den Juden, daß er aufs neue einer auf Machtausübung und Herrschaft gerichteten Religion gegenüberstand. Er wurde jetzt von der katholischen und von der protestantischen Kirche angegriffen. Luther selbst, wie er die Zwecklosigkeit seiner Missionswerbung begreift, geht mit dem Beispiel voran. Er verfaßt gegen die Vettern und Brüder des Heilands eine Reihe von Schriften (»Brief wider die Sabbater«, »Von den Juden und ihren Lügen«, »Vom Schem hamphoras«), die kaum ein Argument auslassen, dessen sich bisher die katholische Kirche bedient hatte, von der Brunnenvergiftung bis zum Ritualmord. Sie sind in einem derartig rüden Ton gehalten, daß der Schweizer Reformator Bullinger meint, sie seien von einem »Schweinehirten, aber nicht von einem berühmten Seelenhirten« verfaßt. An der tiefgreifenden Befreiung, die die Reformation einem großen Teil der christlichen Welt im Laufe der Zeit brachte, entfiel jedenfalls auf die Juden nichts. Im Gegenteil: die deutschen Staaten, die an der Spitze der Reformation stehen: Sachsen und Hessen, stellen sich auch an die Spitze der Judenbekämpfung. Nicht ohne Notwendigkeit hat Karl V. in zwei Schutzbriefen von 1544 und 1546 die Anstrengung von Ritualmordprozessen untersagen müssen.

Was diesem und dem folgenden Jahrhundert in der Geschichte der Juden in Deutschland, Österreich, Böhmen und Mähren die besondere Note gibt, ist die Unstetigkeit, dieser grauenhafte Schwebezustand zwischen Ausweisung und Wanderung und 464 Wiederzulassung und erneuter Vertreibung. Allein der Dreißigjährige Krieg verschafft den Juden wenigstens die Sicherheit des Ortes, denn in einer Zeit, die solcher Unsummen für Kriege benötigte, war der Jude nicht zu entbehren, und die Sorge für seine finanzielle Leistungsfähigkeit mußte die Sorge für sein Wohlergehen notwendig mit umfassen. Doch das sind Vorgänge ohne Gewicht, die nicht imstande sind, eine Vergangenheit aufzulösen oder der Zukunftserwartung einen anderen Richtungssinn zu geben. Im Gegenteil: es ist gerade diese seelische Atmosphäre des deutschen Gettos, diese Züchtung aus dem Martyrium von Jahrhunderten, die fortschreitend die jüdische Welt erobert, die sich mit den Elementen der Kabbala vereinigt und einen so abgründigen Pessimismus erzeugt, daß er sich bei dem geringsten Anstoß überschlagen muß, und zwar in sein Gegenteil, den Optimismus; nicht in die Resignation; nicht in das Sich-Hinwerfen, in das Nicht-mehr-Wollen. Der Jude gibt sich nicht auf. Er hat die Fähigkeit zum Leben. Das ist sein viel geschmähter »Materialismus«.

Zwei sehr wichtige Vorgänge nehmen auf die Vertiefung der seelischen Haltung einen entscheidenden Einfluß. Zunächst die Buchdruckkunst. Die Juden machen von dieser Erfindung sofort den weitesten Gebrauch. An die Stelle des kostbaren Manuskripts tritt das Volksbuch. Es ist in der Umgangssprache geschrieben, in der jüdisch-deutschen Mundart, in hebräischen Lettern gesetzt. Die Bibel, die prophetischen Schriften, die Psalmen, die erzählenden und dichtenden Teile des Talmud, die in den Schulen studiert werden, werden zu Hause gelesen. Die Teilnahme an den Dingen und Vorgängen ihrer Vergangenheit – die in Wirklichkeit ihre Gegenwart ist – bekommt jene Intimität, aus der neben dem kollektiven das individuelle Erlebnis entsteht. Durch die Ausbreitung des Buches – das ist der zweite wichtige Vorgang – wird auch zum ersten Male in der Diaspora die jüdische Frau in den Umkreis des religiösen Erlebens einbezogen, werden ihr die Grundlagen der Geschichte 465 und des Wissens ausgeliefert, kann sie selbständig ihr Gemüt formen an dem, was ihr in Sagen, Märchen und Dichtungen dargeboten wird. So erst kann das einzelne jüdische Haus im Getto der Resonanzboden der bevorstehenden messianischen Bewegung werden.

Der auslösende Vorgang zu dieser Bewegung, der den latenten Messianismus explodieren läßt und seine Verwirklichung erzwingen will, ist in der Katastrophe gegeben, die über die polnische Judenheit im Jahre 1648 hereinbricht. Es ist schon dargestellt worden, wie der Jude in Polen zum Objekt der ständischen Interessen geworden war und in welcher Abhängigkeit davon sein Schicksal dementsprechend stand. Aber nicht genug damit, wurde er auch in die Spannungen einbezogen, die zwischen dem Adel und den Leibeigenen sowie zwischen polnischen Katholiken und russischen Orthodoxen bestanden. Die Herrschaft des polnischen Königtums und des polnischen Adels hatte sich seit etwa einem Jahrhundert auf die Ukraine ausgebreitet, das Stromgebiet des Dnjepr und Dnjestr, mit Kiew als Mittelpunkt, Wolhynien und Podolien im Westen und Tschernigow und Poltawa im Osten. Dieses Land wurde wie eine eroberte Provinz behandelt. Das Interesse des Königtums und des Adels bestand in einer hemmungslosen Ausbeutung der Bevölkerung, die in die Stellung von Leibeigenen verwiesen war. Darüber hinaus gährte zwischen Herren und Knechten ein ingrimmiger, fanatischer religiöser Haß. Beide waren zwar Christen, aber die einen, die Polen, römisch-katholisch, und die ukrainischen Russen griechisch-katholisch. Diese Variante eines und desselben Grundbekenntnisses bedeutete tödliche Feindschaft. Die Revolte, in die der bedrückte Ukrainer endlich ausbrach, hatte daher nicht nur wirtschaftliche, sondern auch religiöse Gründe. Es ging gegen den polnischen Unterdrücker, den Panen, zugleich als einen »Ungläubigen«.

Mit beiden Eigenschaften behaftet bot sich aber zugleich auch der Jude dar. Er war nicht nur der Typus des Ungläubigen, 466 sondern vor allen Dingen der, dessen sich der »Pane« mit Vorliebe als Verwalter und Pächter seiner Güter bediente. Während der Grundherr fast nie in die Erscheinung trat, war der Jude immer sichtbar. Er war das Symbol der Unterdrückung, obgleich er damit nicht mehr zu tun hatte als der Stock mit dem, der damit schlägt. So konnte die Losung des Aufruhrs lauten: »Gegen Panen und Juden«.

Die Führung in dieser Revolte übernahm das Kosakentum. Von langem her bestanden in der Ukraine halb bäuerliche, halb militärische Gemeinschaften, deren Zweck die Abwehr der Tataren war, die aus den benachbarten Steppen immer wieder in das besiedelte Gebiet diesseits der Ströme einbrachen. In enger Fühlung mit diesen Kosakengemeinschaften standen jenseits der Stromschnellen des Dnjepr die Saporoger Kosaken, die sich noch ihre völlige Unabhängigkeit bewahrt hatten. Sie übernahmen in der Revolte der Ukrainer als nationaler Vortrupp die Führung.

Schon 1637 kündet sich die Revolte mit einem Vorstoß in das Gebiet von Poltawa an. Zehn Jahre später, 1648, wird sie nach gründlicher Vorbereitung wieder aufgenommen. Die Bewegung hat jetzt einen Führer bekommen, den Hetman Bogdan Chmelnicky. Er hat ein Bündnis mit den bisherigen Feinden, den Tataren, geschlossen. Während diese nur an einem Raubzug interessiert sind, vertritt Chmelnicky ein Programm: Ausbreitung des allein wahren griechisch-orthodoxen Glaubens, Freiheit der Kosaken und Ukrainer; und als Mittel zur Erreichung dieser Ziele: Ausrottung von Polen und Juden.

Der Elan, mit dem die kampfgewohnten Scharen vorstoßen, ist bedeutend. Die polnische Verteidigungsarmee wird in zwei Schlachten zurückgeworfen. Die ukrainischen Bauern erheben sich. Das östliche Dnjeprland, das Kiewsche Gebiet, Wolhynien und Podolien sind in Aufruhr. Das Programm der Aufständischen wird mit größter Gewissenhaftigkeit durchgeführt, aber zugleich mit einer hemmungslosen und tierischen Barbarei. Es 467 sind Amokläufer des Blutdurstes, der Geschlechtsgier und der religiösen Unwissenheit, die da auf Menschen losgelassen werden. Wieder tritt hier das fatale Ergebnis zutage, daß die grauenhaftesten Metzeleien, das Zerhacken und Verstümmeln und Aufschlitzen und Lebendig-Verbrennen von ungezählten Tausenden unter der Parole eines Glaubens geschieht. Wie von einer magischen Zauberformel sind diese Horden selbst betrunken von ihrer Losung: Taufe oder Tod. Folgt ihnen ein Jude, erklärt er, er sei von dieser Sekunde an ein Christ, so vergessen sie sogar ihn auszuplündern. Weigert er sich aber, diesen Glaubensaposteln zu folgen, so wird er Marterungen unterworfen, vor denen selbst die spanische Inquisition beschämt ihre Stümperhaftigkeit eingestehen müßte. Es liegen chronistische Berichte aus jener Zeit vor, zu deren Lektüre es starker Nerven bedarf. Denn es versteht sich, daß bis auf einige wenige Ausnahmen die Juden die Aufforderung zur Taufe ablehnten. Sie wollten noch angesichts der Zerstörung von Hunderten jüdischer Gemeinden, angesichts der Niedermetzelung ihrer Kinder, der Schändung und Ermordung ihrer Frauen nicht Christen werden, sondern ihrem Gott und ihrem großen Erbteil die Treue halten. Der Kiddusch ha'schem, die Heiligung des göttlichen Namens, stand ihnen unendlich höher als ihr Einzeldasein. Sie nahmen in Massen und zu Tausenden den Märtyrertod auf sich. 6000 in Nemirow, 15 000 in Tulczyn, 2000 in Homel, Hunderte in Polonnoje und so fort durch das ganze Gebiet des Aufruhrs. Die Reste, die dem Blutstrom entrinnen können, fliehen verarmt, krank, halb wahnsinnig vor Furcht und Entsetzen durch das Land, bis über die Landesgrenzen hinaus, nach Österreich, Deutschland, Holland, Italien, bis in die Türkei hinein.

Das alles spielt sich ab in dem kurzen Zeitraum zwischen April und November 1648. Die Zahl der erschlagenen Juden mag damals schon 200 000 überschritten haben. Noch nicht zu übersehen sind die Verluste in der Gefangenschaft, denn insbesondere die Tataren, die trotz ihres berüchtigten Rufes 468 gegenüber den Kosaken noch harmlose, friedliche Menschen sind, haben sich überwiegend auf die Gefangennahme von Juden beschränkt, um aus ihnen Lösegeld herauszuholen. Durch die flüchtigen und die losgekauften Juden, für die sich besondere Organisationen bilden, geraten Zeugen des polnischen Martyriums in die gesamte übrige jüdische Welt. Aber das Unheil ist noch nicht beendet, sondern nur unterbrochen. Der neugewählte König Jan Kasimir schlägt Chmelnicky zurück und zwingt ihm einen Friedensvertrag auf. Fünf Jahre haben die Juden Ruhe. Mit heroischer Zähigkeit beginnen sie wieder den Aufbau ihrer Verwaltung, ihrer Gemeinden und ihrer Existenz. Aber mitten hinein beginnt der zweite Akt der Tragödie. Chmelnicky, mit seinem Erfolg unzufrieden, gewinnt den Zaren Alexej Michailowitsch zum Bundesgenossen. Im Sommer 1654 beginnt der gemeinsame Angriff. Die Parole lautet jetzt: »Für Russentum und Rechtgläubigkeit.« Wieder hebt das Massenmorden unter den Juden an, weil sie nicht rechtgläubig sind. Die Opfer sind zahllos. Sie vermehren sich noch, wie Karl X. Gustav von Schweden 1655 in Polen einbricht. Er behandelt die Juden loyal, und sie verhalten sich entsprechend loyal. Die Polen verlangen aber plötzlich vom Juden, den sie mit jedem erdenklichen Mittel bisher bekämpft haben, eine nationalistisch-patriotische Haltung. Weil der Jude sich nicht auch von den Schweden totschlagen lassen will, ist er ein Verräter, und so schlägt ihn der Pole tot, wie er sich unter dem nationalen »Erlöser« Stephan Czarnicky gegen Schweden erhebt. Der Pole übertrifft den Kosaken an Bestialität in diesem Kampf gegen die Juden nach jeder Richtung.

Die Schätzungen der Zahl der erschlagenen Juden schwankten zwischen 300 000 und 600 000. An die 700 Gemeinden sind völlig verschwunden oder nur in wenigen Mitgliedern erhalten. In der östlichen Ukraine lebt kein einziger Jude mehr. In Wolhynien und Podolien sind neun Zehntel erschlagen, verschleppt oder geflohen. Das jüdische Zentrum in Polen ist vernichtet. 469 So gewaltig empfand die Judenheit diesen Schlag, daß sie diese Katastrophe als dritten Churban, die dritte Zerstörung des Tempels, bezeichnete.

Die Judenheit reagierte auf dieses nationale Unglück mit dem Vollgewicht ihrer Religiosität, zugleich mit historischer Prägnanz. Sie ordnete ihr Leid da ein, wohin sie überhaupt die Gesamtheit ihres leidenden Schicksals orientierte: das Leid diente der Läuterung des einzelnen, damit er für die Erlösung reif werde. Cheble moschiach, Geburtswehen des Messias ist der Kernbegriff. Aber sie fixieren jetzt dieses Leiden auf den Augenblick und auf die allernächste Zukunft. Aus vielfachen Berechnungen der Kabbalisten hat sich die Kenntnis verbreitet, daß der Beginn der messianischen Epoche gerade in das Jahr 1648 falle. Die Bereitschaft, daran zu glauben, ist immens. Das polnische Gemetzel in diesem Jahre ist – so grauenhaft es sich auch darstellte – eine Bestätigung und fast eine Hoffnung. Daß dieses Jahr ohne ein erlösendes Ereignis vergeht und daß noch einmal das große Morden über sie verhängt wird, treibt die Hoffnung nur in die Ekstase der Erwartung.

Gemeinschaften, deren Wollen und Erwartung eine solche Intensität erreicht, müssen endlich den Menschen aus ihrer Mitte entlassen, der das Produkt dieses kollektiven Gefühls ist und den das Kollektivum als den Auslöser und Erfüller ihrer Hoffnungen, als den Führer aufnimmt. Die jüdische Geschichte stellt ihn dar in der Figur des Sabbatai Zewi aus Smyrna.

Sabbatai entstammt dem jüdisch-orientalischen Milieu, wie es sich seit der großen Einwanderung von 1492 unter dem Zustrom der sephardischen Juden, unter der Auswirkung des immer konservativer werdenden Rabbinismus und endlich unter dem Eindringen der praktischen Kabbala herausgebildet hatte. Er ist ein ausgezeichneter, ja überragender Schüler, dem schon als Jüngling der Titel eines Chacham, eines Weisen, erteilt wird. Er ist aber auch ein Mensch von ausgeprägtem Ich-Gefühl, der alles nur auf sich bezieht und es erst begreift, wenn 470 er es zu sich selbst in Relation gebracht hat. Solche Erscheinungen waren im damaligen Judentum selten. Zwar war die Welt des Juden schon wegen des Glaubens an die Auserwähltheit und wegen des Erlösungsgedankens judäozentrisch, und sie konnten alles Geschehen in der Welt nur mit dem Judentum als Zentrum betrachten, aber das war eine kollektive Art des Schauens; der einzelne Jude sah gewissermaßen mit den Augen der jüdischen Welt, nicht mit seinen eigenen. Daraus erklärt es sich, daß Menschen, die durchaus und nur mit ihren eigenen Augen sahen, die bis zur Hartnäckigkeit ihr ganz und gar persönliches Weltbild aus sich herausstellten, auf den Juden einen so tiefen Eindruck machten, besonders dann, wenn dieses individuelle Weltbild sich im Gewande der kollektiven, der allen gemeinsamen Idee darbot.

Das ist eine Erklärung dafür, warum Sabbatai schon in seiner frühesten Zeit und in seiner Vaterstadt einen Kreis von Anhängern um sich sammeln kann, der ihn als einen Menschen besonderer Begabung und Veranlagung respektiert. Ein weiterer Grund für seinen Einfluß ist die Intensität, mit der er sich dem Studium der Kabbala ausliefert, und seine aus der ekstatischen Phantasie genährte Art, Deutungen und Verheißungen zu geben. Denn damit traf er die Seite des jüdischen Wesens, die unter dem Druck des Rabbinismus immer verwaist blieb: das Gefühl; so wie ja die ganze Kabbala, auch in ihrem spekulativen Teil, nur ein Ventil ist für das verwaiste Welt-Gefühl des Juden.

Beides, sein natürliches Ich-Gefühl und seine ekstatische Phantasie, geraten in immer steigendem Maße unter den Einfluß eines Wirkungswillens, der frei von jeder Berechnung, aber auch frei von jeder Hemmung und Selbstkontrolle ist. Die Wirkung, die immer wieder von seiner Persönlichkeit ausgeht, ist eine immer erneute Rechtfertigung für solchen Willen zur Wirkung; und ihm selbst wird unbewußt geblieben sein, daß der Reiz seiner Persönlichkeit, das Schillernde, das Exaltierte, das bei ihm nicht unglaubhaft wirkte, seine ganz offenbar 471 homosexuelle Grundhaltung zur psychischen Voraussetzung hatte. Aber der Rest seiner Wirkung ist nicht er; der Rest ist die Bereitwilligkeit einer Zeit und eines Volkes, den, der sich als Messias bekennt, auch als Messias anzunehmen.

In dem Kreis von jungen Menschen, den Sabbatai schon von seinem 18. Lebensjahre an um sich sammelt, spielt er die Rolle eines Führers mit noch unklaren Umrissen. Er ist, äußerlich gesehen, ihr Lehrer in der Wissenschaft und den Geheimnissen der Kabbala. Aber in vielfachen versteckten und noch richtungslosen Hinweisen liegt schon seine Absicht beschlossen, ihnen als Führer in einem höheren und weiteren Sinne zu dienen. Sie zeichnet sich immer deutlicher ab als der Wunsch, vermöge seiner tiefen und – wie er meint – nur ihm allein zugänglichen Erkenntnis kabbalistischer Ideen Führer auf dem Wege mystischer Erlösung zu werden. Wenn ein solcher Gedanke an Führung und Vorbild sich ausreift, muß er fast mit Notwendigkeit bei der Gestalt landen, in der auch die Kabbala die Zusammenfassung und zugleich Auslösung aller befreienden Kräfte begreift: bei der Gestalt des Messias.

Da ist zuerst ein zögerndes Bekenntnis, zudem eines, das nicht mehr umfaßt als den Willen, auf dem mystischen Wege der Erlösung voranzugehen. Aber die Ereignisse der Umwelt, die zu ihm dringen, bringen ihn zum erstenmal in Kontakt mit der Wirklichkeit und lassen ihn begreifen, daß eine geistige, mystische, religiöse Befreiung der Juden von ihrer nationalen Befreiung nicht zu trennen ist. Er erfährt die Ereignisse des Jahres 1648 in Polen; er erfährt durch seinen Vater, der Agent eines englischen Handelshauses geworden ist, von gewissen Strömungen der christlichen Welt, die aus der Johannesapokalypse den Beginn des Tausendjährigen Reiches für das Jahr 1666 erwarten; er kennt die Lehre von den Cheble moschiach und die kabbalistische Berechnung gerade des Jahres 1648 als den Beginn der Erlösung. Ohne die Kraft, sich in einer spontanen Gebärde darzubieten, und doch schon unfähig, alle Ereignisse 472 in der jüdischen Welt anders zu begreifen als zu ihm als Mittelpunkt gehörig, entlädt sich seine tastende Unruhe in einer – man möchte sagen: vorbereitenden Manifestation. Gegen Ende des Jahres 1648, während eines Gottesdienstes, betritt er den Almemor der Synagoge und ruft den vollen Namen Gottes, den Schem ha'mforasch in die Versammlung der Beter. Es ist der Name, den, als noch der Tempel stand, nur der Hohepriester aussprechen durfte, und im Galuth nur der Märtyrer, und am Ende der Zeiten . . . nur der Messias.

Aber die Juden in der Synagoge zu Smyrna begreifen ihn nicht, oder wollen ihn nicht begreifen, vielleicht, weil ihnen dieser Mensch zu nahe und alltäglich ist, vielleicht, weil sie Furcht haben vor der plötzlichen Erfüllung. Die Rabbiner und Gelehrten der Stadt verfolgen ihn argwöhnisch in allen seinen Handlungen, besonders in seinem Wirken unter den schlichten Leuten, den Arbeitern, Fischern, Ruderknechten. Sie beargwöhnen ihn nicht als den, der den geheimen Anspruch auf das Amt eines Messias erhebt, sondern als einen Unruhestifter, der seinen Anhängern Hirngespinste in den Kopf setzt und sie zu Tumulten verführt, in denen der messianische Gedanke eine unklare, aber desto beunruhigendere Rolle spielt. So entschließen sie sich, um diesem Unwesen zu steuern, ihn mit dem Bann zu belegen.

Um den Auswirkungen dieses Bannes zu entgehen, begibt Sabbatai sich für eine Reihe von Jahren auf Wanderschaft. Er ist in Konstantinopel, in Saloniki, mehrfach in Kairo, in Gaza, Aleppo und Jerusalem. Er versucht unablässig, eine Rolle zu spielen, die mit ihren Gesten und Gebärden die anderen erraten lassen soll, was der Sinn dieser Rolle sei. In Saloniki tritt er bei einem Gastmahl vor die Rabbiner und verlangt, daß sie zwischen ihm und der Thora die Trauung vollziehen. Man rät ihm, möglichst bald weiterzuwandern. In Konstantinopel geht er mit einem Fisch, den er wie ein Kind in eine Wiege gelegt hat, durch die Straßen und erklärt den Fragenden, im 473 Zodiakalzeichen der Fische werde Israel erlöst werden. Die Rabbiner schicken ihm einen Schulmeister, der ihn zur Räson bringen soll und der Sabbatai, wie er sich widerspenstig zeigt, einfach verprügelt. Solche peinlichen Zwischenfälle berühren Sabbatai nicht. Seine Unfähigkeit, reale Lebensbeziehungen auszuwerten, bringen ihm nicht zum Bewußtsein, daß solche Vorgänge die Folge eines schiefen oder exaltierten Verhaltens sind. Für ihn sind sie Teile des Leidens, das nach jüdischer Auffassung der Messias in seinen Anfängen zu erdulden habe.

Aber wohin er kommt, findet er zugleich immer wieder einzelne Menschen, die in nähere Beziehung zu ihm treten und denen er vertraut, daß er in Wahrheit der Messias sei. Aus dieser Summe geheimer Bekenntnisse knüpft sich allmählich von Ort zu Ort, die er auf seiner Wanderschaft berührt, ein einstweilen noch lockeres Netz von Beziehungen, Anhänglichkeiten, Gläubigkeiten. Man wird nicht leugnen können, daß Sabbatais Auffassung von seiner Messianität in seinen Anfängen nichts war als ein Wunschgebilde und daß dieses Gebilde, in die Umwelt hineingespiegelt, durch den Reflex, der ihm hier und dort entgegenkam, allmählich zu einem Glauben an seine Sendung wurde. Doch ist auch dieser Glaube in den Anfängen noch mit Unruhe und Unsicherheit verknüpft, und darum bleibt es bei den symbolischen Andeutungen und der geheimen Mitteilung hier und da an einzelne. Aber die Zeit hatte soviel Bereitschaften aufzuweisen, daß er unvermeidlich auf Menschen stoßen mußte, deren Reaktion auf ihn und seine behauptete Sendung stark genug war, ihn vorwärtszutreiben, ihm die Unsicherheit des Bekennens zu nehmen und in ihm die Grenze zwischen Wirklichkeit und Vorstellung so weit zu verwischen, daß er eines Tages mit dem Glauben an seine Messianität als einer unerschütterlichen Gewißheit dastand.

Vier Menschen sind es vor allem, die ihm in der Begegnung zum Schicksal werden und die ihm – jeder auf seine Art – Entscheidendes geben. In Konstantinopel ist es der Kabbalist 474 Abraham Jachini, der ihm eine angeblich in einer Höhle aufgefundene alte Handschrift gibt, in der eine Weissagung von seinem, Sabbatais, Erscheinen enthalten ist. Diese Urkunde ist gefälscht. Sabbatai weiß es. Er verwendet sie selbst nicht, aber er läßt es geschehen, daß man sie verwendet, daß man sich auf sie als einen Beleg für seine Messianität beruft. In Kairo wird der Zoll- und Münzpächter Raphael Joseph Chelebi, ein Mann mit Ansehen und ungeheurem Vermögen, ein tief mystischer und gläubiger Mensch, sein unbedingter Anhänger und Förderer, dessen offene Hand sehr dazu beiträgt, den Kreis um Sabbatai zu vergrößern. In Gaza findet Sabbatai seinen eigentlichen Verkünder, seinen »Propheten«, Nathan Aschkenasi, auch Nathan Gazati genannt. Er ist ein Gläubiger kat' exochen, von der Gewalt mystischen Denkens und von der Wucht der latenten Erlösungshoffnung überrannt. Seine Sendschreiben, daß Sabbatai Zewi der Messias sei, gehen durch die ganze jüdische Welt und wühlen sie auf. Der Vierte ist Samuel Primo, der sich bescheiden als Sekretär Sabbatais bezeichnet. Er ist mehr. Er ist das repräsentative Wort Sabbatais, ein großer Pathetiker der Rede, der aus jeder Andeutung des Messias ein Manifest gestaltet und ihm – wenn auch letztlich vergeblich – das Amt unwiderruflich und eine Rückkehr unmöglich macht.

So, wollend und getrieben, aus halbem Zweifel gläubig gemacht, aus dem Wunsch ohne Hemmung in die Wirklichkeit hineingestürzt, entsteht dieser Messias, in dem das Messiastum ein Konglomerat aller dieser Einflüsse, nicht aber eine schlichte Notwendigkeit des Herzens war, die aus dem schweren Glauben an eine Berufung erwächst. Damals glaubte das Judentum noch an einen persönlichen Messias; und da es ungebärdig aus der Übersteigerung des Leidens und der Bereitwilligkeit nach einem Messias verlangte, nahm es diesen Messias, von dem es nur die erregenden Bekundungen, nicht aber sein Werden und seine seelische Struktur erkennen konnte.

Gegen Ende des Jahres 1665 kehrt Sabbatai nach fast achtzehn 475 Jahren Abwesenheit wieder nach Smyrna zurück. Sein Erscheinen bedeutet die Explosion eines Zündstoffes, der schon lange bereit lag und der von den ständigen Nachrichten, Gerüchten und Legenden um Sabbatai unter Druck gehalten wurde. Es ereignen sich turbulente Ausbrüche der Freude und der religiösen Ekstase, Verzückungen und Prophezeiungen, ein nicht mehr zu bändigendes Lebensgefühl, dem nach so viel überschwerer Vergangenheit endlich eine Zukunft eröffnet wird. Von der Mehrheit der Bevölkerung als Messias anerkannt, beschließt Sabbatai, das Erlösungswerk zu beginnen und dem Sultan der Türkei, dem Herrscher über das Heilige Land, die Krone vom Haupt zu nehmen. Der letzte denkbare Termin ist herangekommen. Nachdem das Jahr 1648 ohne Ergebnis verstrichen war, hatte Sabbatai das von den Christen errechnete Jahr 1666 als das Jahr der Erlösung angenommen. Am 30. Dezember 1665 macht er sich auf die Fahrt nach Konstantinopel. Vorher verteilt er die Kronen der Welt unter seine Freunde.

Von ängstlichen Juden in Konstantinopel im voraus denunziert und von der Regierung wegen seiner Absichten als Rebell für den Galgen bestimmt, wird er schon bei seiner Landung verhaftet und in das Schuldgefängnis gebracht. Wunderbarerweise geschieht ihm nichts. Sein Ruf als Messias, der einen Strom von Besuchern anzieht, lähmt selbst die Entschlußkraft der Regierung, denn auch dem Islam ist ja die Erlöseridee nicht unbekannt. Um Sabbatai seinen Anhängern zu entziehen, bringt man ihn in die Festung Abydos auf Gallipoli. Dort ereignet sich das Gegenteil des erstrebten Zweckes. Aus dem Gefängnis wird über Nacht eine königliche Residenz, in der sich Gesandte aller jüdischen Siedlungen drängen und die von überreichen Gaben aus der ganzen Welt mit einem verschwenderischen Luxus ausgestattet wird. Sabbatai thront da, auf der Höhe seiner Macht, Gebieter über Hunderttausende, die nur auf einen Wink von ihm warten, die den tiefsten Trauertag ihrer Geschichte, den 9. Ab, auf ein Wort von ihm in einen Festtag verwandeln, die 476 büßen und sich kasteien, um der bevorstehenden Erlösung würdig zu sein, die ihre alltäglichen Lebensbeziehungen auflösen, um sich für die Reise nach Palästina zu rüsten – thront da, wie seit 1600 Jahren kein Jude mehr gethront hat . . . und läßt die Zeit zwischen den Fingern zerrinnen, wie sie einem Menschen zerrinnen muß, dessen Antrieb nicht die letzte und notwendige Wahrheit ist. Ein polnischer Kabbalist, Nehemia ha' Kohen, den er zu sich befohlen hat in der Erwartung, von ihm die entscheidende Bestätigung seiner Messianität zu erhalten, wird ihm zum Verhängnis.

Man kann nicht sagen, daß er ihn entlarvt hat, denn zum Betrüger fehlte Sabbatai der Vorsatz. Aber Nehemia hat hinter der pathetischen Fassade den Menschen entdeckt, der ein Amt um seiner eigenen Wirkung willen usurpierte und dem es nicht wie eine Offenbarung zugetragen war. Nur in diesem Sinne entlarvte er den »falschen« Messias. Er opferte ihn ohne Bedenken um der Gesamtheit des Volkes willen, die von solchem Usurpator nichts, noch nicht einmal eine geistige oder gar politische Führung erwarten durfte. Er denunzierte ihn bei der türkischen Regierung als »falschen Messias«.

Sabbatai wird nach Adrianopel verbracht. Noch jetzt, wo seine Messianität nicht mehr zu befürchten ist, ist die unmäßig gewachsene Bewegung um ihn her um so mehr zu fürchten. Die türkische Regierung hat die Aufgabe, ihn mitsamt der Bewegung unschädlich zu machen, ohne ihr durch seinen Märtyrertod neue Kräfte zuzuführen. Der Plan eines jüdischen Renegaten, des Leibarztes Guidon, erreicht dieses Ziel. Er stellt Sabbatai vor die Alternative: grausamste Marterung zur Erprobung seines Messiastums oder Übertritt zum Islam . . . wenn auch nur zum Schein. Sabbatai, der von seinem Amte immer noch alles erwartet, aber ihm nie in Wirklichkeit etwas gegeben hat, kann ihm auch jetzt nichts geben. Er kann nur, wie die nackte Todesangst ihn anpackt, wieder um sich selber sorgen. Mitte November 1666 tritt er in aller Form zum Islam über, 477 erhält den Namen Mehmet Effendi, wird Türhüter des Sultans mit einem guten monatlichen Gehalt . . . und verschwindet hinter den Mauern des Serails.

Das ist der Todesstoß der messianischen Bewegung. Eine Weile hält sie sich noch am Leben dadurch, daß sie diesen ungeheuren Vorgang einfach leugnet; eine Weile dadurch, daß sie ihn legendär verklärt und sagt, nicht er, der Messias, sei Muselman geworden, sondern ein Schattenbild von ihm; und eine kurze Gnadenfrist hindurch noch mit einer sehr tiefen Begründung: der Messias muß, um alle Sünde und alle Menschen erlösen zu können, auch in alle Sünde untertauchen und in alle Formen anderer Religionen. Also ist sein Übertritt zum Islam ein Schritt auf dem Wege der Erfüllung. Es sind viele unter seinen Anhängern, die nicht nur solche Idee begreifen, sondern auch die Verpflichtung empfinden, es ihrem Messias gleich zu tun und den Turban zu nehmen. Sabbatai selbst entzündet sich von neuem an diesem Aufwallen der Bewegung. Er spielt jetzt ein armseliges Doppelspiel. Seinen Anhängern legt er im Sinne der eben umschriebenen Idee den Übertritt zum Islam nahe. Der türkischen Regierung spiegelt er vor, er wolle möglichst viele Juden zum Islam bekehren. Er ist ein kleiner, unsauberer Konspirator geworden, der endlich nach dem albanischen Dulcigno verbannt wird und dort, verlassen und zusammengebrochen, im Herbst 1675 stirbt.

Mit dem Tode Sabbatais ist die sabbatianische Bewegung keineswegs beendet; im Gegenteil: jetzt erst beginnt ihre entscheidende Auswirkung. Sie erfolgt nicht in dem Sinn, daß sich etwa an die Person Sabbatais eine große Bewegung knüpfte. Die Person dieses unvollkommenen Messias tritt verhältnismäßig schnell in den Hintergrund, und es wird sichtbar, daß es sich in dem Aufruhr dieser Jahre im Grund nicht um ihn, sondern um das Lebensproblem des jüdischen Volkes gehandelt hat. Die persönliche Anhängerschaft Sabbatais fällt nach zwei Richtungen auseinander. Eine Gruppe beharrt in dem Glauben, 478 er sei der Messias gewesen und werde wiederkehren, und man müsse ihm in allen Teilen nachfolgen, also auch in seinem Übertritt zum Islam. Es entsteht damit ein neues Geschlecht von Marranen, die sogenannten Dönmehs, die sich nach außen als Türken geben, während sie unter sich in Konventikeln leben, jüdische Bräuche pflegen und mit Ideen einer brüchigen Mystik dahinvegetieren. Sie bestehen noch heute.

Eine andere Gruppe seiner persönlichen Anhänger betrachtet seinen Übertritt zum Islam als etwas Einmaliges, das keine imitatio verlange, sondern im Gegenteil auf die Person des Messias beschränkt sei. Aber gerade von diesen Sabbatianern, die im Judentum verbleiben, gehen tiefgreifende Wirkungen aus, und 100 Jahre lang kämpft das Judentum einen verzweifelten Kampf gegen die Unruhe und gegen die Gefährdung, die aus dieser sabbatianischen Welt kommen. Dabei liegt das Beunruhigende und Bedrohende nicht eigentlich in äußerlich faßbaren historischen Vorgängen, sondern in dem, was stärker und wichtiger ist: in dem Einfluß auf die Ideenwelt des Judentums. Die historischen Vorgänge sind nur Manifestationen der aufgewühlten Idee. Wenn die westliche und die östliche Judenheit Bannfluch auf Bannfluch gegen die Sabbatianer schleudert, wenn die ganze jüdische Welt allmählich aufgerissen wird in ein Für und Wider, so geschieht das im Grunde weder für noch gegen die Anhänger Sabbatais, sondern für und gegen die Konsequenzen, die sich unter dem Ansturm der sabbatianischen Zeit aus der Entwicklung und Ausgestaltung der Kabbala ergeben. Das ging das ganze Judentum an, weil das ganze Judentum des XVII. Jahrhunderts kabbalistisch war. Es hatte in diesem Jahrhundert keine andere Ideengrundlage als die kabbalistische, und man fälscht den Sinn dieses Geschichtsabschnitts, wenn man die Kabbala als die Verirrung einiger Schwindelköpfe abtun will. Nur wenn man die kabbalistische Ideenwelt in den Mittelpunkt rückt, läßt sich der Fortgang der jüdischen Geschichte mit allen ihren Extremen, vom beschränkten 479 Ultrarabbinismus bis zum christianisierenden Frankisten, von der mystischen Religiosität der Chassidim bis zur pathetischen, aber toten Gesetzeswelt eines Mendelssohn begreifen.

In drei Kardinalpunkten greift die Ausgestaltung der kabbalistischen Theorie den Bestand des Judentums an: in der Gottesidee, im Messianismus und in der Moral, Moral hier nicht als bürgerlicher, sondern als religiöser, als ethischer Begriff. Wir haben die Entstehung der Kabbala als eine Notwendigkeit für das Judentum aufgewiesen, als ein Ventil für sein verwaistes Welt-Gefühl. Es versteht sich, daß in dem Augenblick, in dem solches Gefühl sich mit einer Theorie umkleidete, diese Theorie einer Fortbildung und Entwicklung ausgeliefert wurde. Die ursprüngliche Fassung des Gottesbegriffes und seiner Emanationen war noch klar und harmonisch. Aber unter der Einwirkung der Schule von Safed und besonders in der lurjanischen Kabbala lösen die zehn Sefiroth sich auf in eine Unzahl von Emanationen, Kräften, Strahlungen, Wirkungen, mystischen Einzelbezirken. Keine Erkenntnis und keine Einsicht reichen mehr aus, unter dem Wust solcher Mysterienwelten noch Gott zu finden oder den Zusammenhang der Welt mit ihm zu begreifen. Gott ist eines und die mystisch-mythologische Welt ein anderes. Man muß von neuem daran gehen, die Einheit zwischen ihnen wiederherzustellen.

Zwei Versuche mit diesem Ziel sind gemacht worden, der eine aus dem sabbatianischen Bezirk mit Abraham Michael Cardozo als geistigem Mittelpunkt, der andere in der chassidischen Bewegung.

Die Lehre Cardozos kommt nicht, wie der Chassidismus, in einer Massenbewegung zum Ausdruck und hat nicht, wie diese, einen plastischen und greifbaren Erfolg. Ihre Wirkung war mehr unterirdisch, aber gerade darum von einer Gefährlichkeit, die sofort die erbitterte und leidenschaftliche Opposition des offiziellen Judentums auf den Plan rief. Was Cardozo tat, war nicht mehr und nicht weniger als das Verzichten auf die 480 absolute Einheit Gottes. Er nimmt nicht Gott als den Ausgangspunkt aller Kraft, aller Sefiroth, sondern geht zurück auf eine »erste Ursache«, Siba rischona, eine Urkraft, von der weiter nichts ausgesagt werden kann, als daß sie besteht und die letzte Ursache von allem ist; die jeder begreifen kann, ohne Offenbarung, nur mit dem schlichten Verstand. Diese erste Ursache, sagt Cardozo, beten sowohl die Heiden wie die Mohammedaner wie die Christen an. Doch man darf sie nicht anbeten, weil sie nichts ist als Ursache, Urkraft. Aber sie hat als Erstes aus sich den »Gott Israels«, den Elohe Israel entlassen. Er erst ist der Schöpfer der Welt und von ihm erst werden die Geschicke des jüdischen Volkes geleitet. Während die Siba rischona noch eine Einheit ist, ist Gott androgyn. Er bildet mit der Schechina, die selbst göttlicher Natur ist, eine dynamische Einheit. Indem Cardozo so das Gebirge mystischer Wesenheiten kurzerhand beiseite drängt und damit den Ausblick auf den Begriff Gott wieder eröffnet, enthüllt er ihn zugleich in einer nur mühsam versteckten Zweieinigkeit, in einer im Grunde genommen nicht mehr monotheistischen, der christlichen Gnosis verwandten Form. Die kabbalistische Welt war gerettet; aber Gott war verloren.

Den Gegenstand der Heilslehre bildet eben diese Erkenntnis des androgynen Schöpfergottes und seiner dynamischen Einheit. Diesen wahren Gott, lehrt Cardozo, verehrte man noch bis zur Zerstörung des Tempels. Dann trat die große Verwirrung ein. Die Vorstellung der Juden vom Gottesbegriff verdunkelte sich. Was sie anbeteten, war nicht der Schöpfergott, sondern die Siba rischona. Sie waren nicht besser als die Heiden, denn auch die beteten an, was mit der nackten Vernunft begriffen werden kann und keiner Offenbarung bedarf, was folglich ohne das »Mysterium« des Glaubens ist. Das große »Geheimnis des Glaubens«, raza de'mehemanutha, ist aber von den Weisen im Buche Sohar aufgezeichnet, das in der Zerstreuung jedoch nur der richtig lesen kann, der es mit »aufgedecktem Antlitz« 481 liest. Wenn aber der Messias kommt, enthüllt sich das Geheimnis für alle, denn der Messias durchdringt es, macht es sichtbar nicht durch eine Offenbarung, die ihm zuteil wird, sondern einfach durch das Erkennen, durch einen einfachen Akt rationalistischen Denkens. Eine erstaunliche Lösung: die Welt der tiefsten Mystik entläßt aus sich den Gedanken an den Messias als »radikalen Rationalisten«.

Es konnte auf die Ausgestaltung dieser messianischen Gestalt nicht ohne Wirkung bleiben, daß die Welt den Übertritt eines Sabbatai zu einem anderen Glauben hat erleben müssen. Was die gläubigen Anhänger des Sabbatai sofort nach seiner Apostasie spontan behaupteten: der Übertritt sei erfolgt, weil der Messias, wenn er alle Völker und Glaubensformen erlösen wolle, auch in alle Völker und Glaubensformen untertauchen müsse – dieser Gedanke wird von Cardozo tief verankert in dem Missionsgedanken, der in der lurjanischen Kabbala einen so breiten Raum einnimmt. Wie es die Aufgabe jedes einzelnen Menschen ist, die unter die Gewalt der unreinen Materie gefallenen Funken des »Urlichtes« zu erlösen, so ist ein Gleiches dem Messias zugewiesen. Aber während der einfache Mensch nur das erlösen kann, was ihm in dem engen Bezirk seines Daseins begegnet, kann der Messias alle Seelenfunken erlösen, gleich, wohin in der Welt und unter welches Volk sie geraten sind. Darum muß der Messias unter alle Völker gehen; zugleich aber muß er es tun, um die Sünde des jüdischen Volkes auszulösen. Cardozo belegt diesen Gedanken von dorther, von wo auch das Christentum sich den Beweis für seinen Messias verschafft, aus dem Kapitel 53 des Propheten Jeschajahu (Jesaja). Es ist dabei anzumerken, daß er Sabbatai nicht für den erlösenden Messias ben Dawid, sondern als seinen Vorgänger, den leidenden Messias ben Ephraim begriff.

Aber tiefer noch als an der Umgestaltung dieser Begriffe des Judentums wirkt sich die Lehre Cardozos am lebendigsten Bezirk des religiösen Alltags, an der Auffassung von Moral, von 482 Ethik aus. Schon die lurjanische Kabbala geht davon aus, daß die Taten des Menschen für sich allein genommen weder gut noch böse sind, daß sie eine Bedeutung vielmehr nur da besitzen, wo der Mensch vor seiner eigentlichen Aufgabe: der Erlösung der Funken des »Urlichts« steht, denn erst dann kehrt der Mensch zu seiner geistigen Urgestalt, zum Adam Kadmon zurück. Diesem Zwecke allein dienen die Gebote und Verbote der Thora, und diesem Zweck ist auch das ganze Leben des Menschen untergeordnet. Leben ist aber nicht der Zeitraum zwischen Geburt und Tod, sondern der Zeitraum, der nötig ist, bis ein Mensch seine Aufgabe erfüllt hat. Aus dieser, mit kosmischem Gehalt geradezu geladenen Idee zieht Cardozo die Konsequenz, die sich aus einer einfachen Fragestellung ergibt: kann ein Mensch seine Aufgabe in der Weise erfüllen, daß er sie Schritt um Schritt und Tat um Tat bewirkt, oder nur als Einheit, als Gesamtheit, als Ganzheit? In der Antwort auf diese Frage enthüllt sich die Krisensituation des jüdischen Geistes. Die moralische Existenz wird nicht mehr als eine große Einheit begriffen, die in der umfassenden Idee einer Theokratie beschlossen liegt, sondern wie ein Stück Werkarbeit, das man nach und nach, stückweise erledigen kann. Hat der Mensch einen Teil seiner Aufgabe erfüllt, so ist es damit für Zeit und Ewigkeit genug getan, und wenn er auf dem Wege der Seelenwanderung wiederkehrt, so nur deshalb, um andere, noch nicht erledigte Teile seines Pensums zu erfüllen. Selbst die größte Sünde ist dann nicht mehr Sünde. Indem so ein gefährlicher Ausblick auf die Freiheit und Ungebundenheit im Bezirk des Religiös-Moralischen eröffnet wird, schaltet die Lehre Cardozos zugleich gegen diese gefährliche Auflösungstendenz eine Sicherung ein, die den Zusammenbruch einer einstmals so großen geistigen Konzeption enthüllt: der gewöhnliche Mensch weiß nicht, in welchem Stadium seines Lebensweges er sich befindet. Er weiß nicht, welche Teile seiner Aufgabe er schon gelöst hat und welche nicht. Das bedeutet, daß er nicht mehr aus 483 der Fülle seines ethischen, in Gott begründeten Wollens lebt, sondern mit der Ungewißheit, dem Zweifel, der Unsicherheit, dem täglichen »Vielleicht«. Damit wird das Wissen um den Sinn eines gläubigen Daseins abgetötet. Das ist der Tod der kabbalistischen Welt; das ist der Augenblick, in dem die alte jüdische Lehre von der Offenbarung sich in den Händen des konsequenten Mystikers in eine Chimäre verwandelt.

Wir geben diese (im Rahmen eines Überblickes) ausführliche Darstellung der sabbatianischen Lehre nicht aus theologischen, sondern aus historischen Erwägungen wieder. Denn hier – wie gesagt – sehen wir den Kernpunkt sowohl der großen, wenn auch kurzen religiösen Erneuerung im Chassidismus als auch der katastrophalen Verflachung des jüdischen Gedankens im Zeitalter der Judenemanzipation.

Indem das Judentum sich weigerte, diese Entwicklung der Kabbala sich zu eigen zu machen, war es darauf verwiesen, sich auf die Kabbala in ihrem bis dahin entwickelten Bestande zu beschränken. Darin aber lag für das westliche Judentum keine Möglichkeit. Denn es lebte nicht, wie der jüdische Osten, in einer Masse. Masse im Sinne von wirklicher Gemeinschaft – der Zahl und der Gesinnung nach – ist aber Voraussetzung für die Ausgestaltung des Messianismus als eines Gemeinschaftsproblems, als eines kollektiven und universalistischen Gedankens. So mußte der westlichen Judenheit die Kabbala überhaupt entfallen, was zur Folge hatte, daß sie eines Tages ganz ohne eine akute religiöse Idee dastand und der eindringenden »Aufklärung«, diesem Angleichen an den überschätzten Zivilisationsbestand der westeuropäischen Umwelt, entweder nichts entgegenzustellen hatte oder nur die Unzulänglichkeit einer Traditionsgebundenheit, beziehungsweise eine im liberalen Geiste gefärbte Missionsidee.

Wie jede geistige Bewegung des Diasporajudentums, steht auch die hier dargestellte vielfach unter dem Druck von Umgebung und Zeitverhältnissen. Insbesondere in Polen, dem trotz 484 der grauenhaften Dezimierung seiner jüdischen Bevölkerung immer noch die Rolle des jüdischen Massenzentrums zufiel, wurde der größte Teil aller Lebensenergie vom nackten Kampf für die Lebensexistenz absorbiert. Der Wiederaufbau der zerrütteten Gemeinschaft nach dem Kosakengemetzel war überaus mühsam. Sie hatten nicht nur den Verlust an Menschen, Vermögen, Existenzen und Organisationen auszugleichen, sondern sich darüber hinaus unter einem von allen Seiten wachsenden Druck zu behaupten. Polen war im Begriff, sich nach den Angriffen von Kosaken, Tataren, Russen und Schweden zu restaurieren. Man verstand unter der Restauration eine Verschärfung der ständischen Differenzen und eine ungewöhnlich heftige klerikale Reaktion. Es wiederholt sich der alte Zustand, daß der Adel den Bürger verachtet, der Bürger den Adligen haßt, beide zusammen den Bauern verachten und den Russisch-Orthodoxen hassen, daß der Bauer und der Russisch-Orthodoxe den Panen und den Katholiken hassen und verachten, daß aber alle zusammen in brüderlicher Eintracht den Juden hassen und verachten, es sei denn, er bringe ihnen Geld ein oder bekehre sich zum alleinwahren Glauben. Immer mehr wird der Jude der Willkür der Magistrate ausgeliefert und muß sich ihnen in Verträgen auf Gnade und Ungnade ergeben; immer von neuem fordert die Regierung Steuern; immer wieder brechen in den Städten Unruhen aus, die in den offiziellen Kundgebungen den bescheidenen Namen von »Tumulten« führen, während sie in Wirklichkeit das Ergebnis einer organisierten klerikalen Hetze sind. Der polnische Klerus, weit unduldsamer als fanatische Muselmanen, fand an den bestehenden gesetzlichen Beschränkungen der Regierung kein Genüge. Um noch weiter gehende Rechtsnachteile zu erzwingen, inaugurierte er in einem Umfange, wie es sich nirgends sonst in der Welt ereignet hat, nicht einmal in Deutschland, Ritualmordprozesse. Vor allem betätigten sich die Dominikaner nach dieser Richtung. Als ihr Terror einen Umfang erreicht hatte, der den Dominikanergeneral 485 Marinis veranlaßte, ihnen für einige Zeit das Handwerk zu legen, setzten die Jesuiten die Arbeit fort. Ein volles Jahrhundert lang, von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, werden fortgesetzt solche Anklagen erhoben. Gedungene Zeugen und auf der Folter erpreßte Geständnisse sind die Grundlage. Daß man aufgefundenen Toten, gleich, ob sie erfroren oder ertrunken waren, nachträglich Wunden beibrachte, um ein Indiz für den Ritualmord zu haben, ist erwiesen. Ein wesentlicher, auf das Gemüt des Volkes berechneter Beweis wurde auch dadurch geliefert, daß die Wunden ermordeter oder verunglückter Menschen programmgemäß zu bluten begannen, wenn man sie in die Nähe desjenigen jüdischen Hauses brachte, dessen Inhaber von dem vorgesehenen Prozeß betroffen werden sollte. Diese Technik, zu der im wesentlichen Taubenblut verwendet wurde, war sehr vervollkommnet. Hunderte von Juden wurden verbrannt, gerädert und gevierteilt. Die polnische Geistlichkeit kannte zwar den abweichenden Standpunkt Roms über solche Anklagen, aber sie kehrte sich nicht daran. Im Jahre 1756 entschließt sich Papst Benedikt XIV. auf eine dringende Beschwerde der Juden, von dem Kardinal Ganganelli ein Gutachten ausarbeiten zu lassen, um von neuem – es war ja nicht das erstemal in der Geschichte der Juden – eine grundsätzliche und für die Christenheit verbindliche Klärung der Frage herbeizuführen. Das sehr lange und gründlich vorbereitete Gutachten sagt: der Ritualmord ist genau die gleiche Erfindung, die im Altertum von der heidnischen Welt gegen die Christen benützt wurde. Aber dieses Gutachten wird nicht veröffentlicht. Der Papst macht sich folglich an den unbekümmert fortgesetzten Judenverfolgungen mitschuldig. Erst sein Nachfolger, Clemens XIII., läßt in sehr vorsichtiger Form, als habe er Bedenken, die Gläubigen in Polen um ein gewohntes und beliebtes Mittel zur Bezeugung ihrer Religiosität zu bringen, durch seinen Nunzius Visconti ein Handschreiben an den Minister Graf Brühl richten, daß die bisherigen Beweise doch nicht stichhaltig genug 486 gewesen seien, um daraus ohne weiteres auf die Existenz von Ritualmorden zu schließen. Auch August III., indem er den Inhalt dieses Handschreibens zu seiner eigenen Erklärung macht, bringt die alten Privilegien der Juden wieder in Kraft, daß solche Anklagen tatsächlich geprüft und nicht als wahr unterstellt werden dürften. Damit hört die Epidemie der Prozesse auf. Das bedeutet: wenn wirklich der Wille besteht, Recht Recht sein zu lassen, dann kommt es nicht mehr vor, daß Juden Christen ermorden.

Es ist anzumerken, daß in diesem Jahrhundert der Klerus auch aus geschäftlichen Gründen ein Gegner der Juden war. Die geistlichen Brüderschaften hatten ungeheure Vermögen angesammelt, mit denen sie selbst Kreditgeschäfte zu treiben begannen, so daß sie endlich nicht nur dem Juden erhebliche Konkurrenz machten, sondern den Kahalen sogar trotz ihrer sonstigen Einstellung und trotz des kanonischen Zinsverbotes erhebliche verzinsliche Darlehen gewährten. Karmeliter, Dominikaner, Franziskaner und selbst die Jesuiten wurden so zu Gläubigern der von ihnen bekämpften jüdischen Selbstverwaltung. Als die Kahale 1764 aufgehoben wurden, schuldeten sie der Geistlichkeit fast 3 000 000 polnische Zloty.

Das also war die Fortsetzung eines Daseins, von dem die Judenheit der Welt und mit ihr die polnischen Juden eine Sekunde lang gehofft hatten, daß es im Aufruhr der messianischen Bewegung seine Befreiung und Befriedung erhalten würde. Aber da ihnen das große Geschick versagt blieb, nahmen sie das kleine Geschick erneut auf sich. Diesesmal hatte sich ihnen in Wirklichkeit ein Stück eigener Geschichte gegenübergestellt. Da es nicht gehalten hatte, was es versprach, erledigten sie es mit eiserner Energie, fast mit Brutalität. Sobald die Tatsache vom Übertritt Sabbatais unleugbar wurde, sagten sich die polnischen Rabbiner und die Vertreter der Kahale von der Bewegung los. Auf der Synode des Vierländerwaads von 1670 ward der Cherem, der große Bann über jeden ausgesprochen, der sich noch 487 zu Sabbatai Zewi als dem Messias der Juden bekannte. Wie konnten sie sich auch dem Gedanken einer messianischen Zeit hingeben, wo ihnen noch nicht einmal der nächste Tag garantiert war? Statt die Auswanderung nach Jerusalem zu organisieren, mußten sie Selbstwehren bilden, um sich gegen die »Tumulte« in den Städten zu schützen. Statt wieder ihren Staat aufzurichten, mußten sie die letzten Kräfte ihrer Selbstverwaltung in der Fremde zusammenraffen. »Das einzige, was uns übrigbleibt« – erklärt der Vierländerwaad – »ist der Zusammenschluß zu einem festen Verbande im Zeichen unverbrüchlicher Treue gegenüber den Geboten Gottes und den Vorschriften unserer gottesfürchtigen Meister und Führer.« Das ist der Schlußstrich des offiziellen polnischen Judentums unter die sabbatianische Bewegung.

Aber diese offizielle Manifestation hat doch keine verbindliche Kraft für das Volk, das sich immer jenseits vom Alltag seinen eigenen religiösen Bezirk gesucht hat. Auch diejenigen, die sich dem Banne fügen, verbleiben dennoch in dem Bezirk, aus dem her der Glaube an einen Sabbatai möglich wurde: dem der Mystik. Sie gehen den Weg, den die deutschen Juden nach dem Elend der Kreuzzüge gingen: in die Welt des Jenseitigen, der Engel und Dämonen, der haggadischen Legenden, der Hölle und des Paradieses, der kabbalistischen Mystik, der Zauberformeln und Beschwörungen. Wieder wuchert in ihrem geistigen Raum, den die Notwehr der Selbsterhaltung von jeder Berührung mit weltlichem Wissen und Erkennen fernhielt, ein wilder Aberglaube. Es erfolgt eine Popularisierung der Religion durch das Medium des verängsteten Herzens.

Auf diesem breiten Untergrund einer popularisierten, in Aberglauben sich überschlagenden Mystik kann trotz aller Bannflüche die Bewegung um die Person Sabbatais sich mit all ihren traurigen Konsequenzen weiterentfalten. In der Zeit, da Podolien zur Türkei gehört (1672–1699), pilgern viele Juden nach Saloniki, um dort die Fühlung mit den sabbatianischen 488 Konventikeln aufzunehmen. Einer von ihnen, der Kabbalist Chaim Malach, verpflanzt diese geheimen Konventikel nach Polen. Er lehrt, Sabbatai werde sich 40 Jahre nach seiner Apostasie, also im Jahre 1706, wieder offenbaren. Die Bußbewegung, die daraufhin einsetzt, erfährt eine wesentliche Förderung durch das Auftreten des Kabbalisten Jehuda Chassid, der in Polen einen Bund der Chassidim, der »Gottseligen« gründet und der, mit Malach vereint, wirklich eine Gruppe von 1500 Menschen zur Auswanderung nach Jerusalem bewegt. Ein »Kreuzzug«, der auf eine tiefe, wenn auch verhaltene Anteilnahme der Juden in den durchwanderten Ländern, Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien, stößt. Viele kommen unterwegs um oder bleiben müde in verschiedenen Gemeinden hängen. Der Rest gelangt tatsächlich nach Jerusalem, sitzt dort und wartet auf Dinge, die nicht geschehen, lebt von Almosen und löst sich endlich enttäuscht auf. Ein Teil kehrt mit Malach nach Polen zurück (Chassid war in Jerusalem gestorben), ein Teil schließt sich den Sabbatianern an, und der Rest fällt deutschen Missionaren als Beute zu.

Die heimliche Bewegung lebt trotz dieser Enttäuschung und trotz eines von neuem über sie verhängten Bannes des Länderwaads (1721) fort und gewinnt Anhänger. Die Heimlichkeit, hinter der sich sabbatianische Gedankengänge überall verbergen, bekam um die Mitte des Jahrhunderts in Deutschland eine merkwürdige Öffentlichkeit und Aktualität. Offiziell ging es darum, daß man dem Rabbiner Eibeschütz der Gemeinde Hamburg-Altona-Wandsbeck vorwarf, er habe zum Schutze gebärender Frauen Amulette, Kameoth ausgeschrieben, in denen er auf Sabbatai Zewi als den Messias Bezug genommen habe. So sehr den damaligen Juden der Gebrauch solcher Beschwörungsformeln etwas Übliches war, so scharf verketzerten sie, insbesondere nach dem Scheitern der sabbatianischen Bewegung, alles, was noch mit ihr zusammenhing. Es entwickelte sich eine jahrelange, heftige und häßliche Polemik, in der man sich 489 krampfhaft an Beweis und Gegenbeweis für den Inhalt der Amulette hielt. Aber von allen Seiten spielen die kabbalistischen Ideen hinein und machen die tiefere Schicht dieses Kampfes sichtbar: die Unruhe, die durch die Ausgestaltung der sabbatianischen Kabbala in die jüdische Welt hineingetragen war. Eine Flut von Schriften, Sendschreiben, Briefen, Gutachten, Anklagen und Verteidigungen pro und contra entsteht, und von dem gefährlichen Mittel des Bannfluches machen beide Parteien so übermäßigen Gebrauch, bis sichtbar wird, daß diese einzige Waffe der jüdischen Disziplin jedenfalls unter der westlichen Judenheit ihre Schärfe eingebüßt hat und eine unwirksame, mißbrauchte und nicht mehr gefürchtete Kraft besitzt.

Während hier im Westen das Problem halb unterirdisch zur Diskussion gestellt wird, erfährt es zu gleicher Zeit im Osten einen heftigen Ausbruch in der Öffentlichkeit, die um Jakob Frank entsteht. Er ist türkischer Untertan, an der Grenze Podoliens und der Walachei geboren, und kommt als Händler mit Galanteriewaren und Schmuckgegenständen des öfteren nach Smyrna und Saloniki. Schon sein Vater war Sabbatianer. Frank verschreibt sich diesem Ideenkreise mit Leib und Seele. Er ist ein Mensch von geringer Bildung und geringen Eigenschaften, aber er bringt Dinge mit sich, die wohl geeignet sind, Menschen seiner Zeit und seines Umkreises zu seinen Anhängern zu machen. Da ist zunächst der Umstand, daß er – durch seinen türkischen Handel und durch Unterstützung von Freunden – auf großem Fuße lebt und sehr freigebig ist. Das ergibt die Karikatur eines fürstlichen Auftretens, die immer noch wirksam genug ist, verarmten Menschen als Glanz zu erscheinen. Sodann bringt er eine neue kabbalistisch-sabbatianische Theorie mit sich, die, obgleich ohne tiefere und zwingende Begründung, doch denen etwas zu geben vermag, denen jeder Weg zu vermehrter Versenkung in mystische Vorstellungen recht ist. Bei ihm ist die Trinität des Göttlichen schon ganz offensichtlich, aber auch ganz flach. Er unterscheidet den »heiligen Uralten«, also Gott, 490 den »heiligen König«, von dessen Verkörperung er behauptet, daß sie in Sabbatai erfolgt sei, und die Schechina oder die Matronita, die er als die weibliche Hypostasie der Gottheit darstellt. Entscheidend aber für den Einfluß, den er gewinnt, ist die Nutzanwendung, die er aus seiner Lehre zieht. Er räumt das ganze talmudische Lehrgebäude mit einer lässigen Handbewegung zur Seite. Als heilig gilt ihm allein der Sohar. An die Stelle der harten und verpflichtenden Bindungen des Talmud und an die Stelle der Askese, wie sie in der lurjanischen Kabbala begründet ist, setzt er das erotische Mysterium. Die Idee vom androgynischen Schöpfergott, wie Cardozo sie mit einem letzten Einschlag naturhaften Empfindens konzipiert hatte, wird bei ihm zu einem materiellen und handgreiflichen erotischen Symbol, das nicht nur gedacht, sondern in den mystischen Versammlungen tatsächlich durch eine Frau dargestellt wird. Es entsteht die unvermeidliche Folge, daß der Mystizismus, wie sonst zur Askese, jetzt in sein eng verwandtes Gegenteil, die sexuelle Hemmungslosigkeit ausschlägt. Einen ähnlichen Weg waren die letzten Anhänger Sabbatais in Saloniki gegangen. Aus der Idee, daß die Erlösung nur einer völlig gerechten oder aber unmäßig sündigen Welt zuteil werden könne, entschlossen sie sich, da ihnen die völlige Gerechtigkeit unerreichbar schien, zur völligen Sündhaftigkeit. Sie betätigten sie durch hemmungslose sexuelle Promiskuität. Frank predigt das gleiche Verhalten, aber aus ganz anderer und viel wirksamerer Begründung: was bei den Sabbatianern Mittel zum Zweck ist, ist bei ihm Kult, fast möchte man sagen »Gottesdienst«. Er bringt den armen Mystikern Freiheit von der Last des Gesetzes, Auflockerung ihrer streng gebundenen Sittlichkeit und damit eine – wenn auch falsch verstandene und falsch angewendete – Lebensfreude.

Alle diese Elemente zusammengenommen verschaffen ihm sehr schnell die Rolle eines Sektenführers. Es scheint, als habe er sich für eine andere Inkarnation des Sabbatai gehalten. Er 491 läßt sich von seinen Anhängern als Santo Señor anreden. Er hat sicherlich an sich selbst und die Richtigkeit seiner kabbalistischen Theorie geglaubt; aber da dies im Bezirk der Sekte geschah und nicht – wie bei Sabbatai – auf der Ebene des großen messianischen Gedankens, konnte seine Konzeption auch nur das kleinere Format der Sekte haben, die bei jeder Begegnung mit der Wirklichkeit und gegenüber jedem Widerstand, auf den sie trifft, in Gefahr steht, dem Extrem zu verfallen und aus der Opposition heraus zu handeln. Denn so wahr jede große Bewegung nach einem utopischen Ziele hin lebt, geht die Sekte von einer unselbständigen, von einer lebendigen Idee abgezweigten Sonderzielsetzung aus. Darum können Bewegungen eine Beschließung erfahren, Sekten hingegen nur einen Verfall.

Der Verfall der frankistischen Sekte muß dargestellt werden, nicht weil er greifbare historische Folgen für die jüdische Geschichte hat, sondern weil daran der Weg sichtbar wird, in dem das eine Extrem der jüdischen Entartung verläuft. Wir verstehen hier unter Entartung den Verlust der Fähigkeit, den Richtungssinn noch zu begreifen, der in der Idee der jüdischen Gemeinschaft beschlossen liegt.

In den Frankisten ist von Anfang an ein oppositionelles Element, das schon in ihrer Selbstbezeichnung als Kontratalmudisten oder Soharisten zum Ausdruck kommt. So im bewußten Gegensatz zur Umgebung – die trotz der kabbalistischen Einstellung talmudgläubig bleibt – wird ihnen das Leben in ihrem Zentrum Lemberg so schwer gemacht, daß sie sich nach der kleinen Stadt Lanzcoron zurückziehen. Dort werden sie, Anfang des Jahres 1756, von der jüdischen Bevölkerung bei der Ausübung ihrer orgiastischen Kulte ertappt. Frank, als türkischer Staatsangehöriger über die Grenze abgeschoben, überläßt seine Anhänger ihrem Schicksal. Es konstituiert sich ein Rabbinatsgericht, das alles, was es an Frankisten und Sabbatianern erreichen kann, vor sein Forum zieht. Schwere Bußen werden gegen die Reumütigen verhängt, der große Bann gegen die 492 Widerstrebenden. Im Anschluß daran führt die Rabbinerkonferenz von Brody einen schweren Schlag gegen alle Sektierer: sie werden samt und sonders in den Bann getan. Sodann wird – man erinnere sich des Kulturkampfes im 13. und 14. Jahrhundert – jedem Juden untersagt, vor dem 30. Lebensjahr den Sohar und vor dem 40. Lebensjahr die Schriften des Ari zu lesen. Dieser Bann hatte im jüdischen Osten noch die Wirkung, die Gebannten völlig außerhalb der Gesellschaft und damit außerhalb jeder Anlehnung und jedes Rechtsschutzes zu stellen. Sabbatianer und Frankisten gerieten damit in eine gefährliche Situation. Die Konsequenz des Kabbalismus machte sie, eigentlich wider ihren Willen, zu Gnostikern. Ihre Anhängerschaft an Sabbatai machte sie zu Sektierern. Beides machte sie zu Feinden des offiziellen Judentums, folglich zu Ausgestoßenen. Der Weg nach rückwärts war ihnen abgeschlossen. Der Weg nach vorwärts landete im Christentum. Als Darstellung solcher prinzipieller und genereller Möglichkeit ist die ganze Bewegung von ungewöhnlicher Wichtigkeit, viel wichtiger als der Rabbinismus, der schließlich hier wie überall sonst eine rein konservierende Funktion erfüllt hat.

Die Einmischung der christlichen Kirche, die in der Entwicklung der kabbalistischen Gottesidee schon immer eine starke Hoffnung für ihr unaufhörliches Missionsbedürfnis erblickt hat, kann nicht ausbleiben. Der Bischof Dembowski mischt sich in diesen internen Kampf, der ihn nichts angeht, mit dem Verlangen ein, daß beide Parteien sich vor ihm rechtfertigen sollen. Die Sektierer greifen zu und gehen den Bischof um einen Schutzbrief an. Er stellt die Bedingung, daß sie sich öffentlich vom Talmud lossagen. Es fällt ihnen als Kontratalmudisten nicht schwer, das zu tun. Dann zwingt der Bischof die Rabbiner zu einer öffentlichen Diskussion mit den Sektierern, die dafür eine Reihe von Thesen aufstellen, unter anderem: Gott umfasse drei Personen und sei doch unteilbar; er könne sich in Menschengestalt offenbaren, und . . . der Messias werde nie wieder 493 erscheinen. Gegen diese gewollte Christianisierung des Judentums sind die Rabbiner machtlos, zumal Dembowski sich selbst zum Schiedsrichter aufwirft. Sein Urteil lautet auf Prügelstrafe gegen diejenigen, die den Vorfall in Lanzcoron aufgedeckt haben, auf hohe Geldstrafen gegen den Kahal und auf Verbrennung des Talmud im Bistum Podolien. Als Abschluß dieser Episode erteilt August III. den Anwärtern auf seinen Glauben einen Schutzbrief, »weil sie sich von dem gotteslästerlichen Talmud losgesagt und zur Erkenntnis des dreieinigen Gottes emporgeschwungen haben.«

Mit diesen Vorgängen sind die Frankisten eine halb christliche Sekte geworden. Zu ihrem Aufgehen im Christentum fehlt nur noch ein letzter Anstoß. Frank, der nach einigen Jahren wieder nach Polen kommt und sofort seine Führerstellung wieder einnehmen kann, gibt ihn, indem er die sabbatianische Lehre von der notwendigen Apostasie wieder aufnimmt und variiert: die Anhänger Sabbatais müßten, gleich ihm, auf dem Wege zur Erlösung durch das Medium eines anderen Glaubens gehen. Im gegebenen Falle kam natürlich nur das Christentum in Frage. So erklärt die Sekte, 15 000 Mitglieder stark, dem Erzbischof von Lemberg im Jahre 1759 ihre Bereitwilligkeit, zum Christentum überzutreten. Sie knüpfen daran Bedingungen eigener Art: sie wollen sich in geschlossener Kolonie an zwei galizischen Orten ansiedeln, wollen das Recht haben, jüdische Tracht und einen Bart zu tragen, kein Schweinefleisch essen zu müssen, neben dem christlichen einen jüdischen Namen zu führen, neben dem Sonntag den Sabbat zu halten, den Sohar als heiliges Buch verehren zu dürfen und nur unter sich zu heiraten. Das ist der Bodensatz eines in Vorschriften entglittenen Judentums.

Diese Bedingungen, die zu durchsichtig sind, um für die christliche Kirche annehmbar zu sein, werden zwar abgelehnt, aber es wird ihnen in einer großen öffentlichen Diskussion in der Kathedrale zu Lemberg, die sich vom Juli bis zum November 494 1759 hinzieht, Gelegenheit gegeben, unter Assistenz des katholischen Klerus gegen 40 sehr unfreiwillig erschienene Rabbiner eine Reihe von Thesen zu verteidigen: daß alle Prophezeiungen der Propheten über das Kommen des Messias schon erfüllt seien, daß Gott selbst in seiner Inkarnation als Adonai erschienen und um der Erlösung der Menschen willen das Martyrium auf sich genommen habe, daß man nur durch die Taufe zur Teilnahme an den Segnungen der Erlösung kommen könne und . . . und daß der Talmud den Gebrauch von Christenblut vorschreibe. Ein Gaukelspiel ins Mystische entglittener und aus dem Mystischen wieder abgestürzter Menschen, die im letzten Akt unter dem Schutz eines hohen Patronats der verlassenen und verratenen Gemeinschaft den Fußtritt versetzen.

Nach dieser sensationellen Diskussion erfolgt der massenweise Übertritt der Sektierer zum Christentum. Sie werden samt und sonders in den polnischen Adelsstand erhoben. Die besten Familien des polnischen Adels übernehmen die Patenschaft. Frank, seiner Würde gemäß, geht sogar den König selbst um dieses Ehrenamt an; und mit Erfolg. Die Taufe wird mit großer öffentlicher Feier in Warschau vollzogen.

Nun tritt die Bewegung in das hilflose Stadium des bewußten und unbewußten Betruges. Es sind Marranen ohne Größe und Opferhaltung, denn trotz der Taufe wollen sie natürlich Juden bleiben, und Frank selbst führt seine Rolle als Santo Señor so lange weiter, bis die Kirchenbehörden ihn verhaften und 12 Jahre (1760–72) im Kloster Czenstochau festsetzen. Er beginnt eine schmähliche Nachahmung des Daseins des Sabbatai, das Konspirieren mit seinen unentwegten Anhängern, das Werben um neue Nachfolger, das geheime Angebot an den russischen Zaren, daß er mit 20 000 anderen Juden bereit sei, zum griechisch-orthodoxen Glauben überzutreten, ein Gemisch von Selbstüberzeugung und Hochstapelei, wobei am Ende nichts übrigbleibt als der krankhaft gesteigerte Wunsch, sich selbst im Zentrum einer mystischen Verehrung zu sehen. Wie er durch 495 die erste Teilung Polens aus seiner Haft befreit wird, zieht er nach einem vergeblichen Wirkungsversuch in Österreich nach der Stadt Offenbach bei Frankfurt. Er kauft sich dort das Schloß des Fürsten Isenberg, nennt sich Freiherr von Offenbach und hält mit Hilfe seiner Tochter Eva, der »heiligen Herrin«, noch 5 Jahre sein Ansehen und seine Stellung aufrecht. Mit seinem Tode, 1791, bricht auch die Sekte auseinander.

Mit einem letzten Stück Aktualität bleibt der Rest seiner Bewegung dann noch in der Wirklichkeit verhaftet. Die Neophyten, jetzt polnische Adlige, machen wie die Marranen in Spanien von ihrer Freiheit den denkbar weitesten Gebrauch und erringen soziale Stellungen, was den alten polnischen Adel entsetzt zu Abwehrmaßnahmen greifen läßt, »damit jener Schlag der Neophyten die angestammte Schlachta im Laufe der Zeit nicht in den Schatten stellen könne«.

 


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