Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Theokratie

Jeder Eroberung, bei der der Eroberer sich im Lande niederläßt, folgt das Nachspiel kultureller Kämpfe. Wir wissen, daß oft der Eroberer im Ergebnis der Besiegte ist. Der gleiche Vorgang bahnte sich auch nach der Landnahme der Jisraeliten an. Das Besondere dieses Prozesses ist aber, daß nach einem anfänglichen Schwebezustand weder so noch so eine Ausgleichung zwischen Eroberern und Eingesessenen stattfand, sondern eine verstärkte Eigenentwicklung der Eroberer und eine fortschreitende geistige Isolierung. An sich waren alle Voraussetzungen für eine Angleichung und sogar für eine Vermischung gegeben. Die Jisraeliten waren in der Minderheit. Phönizier, Philister, Aramäer, Idumäer, Moabiter, Amalekiter, Ammoniter, Araber und Halbaraber umgaben sie in einem dichten Kreis und wohnten zum Teil als feste Einsprengsel unter ihnen. Sie waren in Ackerbau, Handwerk und Handel auf einer beachtlichen Stufe der Entwicklung. Sie hatten auch schon ein ausgebildetes religiöses Gefüge, das sich trotz aller lokalen Verschiedenheiten in 26 Sitten und Kulten einheitlich auf älteste babylonische Religionsauffassung bezog.

Die kanaanitischen Kulte waren Bodenkulte, Ausdruck der Naturkräfte, insbesondere der Kraft, die die Erde befruchtet. Diese Kraft oder dieser Gott, Baal genannt – oder auch, dem Gehalt nach der gleiche, Dagon bei den Philistern, Milkom bei den Ammonitern – ist also der Gott des Landbaues und ist damit an den Ort gebunden. Folglich beschützt er auch den jeweiligen Ort, der ihn errichtet. Er findet, konsequent aus dem Naturbegriff gedacht, seine Ergänzung in dem weiblichen Prinzip der Göttin Baala oder Baalti oder Astarte. Die Übertragung des göttlichen Schutzes auf das einzelne Anwesen erzeugt im weiteren eine Reihe von Hausgöttern. Die Untertänigkeitsbeziehung zwischen den Menschen und ihren Gottheiten dokumentiert sich vorwiegend in der Form der Opfer jeden Grades, von Naturalspenden bis zur Darbringung der Jungfrauenschaft und bis zum realen Menschenopfer.

Mit Ausnahme der Philister, die sich schon durch ihre barbarische Behandlung der Gefangenen als Verwandte der Griechen ausweisen, schöpften die kanaanitischen Völker ihre sozialen und rechtlichen Auffassungen aus der gemeinsamen Quelle altorientalischen Rechtes. Von da nahmen auch die beiden großen Gesetzeskodifikationen der Babylonier und der Hebräer ihren Ausgang. Wenn sich also die jisraelitischen Stämme einem solchen numerisch und kulturell starken Gefüge gegenüber behaupten wollten, mußten sie schon beachtliche Kräfte einsetzen. Das taten sie, und zwar sowohl in ihrem ererbten Bestande als auch mit der Stoßkraft der neuen Idee, die in ihnen lebte. Was sie auf ihren Wanderzügen durch Generationen an Kulturgütern gesammelt hatten, war schon sehr früh zu einem derartigen Abschluß gelangt, daß es im »Bundesbuch« fixiert werden konnte. Es kam jetzt darauf an, ob die darin enthaltenen Gesetze sich hier, unter völlig veränderten Bedingungen, bewähren würden. 27

Auch ihre Religion hatte sich zu bewähren. Ihre religiöse Vorstellung beschränkte sich in den Anfängen auf die Anerkennung einer göttlichen Macht schlechthin. Sie wird durch den Begriff El oder Elohim ausgedrückt. Von Anfang an verhindert die nomadische Lebensweise, daß solcher Begriff sich als an den Boden gebundener Gott materialisiert. Folgerichtig haben die Jisraeliten das Stadium des Polytheismus einfach übersprungen. Es mag jeder Stamm sich diesen Gott nach persönlicher Veranlagung geformt haben, aber in jeder Formung – und das ist das Entscheidende – lagen schon die gleichen Grundelemente des Monotheismus: ein Gott, der nicht durch ein plastisches Bild fixiert und der nicht an den Ort gebunden wird. Jeder Stamm hat seinen Gott; aber er ist ein monotheistischer Gott. Sie trieben Eingötterei.

Eine Generation vor der Landnahme erleben sie den entscheidenden Umbruch, der sie für alle Zeiten aus dem allgemeinen Gefüge hebt: sie erfahren ihren Gott, der ihnen allen gemeinsam ist. Sie erfahren ihn wie die endgültige Enthüllung einer uralten Erbschaft. Sie erfahren, daß die allgemeine, schwebende Vorstellung einer übermächtigen Gewalt sich im letzten Erlebnis zu einer Idee verdichten läßt.

»Gott redete zu Mosche,
»er sprach zu ihm:
»Ich bin Jahve.
»Ich gab mich Abraham, Jizchak und Jaakob zu schauen
»(in meiner Eigenschaft) als den gewaltigen Gott.
»Aber (in meiner Eigenschaft) als Jahve habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben.«

Das tut er jetzt. Es geschieht in einer besonderen Form und mit einem besonderen Inhalt, beide wichtig, weil sie beide fortdauernd sind. Die Form ist das Bündnis zwischen einem Volk und einer Gottheit. Dieses Bündnis wird freiwillig geschlossen. Niemand zwingt sie dazu, wenn nicht ihr Bedürfnis nach religiöser Ausschließlichkeit. Der Inhalt des Bündnisses ist in der 28 Ausschließlichkeit der Gotteseinheit begründet und in der Aufrichtung sittlicher Verpflichtungen. Es wird von diesem Augenblick an nicht mehr nackt in den Tag hinein gelebt, nach Laune, Zufall und Gutdünken. Es wird fortan die Tat des Alltages wesentlich gemacht, mit sittlichem Gewicht versehen, mit einem höheren Sinn ausgestattet. Es wird ihnen angeboten, sich mit dem Göttlichen zu verbinden. Sie entschließen sich, ja zu sagen. Sie tun es angesichts eines Übermaßes von Verpflichtungen, die ihnen daraus erwachsen, und angesichts vieler Drohungen, die ihnen sagen, daß es kein Zurück mehr gibt, wenn sie einmal ja gesagt haben. Denn dieser Gott, den sie da begreifen, den sie da konzipieren, zu dem hin zu entwickeln sie sich entschließen, duldet weder das Ausweichen noch die Unentschiedenheit. Zwar die Verheißung ist groß:

»Und jetzt, hört ihr gehorsam auf meine Stimme und wahrt ihr meinen Bund,
»dann seid ihr mir
»aus allen Völkern ein Sonderschatz.
»Denn mein ist die ganze Erde.
»Ihr aber
»sollt mir sein
»ein Reich von Priestern,
»ein heiliger Stamm.«

Aber die Erfüllung der Verpflichtungen steht unter der Wachsamkeit eines eifernden Gottes, der nicht mit sich markten läßt. Er betont immer wieder die Ausschließlichkeit seiner Existenz und seiner Forderungen: Er oder niemand, alles oder nichts. Man muß endlich einmal mit dem aus Fehlübersetzung und Fehlbetrachtung geborenen Begriff »Gott der Rache« aufhören. Den hat es nie gegeben. Es gibt den »Gott des Eifers«, und zwar einen, der nichts für sich selbst verlangt. Er ist ja kein Mensch, den man durch Tun oder Versagen kränken könnte. Nicht einmal Opfer sind ihm wesentlich. Er verlangt das unbedingte Verhalten vom Menschen zum Menschen, und von ihm deshalb, damit der Mensch eine reine und 29 beseelte Kreatur werde. Es ist dabei nicht entscheidend, daß das Ziel dieses Bundes immer weitab von der Verwirklichung stand. Es genügt, daß das Bemühen lebendig und fruchtbar geblieben ist.

Was sich da vor der Landnahme anbahnt, ist also nichts anderes als die Errichtung der Theokratie. Die Stämme haben wohl jeder für sich eine Führung, aber keiner von ihnen und insbesondere nicht die Gesamtheit der Stämme haben irgendein Oberhaupt für ihre religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten. Ihr Oberhaupt ist vielmehr der Gott, wie sie ihn begreifen und wie sie ihn geschaffen haben. Und er wird ihnen zum Schicksal. Mit der Sekunde des Auftretens Mosches geschehen ihnen unaufhörlich Dinge, die sie in der Besonderheit ihrer jungen innern Einstellung mit wachsendem Bewußtsein erleben, wenn auch nicht immer mit letzter Konsequenz. Das gibt auch ihrem Zusammenstoß mit der neuen Umgebung die besondere Note.

Ihren Landhunger stillen konnte nur die unmittelbarste, nächste Beziehung zum Boden. Sie mußten notwendig Ackerbauer werden. Sie begaben sich damit in tausend alltägliche Berührungen zu den Eingesessenen, waren bei jedem Tausch und Kauf, bei jeder Saat und Ernte von den einheimischen Gewohnheiten und Zeremonien abhängig. Je zerstreuter sie wohnten, desto schwerer wirkte sich die unvollendete Eroberung aus und desto mehr waren sie auf friedliches Zusammenleben mit der Urbevölkerung angewiesen. So nahmen sie nicht nur an ihren Bräuchen und Kulten teil, sondern begannen auch, insbesondere in den Randgebieten, sich durch Eheschließungen mit der Umgebung zu verschmelzen. Sie übernahmen die Kulte der lokalen Baal-Gottheiten, sie legten den Grund zu ihren Jahresfesten aus den bäuerlichen, landhaften Anschauungen der Umgebung, sie bildeten ihre Lebenskultur nach dem Vorbild der Städte, in die sie den Überschuß ihrer Ernten trugen – mit anderen Worten: sie waren unmittelbar nach der 30 Landnahme im Begriff, sich ihrer Umgebung zu assimilieren und in ihr als eine zugewanderte Minderheit aufzugehen.

Daß es nicht dazu kam, sondern bei aller Bedrohung der eigene Kern wuchs, lag zunächst an einem sonderbaren, man könnte sagen: »religiösen Doppelleben«, das sie führten. Alle Hinneigung zu den örtlichen Baalkulten verhinderte nicht, daß alles, was sie als Gesamtheit unternahmen, ihrem eigenen Nationalgott unterstellt wurde. Sobald es um den Zusammenhang und das Ganze ging, gab es nur den einen Gott und die theokratische Idee. Der Baal mochte ihre Ernte segnen und ihre Kaufverträge sichern. Aber die Kriege, in denen sie sich gegen ihre Vernichtung wehrten, führte Jahve. So, während sie Baal dienten, wuchs Jahve weiter in ihnen, blieben sie auf dem Wege zum einmal gesetzten Ziele. Alles, was sie taten, war im eigentlichen Sinne nicht »Abfall« von Gott, sondern Hin-Entwicklung zu ihrem Gottesbegriff. Sie hatten unter sich auch noch eine stets lebendige Repräsentation ihrer Idee, das Priestertum in Silo, wo die Lade des Bundes zur Aufstellung gelangt war. Wenn Silo auch nicht das praktische und politische Zentrum werden konnte, so war es doch ein ideales, imaginäres Zentrum von nicht zu unterschätzender Bedeutung, der sichtbare Ausdruck ihres theokratischen Systems.

Es ist also das, was seit dem Auszuge aus Ägypten an Elementen äußerer und innerer Einigung geschaffen worden ist, in ihnen am Leben geblieben. Als Schutz gegen die drohende Assimilierung kann auch nur ein geistiges Gebot von ungewöhnlicher Kraft begriffen werden. Das kommt nicht nur bei den inneren, sondern besonders stark bei den äußeren Gefahren ihrer Situation zum Ausdruck. Aus vielen Richtungen her bedroht sie der Untergang. Soweit die eingesessenen Völkerschaften sich von dem ersten Ansturm der Eroberung erholen konnten, gingen sie allmählich zum Angriff oder zur Verdrängung der Jisraeliten über. Wo das wegen der Dichte der jisraelitischen Siedlung nicht der Fall war, suchten die einst 31 besiegten Völkerschaften oder in den Randgebieten auf Eroberung ausgehenden Stämme durch Einfälle, Raubzüge und wohlvorbereitete Kriege die gerade zur Ruhe gekommenen Ansiedler zu vernichten. Keine Zugehörigkeit zu irgendeinem Baalkult und keine Form der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Assimilation schützte die Jisraeliten davor, von der Umgebung als zusammengehörige Gegner angesehen und bekämpft zu werden. Die Verteidigung war also notwendig Sache der jisraelitischen Gesamtheit, ein Umstand, der zur Herausbildung eines Kernes und zur Steigerung des nationalen Ich-Gefühls beitragen mußte, zugleich aber auch zum weiteren Wachstum ihrer religiösen Idee. Ihren sichtbaren Niederschlag findet diese Entwicklung in der Erscheinung der Schoftim oder Richter.

 


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