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Dreihunderttausend wandernde Menschen, gekennzeichnet mit dem Stigma der Fremdheit, der Unheimlichkeit und des Unglücks, lebendige Beweise dafür, daß der ohnmächtige Haß einer Religion und das ohnmächtige Erdulden eines Volkes immer noch eines Wachstums fähig sind – dreihunderttausend solcher Menschen, auf Landstraßen und Schiffen, in Häfen und Ortschaften den Rand des Mittelmeeres abstreifend, müssen auch eine stumpfe Welt dazu bringen, den Atem anzuhalten. Sie hält ihn an; aber nur eine Weile, bis ihr zu Bewußtsein kommt, daß ihnen hier die Vorsehung vogelfreie Menschen und vogelfreien Besitz ausgeliefert hat. Mit ganz verschwindenden Ausnahmen in Italien werden die wandernden Scharen da, wo sie auf Christen stoßen, ausgeplündert, ausgehungert, ins Meer geworfen, an afrikanischen Küsten ausgesetzt, geschändet und zwangsgetauft. Mit ganz verschwindenden Ausnahmen in den fanatischen Bezirken Nordafrikas werden sie überall da, wo sie auf Muselmanen stoßen, als Träger von Intelligenz, Gewerbefleiß und staatsbürgerlicher Loyalität aufgenommen. Jahrelang treiben diese Menschen umher, dezimiert durch Krankheiten, Hunger, Schiffbruch, Mord, auf den Feldern zuweilen Gras fressend wie das Vieh, bei jeder Landung umlagert von Mönchen, die die verhungerten Kinder mit einem Stück Brot in der Hand zum Taufbecken locken.
Es dauert fast ein halbes Jahrhundert, bis der Rest zur Ruhe kommt. Überall waren Splitter hängengeblieben, in Italien, auf den griechischen Inseln, in Nordafrika, in Ägypten, in Palästina. Der größte Teil findet Aufnahme in der neuentstehenden Türkei, dem Osmanenreich, das vom 14. Jahrhundert an dem wiederhergestellten und völlig lebensunfähigen griechischen Byzanz nach und nach ein Ende macht. Mit dem Eindringen in Europa (Ende des 14. Jahrhunderts), der Eroberung von Konstantinopel (1453) und der Einnahme von Palästina 426 und Ägypten (1517) entsteht ein riesenhaftes Reich, das zwar keine kulturellen Leistungen hervorbringen und daher auf den Juden keinen geistigen Anreiz ausüben kann, das ihm aber seine Existenz gewährleistet, das ihm Ruhe verschafft, wirtschaftliche Betätigung ermöglicht, ihm eine eigene innere Verwaltung erlaubt und – was für den geschichtlichen Fortgang fast entscheidender ist – ihm einen Besinnungszeitraum gibt, aus seinem Geschick die geistigen Konsequenzen zu ziehen.
Dieses Ausweichen nach dem Osten, dieser Rückschlag der Pendelbewegung muß angesichts der geistigen Konstitution des Juden mehr sein als eine nur geographische Tatsache. Es bedeutet zugleich ein tieferes Ausweichen in die intimen Bezirke eines östlich orientierten Geistes. Beides, das geistige und das geographische Ausweichen, sind doppelspurig. Die Vertreibung aus dem Westen schafft zwei neue östliche Sammelbezirke: die europäisch-asiatische Türkei und die polnischen Länder. Sie gibt zugleich den entscheidenden Impuls für die Formulierung eines doppelten Extrems der geistigen Haltung: für den kodifizierten Rabbinismus und für die praktische Kabbala. Beide religiösen Denkformen entstehen hier in der Türkei, um dann nach dem anderen östlichen Zentrum, Polen, entlassen zu werden. So wird, über die Zersprengung des jüdischen Weltzentrums hinaus, sofort der geistige Kontakt wiederhergestellt, so wie der geographische Kontakt sich in ganz kurzer Zeit herausbildet durch die schnelle Ausbreitung der jüdischen Siedlungen in der europäischen Türkei, durch die Entstehung von Niederlassungen bis in die Moldau und Walachei hinein. Im Westen ist die Kette der jüdischen Siedlungen unterbrochen. Im Osten wird sie wiederhergestellt. Das hartnäckige Ringen des heimatlosen Volkes um die Erhaltung der subjektiven Geschichtsgewalt beginnt von neuem. Zugleich beginnt die Krise der geistigen Entwicklung.
Wir haben zu wiederholten Malen auf den ewig akuten Gegensatz zwischen Gehirn und Herz, Halacha und Haggada, 427 Rabbinismus und Mystik, hingewiesen. Dieser Gegensatz ist im Grunde nichts anderes als das immer erneute Bemühen um Lebensgestaltung, der immer neue Anfang, dieses wunderbare und große Geschenk, mit dem das Judentum begnadet worden ist. In solchem Bemühen ist nicht nur der Erfolg eingeschlossen, sondern auch das Versagen; nicht nur der Fortschritt, sondern auch der Rückschritt; so wie es für das wirkliche Bemühen überhaupt keine Wahrheit gibt, sondern nur das Streben, den Drang. Dem liefern sich die Juden in der Türkei aus, sobald sie auch nur den geringsten Raum zum Leben wieder erobert haben.
Man sollte meinen, daß dieses Volk, das sich wieder seiner ursprünglichen Heimat nähert und – wenn auch zu einem geringen Teil – in der Heimat selbst, in Palästina sich niederläßt, aus dieser Rückkehr zu einer besonderen Produktivität gelangen müßte. Die Mehrzahl von ihnen waren doch Sephardim, spanische Juden, Erben jener Gruppe, in der ein Jehuda Halevi seine Zioniden gesungen hatte. Warum verdichten sich nicht alle Energien darauf, jetzt Palästina wieder zu einem wirklichen Zentrum zu machen? Es waren nicht nur politische Gründe, die das unmöglich machten; es unterblieb nicht nur deshalb, weil in Jerusalem der Mönch und der Derwisch hausten. Es unterblieb aber auch nicht deshalb, weil etwa der Impuls gestorben und das Heimverlangen verkümmert waren. Sondern es unterblieb, weil inzwischen die Idee der Heimkehr in die eigene Heimat eine ungeheure Sublimierung erfahren hatte. Es genügte schon nicht mehr, nach Palästina zu gehen, um daheim zu sein. Die Idee der Heimkehr, der Messianismus, hatte längst die letzten Spuren seines politischen Gehaltes abgestreift. Die Idee ging wieder über den ursprünglichen Weg, über den reinen Erlösungsglauben. Nicht die Heimkehr von Menschen war das Entscheidende, sondern die Heimkehr vollkommener Menschen. Darin war das tausendjährige Exil als Tatsache eingefangen und verankert; als eine Tatsache ohne 428 historisches Gewicht; als eine Tatsache von ausschließlich sittlicher, religiöser, geistiger Bedeutung. Die Diaspora als das äußere Geschehen war nicht von ihnen gewollt und folglich nicht von ihnen zu verantworten. Aber da sie darin leben mußten, verliehen sie ihr die eigene Sinngebung: Schicksal, das sie zur Erlösung hin reifen lassen sollte. Darum gehört die Diaspora in ihrer Tatsächlichkeit zur Geschichte der Juden; aber in ihrer Wesenhaftigkeit gehört sie zur Geschichte des Judentums.
In solcher Idee begegnen sich hier auf dem Boden der Heimat und in ihrer Nähe die vertriebenen sephardischen und die vor den Verfolgungen der übrigen westeuropäischen Länder geflüchteten Juden, die Aschkenasim. Das geistige Leben nimmt eine verstärkte Intensität an. Sie denken und schreiben in einem Ausmaße, daß man die Summe dieser Tätigkeiten schon als Produktivität ansprechen könnte. Und dennoch tragen sie den Keim der Entartung in sich, weil hier wieder einmal – wie bei jedem gesteigerten Schaffensprozeß und Erlebnisvorgang im jüdischen Bezirk – sichtbar wird, daß sie mit Fiktionen der Wirklichkeit leben, nicht mit einer nach ihrem Eigengewicht spürbaren Wirklichkeit.
Vor allem obliegt ihnen, die Frage zu beantworten, warum dieses hoffnungsvolle Zentrum in Spanien zerbrach. Sie antworten nicht: weil wir unter der einzigartigen Bedingung der Fremdheit und Besonderheit lebten und weil uns dabei die fleischgewordene Brutalität in der Verkleidung der Gläubigkeit begegnete. Sondern sie antworten, wie der Gelehrte Joseph Jabez es tat: »Um deswillen, weil wir die heilige Thora im Stiche ließen, uns der weltlichen Wissenschaft zuwandten, profaner Weisheit huldigten.«
Da haben wir die letzte, einseitige, von keinem Gegengewicht ausbalancierte Konsequenz jenes Kulturkampfs aus dem 13. und 14. Jahrhundert und zugleich eine der extremen Möglichkeiten, sich verpflichtet und gebunden zu fühlen und das Schicksal zu ertragen, ohne an ihm irrezuwerden. Die 429 Funktion, die das jüdische Gesetz in den Anfängen der Diaspora erfüllt hatte: Arterhaltung der Juden in einem irrealen Staate, wird hier ganz tief in das Religiöse hineingesteigert. Das Gesetz wird Angelpunkt und Grundlage des Religiösen. Man kommt zur Erlösung durch die Treue gegenüber den Geboten; Dienst vor Gott durch Folgsamkeit, ohne nach rechts und links zu blicken, ohne zu fragen, zu grübeln, zu zweifeln; nicht Erkenntnis, sondern Entschließung.
Den schriftlichen Niederschlag dieser Anschauung liefert Joseph ben Ephraim Karo. Als Extrakt einer riesenhaften kommentatorischen Arbeit veröffentlicht er (1564) den Kodex der jüdischen bürgerlichen und religiösen Gesetze, das abschließende Gesetzbuch, den endgültigen Niederschlag von vier Jahrhunderten Kampf gegen das synthetische Bemühen des Maimonides. Hier wird nicht mehr philosophiert, hier kommt es nicht mehr auf die Ideen und die Grundlehren des Judentums an, sondern nur auf die eine einzige Feststellung: was ist noch gültiges Gesetz und was muß demgemäß befolgt werden; in Stein gehauener Judaismus. Der Titel des Werkes ist eine Metapher: Schulchan Aruch, der gedeckte Tisch.
Wäre eine Kanonisierung noch möglich gewesen: dieses Buch hätte Aufnahme gefunden. Aber es fand auch ohne das seine verpflichtende Kraft aus dem Willen von Hunderttausenden von Juden, diesen Kodex zu Vorbild und Richtschnur zu nehmen. Seine Verbreitung geht über die ganze jüdische Welt. Es wurde ein Ehrentitel, wenn man einem Juden »Lebensführung nach dem Schulchan Aruch« nachrühmen konnte.
Und doch ist dieses Anklammern an das Gesetz kein fühlloser äußerer Vorgang, kein Formalismus schlechthin. Auch der Rabbinismus, der hier sein Meisterstück vollendet, ist überschattet von jener anderen Grundstimmung der jüdischen Seele, die ebenfalls jenseits des Rationalen verläuft und die, mit gleichem Richtungssinn wie die Gesetzestreue, sie doch weit hinter sich zurückläßt: der jüdischen Mystik. 430
Sie hatte, wie schon dargestellt, ihr System in der Kabbala gefunden. Aber während der Rabbinismus sich in der Praxis des Lebens durch das Gesetz verwirklichen konnte, stand der Kabbala einstweilen nur ein spekulatives System zur Verfügung, eine religiöse Metaphysik. Doch konnte es nicht ausbleiben, da sie doch so ungeheure Möglichkeiten für die jüdische Seele in sich barg und da sie ja in ihrer Entstehung fast eine Notwendigkeit war, daß auch sie den Weg in den Tag, in die Praxis des Tages fand. Dieses aufgewühlte Leben des Juden, das nicht fragen durfte, warum es so aufgewühlt werde, durfte wenigstens fragen, wo denn seine Beschließung liege und wie man zu ihr gelangen könne. Daß das jüdische Leid ein Leiden um der Läuterung willen sei, war ja dem Juden so wenig zweifelhaft wie die Gewißheit, daß diese Läuterung die Vorbedingung der Erlösung sei. Aber auf die Dauer lassen sich Leiden in einer theoretischen Begründung nicht ertragen. Sie verlangen nach der Verknüpfung mit einer wenn auch nur traumhaften, erspürten und erahnten Wirklichkeit. Sie verlangen nicht mehr nach der Philosophie, sondern nach der Betätigung.
Wenn ein Beweis dafür nötig wäre, daß die Kabbala einen wirklichen Lebensatem in sich hatte, so kann er hier geführt werden aus der Tatsache, daß die Kabbala fähig war, ein solches System der mystischen Praxis tatsächlich aus sich zu entlassen. Allerdings: auf dem Wege von der Spekulation zur Praxis nahm sie Elemente auf, die – wie ein im Übermaß genossenes Stimulans – zunächst aufpeitschen, um dann vertieft abzustumpfen: die christlichen Elemente der Erbsünde und der Askese. Auch das war nicht Zufall oder Willkür, sondern Gesetzmäßigkeit. Je mehr die wirkliche Gemeinschaft, das organische Zusammenleben von Menschen, zerbrach, desto ungebärdiger rettete sich der Jude in den himmlischen Bezirk. Aber die geringere Bindung zu Erde und Wirklichkeit und das ständige gewaltsame Zerreißen auch noch der zersplitterten Gemeinschaft verengern die geistige Konzeption, bringen in ihr einen 431 Rückschritt zutage, denselben, den das Christentum machte, als es sich vom jüdischen Volk und vom jüdischen Boden ablöste und international wurde: die Lehre von der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur. Soweit das nicht heidnischer Überrest ist, ist es die Unstätigkeitsfurcht entwurzelter Menschen. So lange die Juden ein Land hatten, durften sie aus der Verwachsenheit mit Natur und Gemeinschaft Vertrauen haben, auch das Vertrauen dazu, daß der Mensch gut sei. In der Heimatlosigkeit und im Kampfe gegen das Weltchristentum überfiel sie die christliche Idee der Erbsünde. Es überfiel sie weiter die christliche Idee der Askese, diese Überzeugung von der Nichtigkeit alles Irdischen, die dem jüdischen Geiste völlig fremd ist, weil Gottes Schöpfung nicht unvollkommen sein kann und weil das Leben, samt dem Leben des Körpers, mit dem sittlichen Dasein zusammen als eine unlösbare Einheit begriffen wird. Aber in einer Umwelt, die nicht nur solchen Zusammenhang nicht kannte, sondern auch das äußere Leben des Juden zu dem wertlosesten Gegenstand auf der Welt machte, mußte ihm mindestens das Gefühl aufdämmern, das Irdische sei wertlos und in der Hinwendung zum Himmlischen könne man sich nicht weit genug von Besitz und Lebensfreude trennen.
Das Ergebnis ist viel tragischer, als es diejenigen zugeben wollen, die im Kabbalismus und seiner Mystik wenig mehr sehen als einen Verstoß gegen den gesunden Menschenverstand. Der Kreis der Kabbalisten, der sich in der palästinischen Stadt Safed sein Zentrum schafft, geht von einer Realität aus und steuert einer Realität zu. Er geht aus von der Überzeugung, daß die gehäuften Leiden des jüdischen Volkes das »Ende der Zeiten« ankündige, und zielt darauf ab, dieses Ende durch Buße, Askese, durch religiösen Heroismus herbeizuführen. Es ist nur folgerichtig, daß Menschen, die nicht durch die Bibel und nicht durch den Talmud erlöst worden sind, den Sohar, dieses Grundwerk der kabbalistischen Theorie, als die letzte Erkenntnis aufweisen. Jetzt erst tritt der Sohar in seiner abschließenden 432 Gestalt auf und wird –- viel präziser noch als der Talmud – der psychologische Niederschlag eines religiösen Erlebens, das übermäßiger Beanspruchung ausgesetzt ist. Seine Elemente sind deutlich und eindeutig: messianische Sehnsucht, Erlösungsbedürfnis so des Individuums wie der Gemeinschaft, Sündhaftigkeit der menschlichen Natur, Askese und Dämonenfurcht. Alles das hängt unlösbar an der Idee der Sefiroth, die längst ihre Abhängigkeit von Gott und ihre Geistigkeit eingebüßt haben, die nicht nur selbständig geworden sind, sondern auch Realität bekommen haben. Der heidnisch-christliche Dualismus hat sich auch ihrer bemächtigt und hat dem Alltag die »unreinen Sefiroth« zugewiesen, die auch Emanationen der Urkraft sind, die aber behängt sind mit allem Bösen und Unsauberen der Dämonen. Das nun ist der Menschen Aufgabe: diese unreinen Sefiroth zu reinigen, das heißt: das Böse, das Ungute, Unheimliche, das Dämonische, das aus Sünde und Sinnlichkeit Entstandene in der Welt, zu beseitigen; und das nicht nur für sich persönlich, sondern für das Gesamt, für alle Seelen, die verkörpert sind oder verkörpert waren. Denn wenn alles Ausstrahlung der einen Urkraft ist, wenn es nichts gibt, was nicht darauf bezogen werden kann, dann ist der Kreis von Gott zu Mensch unauflösbar geschlossen, dann steht auch die Seele in diesem Kreis, und sie, dem menschlichen Körper verhaftet, ist vom vielfachen Einfluß des Bösen, der Sünde, der Dämonen unrein, erlösungsbedürftig. Darum kommt sie zurück, wenn eines Menschen Leben nicht ausreichte, sie von der Kruste des Unreinen, der Kelippah, zu säubern. Gilgul, Seelenwanderung. Es ist der furchtbare Kreislauf, der alle diese Ideen so schwer und lebensfeindlich macht, diese Ungewißheit, wessen Seele einer trägt und was an ihr noch zu erlösen ist, ob es genug getan sei oder nicht. Genug tun kann man nur in der Ekstase, und Ekstase wird der Zustand, in dem die Lehrer der praktischen Kabbala die tiefste Möglichkeit sehen, zu erkennen, aufzulösen, den Himmel zu bestürmen. 433
Führer auf diesem Wege wird Isaak Luria Aschkenasi aus Jerusalem, genannt Ari, der 1570 nach Safed kommt, ein Mensch der Geheimnisse und geheimen Andeutungen, der religiösen Verzückungen und des mystischen Wissens und Zeremoniells. Nach zwei Jahren Wirkung stirbt er plötzlich an der Pest. Für ihn ist sein Schüler Chaim Vital Calabrese da, der sagt, ihm habe Ari die Mittel anvertraut, das Ende der Zeiten zu beschleunigen. Er schreibt auf, was er gehört hat, aber auch das, was er selber als Mittel geeignet hält; aus anderen Quellen stoßen Einzelheiten und Systeme hinzu . . . und eine dunkle Wolke von Verzicht, Absonderung, Buße, Ekstase, Versenkung, Furcht und Lebensüberdruß breitet sich langsam über die Seele des Juden aus. Und nun tut sich der ganze tragische Zwiespalt auf. Wie die Kabbala überhaupt realen Ausgang und reales Ziel hatte, so war auch die praktische Kabbala im Grunde nichts anderes als der Versuch, die Erfahrungen aus dem Zusammenstoß mit der fremden Welt – ungeachtet der Heimatlosigkeit – mit der Realität zu verknüpfen. Die jüdische Mystik ist keine Unwirklichkeit. Das Leben als eine gelebte Wirklichkeit – der Himmel als eine zu erlebende Wirklichkeit – und dazwischen der Glaube als eine ausschließliche Funktion des Herzens: das ist jüdische Mystik. Aber die praktische Kabbala verfehlt unter der Überbelastung mit den Elementen der Dämonie, der Erbsünde und der Askese den Zusammenhang mit der gelebten Wirklichkeit. Statt das Leben zu erobern und zu gestalten, kann sie nur lehren, es zu überwinden; und so muß sie bei ihrer eigenen Aufhebung landen, wenn nicht ein Vorgang aus dem realen Leben ihr neue Nahrung gibt. Das ist einmalig geschehen in der Bewegung um die Gestalt des Sabbatai Zewi, von der noch zu berichten sein wird. –
Mit diesen beiden Leistungen, der Abfassung des Schulchan Aruch und der Herausbildung der praktischen Kabbala, beschließt das neue östliche Zentrum seine Wirksamkeit und seine Bedeutung für den Entwicklungsgang der jüdischen 434 Geschichte. Zwar sendet es noch Energien aus, aber sie kommen in anderen Ländern zur Auswirkung.
Der nächste Bezirk der Wirkung wird Italien, wohin Sendboten aus Safed die Lehre des Ari tragen. Italien, dieses Kaleidoskop von Staaten, Städten und Republiken, stellt eine Musterkarte aller Möglichkeiten dar, in denen das äußere Schicksal der Juden verlaufen kann. Von den unvorstellbaren Schikanen im Getto des Kirchenstaates bis zu der aus dem Menschlichen kommenden großzügigen Toleranz der d'Este und Ferrara geht es durch alle Skalen. Und wie ein Kaleidoskop wirkt auch die Vielfältigkeit der geistigen Reaktionen der Judenschaft auf die Vorgänge von hüben und drüben. Italien wird in diesem Jahrhundert gleichsam der Experimentierboden für alle Strömungen der jüdischen Geisteswelt, vom tiefen ekstatischen Kabbalismus bis zur überlegenen Absage des Rationalisten an die verbindliche Heiligkeit des Gesetzes. Es sind die ersten Proben auf das Exempel, die da gemacht werden und die späteres Geschehen gleichsam vorwegnehmen.
Zu allen Zeiten der Diaspora hat der Messianismus tastende Versuche gemacht, sich die Wirklichkeit und die Erfüllung zu erobern. Es sind die Reflexbewegungen ewig verfolgter Menschen, die keinen anderen Ausweg mehr wissen, und in Einzelgestalten wird immer wieder dieses Tasten zur Gebärde, das Suchen nach einem Ausweg zu einem Abweg. So taucht auch jetzt (1502) in Istrien der Kabbalist Ascher Lemlin auf und verkündet, er sei der Vorläufer des Messias. Nur noch sechs Monate wäre es bis zur Erlösung. Buße sei notwendig. In Italien, Österreich und Deutschland glauben ihm Menschen und beginnen mit Bußwerken. Die sechs Monate vergehen. Die Buße sei nicht tief und aufrichtig genug gewesen, verkündet Lemlin und taucht unter. Aber die Erwartung bleibt. Isaak Abravanel, einer der vornehmsten spanischen Flüchtlinge, hat errechnet, daß im Jahre 1531 Rom gestürzt und Israel triumphieren werde, der jüdische Leibarzt im Vatikan, Bonet de Lattes, hat dagegen 435 das Jahr 1505 errechnet. Zwischen diesen beiden Jahren, 1524, landet in Venedig ein Mann von seltsam dunklem Format, der Jude Dawid Rëubeni. Sein Name deutet auf seine Herkunft: er ist aus dem Stamm Rëuben, den vor mehr als 2000 Jahren die Assyrer mit den übrigen Stämmen des israelitischen Nordreiches wegführten. Dieser Stamm, berichtet Rëubeni, existiert noch. Er hat in der »Wüste Chabor« (wohl Chaibar in Nordarabien) ein eigenes Reich, und sein, Rëubenis, Bruder Joseph ist dort König. Er selbst ist Befehlshaber der Truppen. Auch die Nachkommen der übrigen israelitischen Stämme hat er aufgefunden. Sie wohnen in Nubien. Er kommt in einer politisch-diplomatischen Mission. Er will den Papst und die europäischen Fürsten auffordern, die Juden in Chabor mit Waffen auszurüsten, um dann gemeinsam mit ihnen die Türken aus Palästina zu verjagen.
Er hat es also zunächst mit den Christen und dann erst mit den Juden zu tun. Sein erster Weg ist nach Rom. Papst Clemens VII. empfängt ihn. Die Idee eines neuen Kreuzzuges gegen die Muselmanen kommt ihm sehr gelegen, weil er gegen die Luthersche Reformationsbewegung eine Manifestation der katholischen Kirche braucht und weil er damit zugleich gegen die räuberische Politik Karls V. ein Gegengewicht erlangen kann. Er stellt Rëubeni einen Empfehlungsbrief an den Kaiser des christlichen Teils von Abessinien aus und einen anderen an den König von Portugal, Juan III.
Rëubeni geht nach Lissabon und unterhandelt mit dem König. Auch hier trifft er auf volles Verständnis und bekommt die Zusage, daß ihm Waffen und Schiffe zur Verfügung gestellt werden sollen. Aber ehe es dazu kommt, erhebt sich gegen ihn der Argwohn, seine Aktion müsse doch wohl mehr im Interesse der Juden als der Christen gedacht sein. Zwar hält sich Rëubeni von den Marranen ängstlich fern, aber es ist nicht zu übersehen, daß seine Ankunft sie in äußerste Erregung versetzt hat. Er hat schon in Rom insgeheim einigen Juden erklärt, er 436 wolle das heilige Land für sie und nicht für die Christen erobern. Das unterirdische Judentum kommt wieder in Bewegung, und einem der Marranen, Diego Pires, wird Rëubeni zum Schicksal. Pires, Schriftführer am Gerichtshof zu Lissabon, ein junger Mensch von 25 Jahren, unterliegt diesem Anstoß geheimer Hoffnungen. Das verdrängte Judentum überschlägt sich in ihm bis zur Ekstase. Für ihn ist die messianische Zeit angebrochen. Er vollzieht an sich selbst zum Zeichen der Heimkehr die Beschneidung, gibt sich den jüdischen Namen Salomo Molcho und geht, noch fiebernd, zu Rëubeni. Der mag in dieser Umgebung weder von Marranen noch von messianischen Ideen etwas hören. Aber er begreift, daß Molcho jetzt reif für das Inquisitionstribunal geworden ist, und rät ihm, in die Türkei zu fliehen. Für Molcho hat dieser vorsichtige Rat die Schwere einer Offenbarung. 1527 ist er in Saloniki, bald darauf in Safed, der Hochburg des Kabbalismus. Wie er erfährt, daß die Truppen Karls V. in Rom eingedrungen sind, begreift er diesen Vorgang als das verheißene Ende Edoms, das ist Rom. Er macht sich auf den Weg nach Italien, landet Ende 1529 in Ancona und begibt sich sofort nach Rom. Die alte Volkslegende, daß der Messias unter Bettlern und Aussätzigen vor den Toren Roms hocke und auf seine Zeit warte, macht er für sich zur Wirklichkeit. Er kauert unter Bettlern auf der Tiberbrücke, geschüttelt von religiösen Visionen.
Die Inquisition wird auf ihn aufmerksam. Er flieht nach Venedig. Dort ist auch Rëubeni, ausgewiesen aus Portugal wegen seines Verkehrs mit den Marranen. Hier in Venedig will er die Republik gleichfalls zum Kriege gegen die Türken bewegen. Sein Spiel ist doppelschichtig: nach außen Diplomat eines Volkes, das er nie gesehen hat, also Betrüger, Abenteurer, Hochstapler; nach innen verkappter Messias, der, jenseits aller Unwahrhaftigkeit und Phantasie, wirklich die Juden wieder in das heilige Land führen möchte. Wie das die Signoria von Venedig erfährt, weist sie ihn aus der Republik aus. 437
Für Molcho sind das messianische Leiden. Trotz der drohenden Inquisition geht er wieder nach Rom und entfaltet eine hemmungslose messianische Propaganda, mit so fanatischer Eindringlichkeit, daß selbst Papst Clemens VII. ihn als ein göttliches Instrument betrachtet, ihn vor der Inquisition in Schutz nimmt und ihm endlich, da er ihn nicht mehr schützen kann, zur Flucht nach Deutschland verhilft. Dort trifft er von neuem mit Rëubeni zusammen. Beide begeben sich (1532) nach Regensburg zu Karl V. und verkünden ihm ihre Absicht, die Juden der ganzen Welt zum Kampfe gegen die Türken aufrufen zu wollen. Karl V. begreift davon nur den Teil, der auf die Rückbringung der Juden nach Palästina, also auf Schädigung der Interessen der katholischen Kirche gerichtet ist. Darum läßt er beide verhaften und der italienischen Inquisition ausliefern. Salomo Molcho, der ungetreue Christ, wird verbrannt. Rëubeni wird nach Spanien geschafft und verkommt dort irgendwo in einem Kerker.
In dieser Doppeltragödie gibt der Messianismus ein Signal seines Lebens. In der Gestalt des Jehuda Arje (Leon) Modena kämpft das Extrem, die aufkeimende Hellsichtigkeit kritischer Wertung gegen die Heiligkeit der Tradition, gibt die Auflösung des Glaubens an die Offenbarung ein Signal ihres Lebens.
Es mag dahingestellt bleiben, ob die Bewegungen der Renaissance und des Humanismus in Italien wirklich Einfluß auf das jüdische Denken und das geistige Schaffen des Juden genommen haben, oder ob nicht vielmehr das vielfache Verlangen humanistisch gebildeter Christen, den Bezirk der jüdischen und arabischen Geisteswelt durch Vermittlung gelehrter Juden kennenzulernen, diesem und jenem Juden die Möglichkeit verschafft hat, aus der eigenen geistigen Gesetzmäßigkeit in den kritischen Bezirk auszubrechen. Daß das jetzt geschieht, ist ja auch kein Novum in der jüdischen Geschichte. Es ist nie außer acht zu lassen, daß in der äußeren wie in der inneren Geschichte des jüdischen Volkes sich immer die 438 gleichen Vorgänge wiederholen, nur je nach der Gestaltung von Zeit und Ort in leicht veränderter Gewandung. Das liegt daran, daß dieses Volk mit einer Idee auf den Lebensplan getreten ist, deren Verwirklichung selbst für unsere Gegenwart noch ungewöhnliche Aktualität hat. Schon Hiob hat gezweifelt; die Sadduzäer haben gezweifelt und kritisiert; Jesus hat es getan, die Karäer nicht minder, und in Maimons philosophischem System ist der Zweifel entweder an der Gültigkeit der Philosophie oder der Verbindlichkeit der Offenbarung eigentlich der imaginäre Unterbau. Zweifel ist produktiv oder unwesentlich, je nach der Richtung, in der er sich betätigt. Daß wir ihn hier überhaupt erwähnen und mit Beispielen belegen, geschieht, um aufzuzeigen, daß er in einem Volke mit tragischen äußeren Bedingungen auch Tragik im Geistigen und für den Einzelmenschen bedeuten muß; und darüber hinaus soll sichtbar gemacht werden, warum dieses Volk nicht zweifeln durfte, ohne Selbstmord zu begehen.
Die Unwilligkeit des Juden, in der Diaspora Historie zu treiben, findet seine Ergänzung in dem Bemühen, auch aus der eigenen früheren Geschichte alles der Vergessenheit anheimzugeben, was für den Glauben nicht nötig war oder was die behauptete Kontinuität der religiösen Überlieferung hätte unterbrechen können. So war zum Beispiel die ganze wichtige Epoche des jüdischen Alexandrinismus so gut wie unbekannt. Asaria de Rossi (1513–1578) entdeckt sie erst wieder und übersetzt die gesamte jüdisch-hellenische Literatur in das Hebräische. Hierbei ist zunächst nicht die Übersetzung das Wesentliche, sondern die Aufdeckung historischer Fakten und chronologischer Zusammenhänge und als Folge davon die Erkenntnis, daß eine Reihe geschichtlicher Behauptungen des Talmud unhistorisch, also Sagen sein müssen, daß die chronologischen Angaben des Talmud nicht zuverlässig sind, daß daher – und das ist der schwerste Schlag gegen die jüdische Gläubigkeit – die vom Talmud behauptete einheitliche und 439 durchgehende Tradition, die bis auf Moses zurückgehende heilige Überlieferung unmöglich auf Wahrheit beruhen könne. De Rossi wagt es, diese Erkenntnisse niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Ein Sturm der Empörung bricht los. Mit Recht: denn solange noch keine andere Denkform in ihnen gereift war, konnten die gläubigen Juden sich nicht das Einzige nehmen lassen, was sie aus einer ungarantierten Wirklichkeit mit einer zweifelsfreien Vergangenheit verband: den Glauben an die Einheit und Heiligkeit der Überlieferung.
Obgleich der Orthodoxie kein Inquisitionstribunal mit Scheiterhaufen zur Verfügung stand, ist doch die Furcht, abseits der eigenen Gemeinschaft stehen zu müssen, groß genug, die Zweifelnden verstummen zu lassen. Nicht daß sie aufhörten zu zweifeln; aber sie verschweigen ihre Zweifel. Das Für und Wider aus Glauben und Skepsis muß in ihnen selbst ausschwingen, kann sich mit der Umwelt nicht auseinandersetzen und zerbricht heimlich die Menschen.
In Venedig wirkt als Rabbiner Leon Modena, sehr fromm und sehr gebildet. Es erscheinen gelehrte Arbeiten von ihm, die sich durchaus im Rahmen dessen halten, was ein gebildeter Rabbiner jener Zeit zu sagen hat. Zwar ist er bei aller Frömmigkeit ein Gegner der Kabbala. Aber die Lehren der Kabbala haben ja nur für denjenigen dogmatischen Wert, der daran glauben will. Darum darf er die Heiligkeit des Sohar bestreiten, die Legende von seiner Entstehung bekämpfen, die Lehre von dem Sefiroth angreifen und gar der praktischen Kabbala vorwerfen, daß sie zumeist nichts anderes sei als Schwindel. Kühner, weit gefährlicher ist schon der kritische Nachweis, daß Jesus sich selbst nie als »Sohn Gottes« in dem Sinne bezeichnet habe, wie die spätere kirchliche Dogmatik es darstellte. Es versteht sich, daß ihm hier die kirchliche Zensur Schweigen auferlegt. Aber wie Modena gestorben ist, findet man in seinem Nachlaß zwei unveröffentlichte Schriften, die eine: »Stimme eines Toren«, die andere: »Löwengebrüll«. Er 440 erklärt als Einleitung zur ersten Schrift, er kenne den Verfasser nicht. Ein Unbekannter habe sie ihm zur Verfügung gestellt, damit er sie widerlege. Und es ist für einen orthodoxen Juden in der Tat viel daran zu widerlegen, denn sie enthält nichts Geringeres als die Behauptung, daß die »mündliche Lehre« niemals auf eine am Sinai empfangene Offenbarung zurückgehe, daß diese Lehre das Werk von Menschen sei, von den Führern des Volkes, die nicht fähig gewesen wären, das Volk mit der reinen und klaren Lehre der Thora zu leiten, die vielmehr über diese ursprüngliche Grundschicht eine andere, die Mischna, und darüber wieder eine andere, die Gemara, gebreitet hätten; und über beide endlich habe der Rabbinismus noch eine dritte Schicht gelegt. Also nicht heilige und verpflichtende Überlieferung, sondern die Last dreier von Menschen errichteter Stockwerke, unter der das Volk zusammenbrechen müsse.
Das nennt Modena die »Stimme eines Toren«. Gegen sie, die eine historische Binsenweisheit ausspricht, aber eine religiöse Blasphemie, erhebt er das »Löwengebrüll«. Aber es ist nicht so laut, wie der Titel glauben machen will. Es ist sogar leise, kommt über einen schwachen Ansatz der Verteidigung nicht hinaus und wird an allen Stellen von der »Stimme des Toren« übertönt. Das ist nicht verwunderlich, denn wenn zwei Stimmen in einer Brust miteinander streiten, muß eine notwendig die stärkere sein. Das heißt: beide Schriften sind von Modena. Der Zweifel in ihm, der nicht laut werden durfte, verlangt nach Beschwichtigung und Widerlegung; aber wenn es ihm auch gelingt, in seinem äußeren Verhalten unfehlbar zu scheinen: vor der Stimme seines kritischen Gewissens mußte er – stumm und mit matter Gegenwehr – unterliegen.
Aber damit ist die Tragik seiner Existenz noch nicht erschöpft. Er ist durch die Stellung, die er in der Umwelt einnimmt, verpflichtet, noch in ein anderes Dasein entscheidend 441 einzugreifen, in dem auch Glaube und Tradition in tragischen Konflikt geraten sind: in das Dasein des Uriel da Costa.
Die da Costas sind eine Marranenfamilie in Portugal. Wenn die Gleichheit der Namen einen Schluß auf die Verwandtschaft zuläßt, sind unter ihnen wohl immer streitbare und aufsässige Menschen gewesen. Wir wissen von einem Marranen Emanuel da Costa in Lissabon, der seinen Protest gegen das aufgezwungene Christentum dadurch bekundete, daß er an die Türe der Kathedrale und anderer Kirchen die Thesen anschlug: »Der Messias ist noch nicht gekommen. Jesus ist nicht der Messias gewesen. Das Christentum ist eine Lüge.« Er büßte diesen ohnmächtigen Protest mit abgehackten Händen auf dem Scheiterhaufen (1539). Von einem anderen, späteren da Costa, Joseph, einem der Vorsteher der Amsterdamer Synagogen, wissen wir, daß er in heftigem Zank mit Manasse ben Israel lebte. (Etwa 1651.) In Uriel da Costa finden sich, wenn auch auf sehr hoher Ebene, die gleichen Elemente unheilvoll vereint.
Da Costa stammt aus Oporto. Seine Familie ist längst assimiliert, sein Vater ein strenger Katholik, der den Sohn auf der Universität der Jesuiten zu Coimbra Rechtswissenschaft und scholastische Philosophie studieren läßt. Mit 25 Jahren ist er Kanonikus einer Kirche in Oporto. Er hat keine Beziehungen zum Judentum und keine Kenntnisse davon. Wenn er es also eines Tages nicht mehr erträgt, in den mechanischen Kirchenritus der Jesuiten und in dieses fortdauernde Verlangen nach Ablegung von Beichten eingespannt zu sein, so geschieht das nicht, weil ihm in einer anderen Religion ein Vergleichsobjekt zur Verfügung stände, sondern weil das Erbe im Blute revoltiert. Immer beichten bedeutet: immer sündig sein; und immer sündig sein, bedeutet: der Erbsünde hoffnungslos ausgeliefert sein. Dagegen protestiert er. Er will selbst nachforschen, wo in den heiligen Schriften gesagt sei, der Mensch sei ein verworfenes, ewig sündiges Geschöpf. Er gerät dahin, wohin die Jesuiten ihre Zöglinge möglichst nicht geraten lassen: zum 442 Pentateuch. Und er erkennt erschüttert: da ist keine Erbsünde; da ist dem Menschen die freie Entschließung gelassen, gut oder böse zu sein, sich zu adeln oder zu verkümmern. Es erschließt sich ihm eine religiöse Welt, von der er erkennt, daß es die seinige ist. Er flieht mit seiner Mutter und zwei Brüdern nach Amsterdam. Dort treten sie zum Judentum über. Seinen Vornamen Gabriel ändert er in Uriel. Er ist unmäßig bereit, ein neues jüdisches Leben zu beginnen, aber was sich ihm hier als Judentum darbietet, dieser Rabbinismus, das zwangsläufige historische Ergebnis aus Heimatlosigkeit und dem Versuch der Arterhaltung, fügt sich nicht in die Vorstellungen ein, die einer mitbringt, der dem Judentum an seiner Quelle begegnet ist. Schon das ist für da Costa eine schwere Enttäuschung. Daß er nicht imstande ist, die aus dem Historischen erwachsenen Abbiegungen zu begreifen, macht für ihn die Situation noch schwerer, weil sie zu einer unrichtigen Fragestellung führt, zu der Frage nämlich, wer im Recht sei, er oder die Umgebung. Beide sind im Recht, und das erst macht die verfehlte Begegnung tragisch. Und die Antwort, die er sich auf die falsche Fragestellung erteilt – daß er im Recht sei – trübt ihm den Blick dafür, wo er einzusetzen habe, um die Berechtigung seiner Antwort darzutun. Die Schicht Rabbinismus, die über dem Judentum liegt, ist so stark aufgetragen, daß er nur sie sieht und nur sie angreift; daß er nicht den Versuch macht, sie aus den Gesetzen ihres Werdens her anzugreifen, sondern aus der Tatsache ihres Seins. Er hat den Weg zum Judentum aus der freien religiösen Entfaltung des Herzens gemacht; seine Umgebung ist das Resultat von mehr als einem Jahrtausend Erziehung. Der Einzelne steht gegen das Gesamt, religiöser Wille gegen nationale Notwendigkeit, Herz gegen Gehirn, die Ungebundenheit religiöser Leidenschaft gegen das Beharrungsvermögen der Traditionstreue, im Ganzen aber das Recht des Einzelnen gegen das Recht der Gesamtheit. Keiner hat unrecht, darum muß einem von ihnen Unrecht geschehen. In da Costas Verhalten zu diesem 443 Unrecht entsteht der Sinn seines Schicksals: die Tragödie der Gesinnung.
Indem da Costa sich die Terminologie der Bibel zu eigen macht, nennt er die Rabbiner »Pharisäer« und sagt von ihnen, was schon de Rossi andeutet und Modena insgeheim für sich ausspricht: die jüdischen Gesetze sind ihre Schöpfung, nicht Ergebnis der Tradition. 1616 ist da Costa in Hamburg. Von hier aus richtet er an die Gemeinde zu Venedig seine »Thesen wider die Tradition«. Er bekämpft sowohl Berechtigung wie Herkunft vieler einzelner Vorschriften. Darüber hinaus zieht er die Verbindlichkeit der gesamten »mündlichen Lehre« in Zweifel. Diese Schrift wird Modena ausgehändigt. Er, dem jedes Wort dieses leidenschaftlichen Zweiflers aus der Seele gesprochen ist, muß in seiner Eigenschaft als Rabbiner der Gemeinde Venedig diese Thesen widerlegen, muß ihn darüber hinaus auffordern, zu widerrufen, und – da da Costa bei seiner Meinung verharrt – muß endlich gegen seinen heimlichen Mitkämpfer den Bann aussprechen. Da Costa geht nach Amsterdam zurück, jetzt ganz von Kampfwillen erfüllt. Seine ursprüngliche leidenschaftliche Liebe, da sie kein Echo gefunden hat, zieht sich in den Trotz der Verneinung zurück. Statt lieben zu können, muß er forschen, und die gläubige Bereitwilligkeit nähert sich der Unwilligkeit des Rationalisten. Er veröffentlicht 1624 seine »Prüfung der pharisäischen Tradition durch Konfrontation mit dem schriftlichen Gesetz«. Darin greift er nicht mehr die Gesetze an, sondern das Dogma. Er verkündet: das Judentum kennt keine Unsterblichkeit der Seele und keine Vergeltung im Jenseits. Es nützt ihm nichts, daß er recht hat. Der Bann der Gemeinde Amsterdam trifft ihn schon, ehe das Buch noch erscheint, infolge der literarischen Denunziation des Samuel da Silva. Er wird auch beim Staatsgericht angezeigt, weil seine Lehre auch das christliche Dogma verletzt. Er wird zu einer Geldstrafe verurteilt. Seine Schrift verfällt der Vernichtung. Es beginnt seine Isolierung. Er sucht für sich allein weiter 444 nach religiöser Befriedigung und vergräbt sich in deistischen Theorien. Aber nach zehn Jahren eines von allen gemiedenen Daseins erträgt er es nicht mehr. Er entschließt sich, für seine Leugnung des Gesetzes Abbitte zu tun. Er wird wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Aber seine innere Haltung bleibt die gleiche. Wie zwei Christen zu ihm kommen, die zum Judentum übertreten wollen, rät er es ihnen ab, um ihnen die Konflikte zu ersparen. Dafür und für die Begründung, mit der er es getan hat, wird er von neuem in den Bann erklärt. Noch einmal hält er das Draußenstehen sechs Jahre lang aus. Dann ist sein Widerstand gebrochen. Er kriecht zu Kreuze. Unter demütigenden Zeremonien, wie die Verfolgten sie ihren Verfolgern in der spanischen Inquisition abgelauscht haben, wird ihm die Aufnahme zuteil.
Der blutigen Inquisition entflohen, der seelischen Inquisition ausgeliefert, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit gedrängt, von einer Gemeinschaft gestraft, der er unter Einsetzung seines Lebens zugeflohen war, zerbricht seine Lebenskraft. Im April 1640 erschießt er sich. Vor ihm, auf dem Tische, findet man die eben beendigte Selbstbiographie: Exemplar humanae vitae, »das Beispiel eines Menschenlebens«.
Wenn in einem Volke sich solche Schicksale ereignen können, bedeuten sie, daß ein Gefahrenpunkt erreicht ist. Denn nicht das ist bedeutsam, daß es einem Juden möglich war, zu zweifeln und zu verneinen, sondern daß dieser Zweifel ihn fast mit Notwendigkeit zerbrechen mußte. (Alle Zweifler, die das Judentum von sich gestoßen hat oder aus sich entlassen mußte, tragen diese Gebrochenheit in sich. Darum sind die bösesten von allen Renegaten die jüdischen.)
Dieser Aussage über den Gefahrpunkt scheint zunächst die Tatsache zu widersprechen, daß zu dieser Zeit die Judenschaft nicht nur in der Türkei ein gesichertes Asyl findet, sondern daß auch der Osten Europas, Polen und Litauen eine jüdische Siedlung stärkster Konzentration und mit einer ausgezeichneten 445 und straffen Verwaltung aufnimmt. Aber diese Siedlung war von allem Anfang an den äußeren Gefahren ausgesetzt, die den Juden überall in der Diaspora begleiten, und es wird sich im weiteren Verlauf erweisen, daß auch die inneren Gefahren mit in dieses östliche Zentrum hineinwandern.
Die Anfänge jüdischer Niederlassungen in Polen gehen auf das 9. Jahrhundert zurück. Von der Zeit an ergießt sich ein schmaler, aber stetiger Strom von Juden dorthin, die vor den Bedrückungen in Deutschland, Österreich und Böhmen ausweichen. Eine stärkere Wanderung setzt ein, wie insbesondere die deutschen Juden vor den Metzeleien der Kreuzzüge fliehen. Diese Abwanderung geht durch das 11., 12. und 13. Jahrhundert. Mit ihnen ziehen, in allmählich wachsender Zahl, deutsche Auswanderer, die dem Druck des Feudalismus oder den Lasten der Bürgerkriege ausweichen. Beide Gruppen von Auswanderern bedeuten für das primitive polnische Wirtschaftsleben eine starke Förderung, und beide bekommen, als Landfremde, ihr besonderes Recht zugewiesen. Aber während die deutschen Auswanderer sich schnell angleichen und sehr bald in der Hetze gegen die mit ihnen eingewanderten Juden eine hervorragende Rolle spielen, stoßen die Juden sofort auf ihren Erbfeind, die christliche Kirche. Das Statut, das der polnische Staat den Juden im 13. Jahrhundert verleiht, ist ihr zu liberal und menschenfreundlich. Der wirtschaftliche Vorteil für das Land interessiert sie nicht. Die guten nachbarlichen Beziehungen zwischen Juden und Polen erscheinen ihr gefährlich. Da sie auf die Regierung einstweilen noch keinen Einfluß hat, beschließt sie – wie sie das überall getan hat – schon für alle Fälle und gleichsam in Reserve eine Anzahl antijüdischer Vorschriften. Die Motivierung wird (1267) auf der Versammlung des polnischen Klerus zu Breslau gegeben: »In Anbetracht dessen, daß Polen auf dem Boden des Christentums eine neue Anpflanzung darstellt, steht zu befürchten, daß sich die christliche Bevölkerung hier, wo die christliche Religion in den Herzen 446 der Gläubigen noch keine festen Wurzeln zu fassen vermochte, um so leichter von dem Afterglauben und den üblen Sitten der in ihrer Mitte lebenden Juden beeinflussen lassen werde.«
Solche Auffassung, sorgsam unter das Volk getragen, muß naturgemäß einen Keil zwischen Juden und Polen treiben und muß endlich die Einstellung annehmen, die auf der Synode von 1542 die folgende ideale Ausdrucksform erreicht: »Angesichts dessen, daß die Kirche die Juden nur zu dem Zwecke duldet, damit sie uns durch ihre Gegenwart an den Martertod unseres Heilands gemahnen . . .« Der Jude als religiöses Stimulans.
Es gilt hier in Polen das gleiche wie für die anderen Einwanderungsländer der Juden, daß die christliche Kirche eine Parole ausgibt, unter der sich auch alle anderen Gründe der Gegnerschaft bequem verbergen können. Zugleich wird hier wieder offensichtlich, daß diese Gegnerschaften keine ursprünglichen sind, sondern gezüchtete, und daß aus der Verschiedenartigkeit und Andersartigkeit von Bevölkerungsgruppen die Feindschaft nicht mit Naturnotwendigkeit von selbst entsteht, sondern ins Leben gerufen wird. Einmal auf diese Weise entstanden, kann sie allerdings jede Form annehmen.
So unterscheidet sich nach Ablauf einer kurzen Entwicklung die Lage der Juden in ihren wesentlichen Grundzügen nicht von der anderer Länder. Es ist nur alles um einige Grade gesteigert. Das gilt für die Zahl der Juden, für ihre wirtschaftliche Intensität, für ihre Selbstverwaltung, für ihre geistige Beweglichkeit, für ihr Martyrium.
Da für die Wanderungen der Juden ideelle Gesichtspunkte nicht in Betracht kommen, tendieren sie nach denjenigen Gegenden, die sich durch zweierlei auszeichnen: durch die Wirtschaftsform und durch die Anwesenheit anderer Juden. Sie suchen den Lebensraum und das Nachbarliche. Die polnische Siedlung wächst so nicht nur durch die natürliche Vermehrung, die auf der Gewohnheit der Frühehe, der Vorstellung vom Segen der Kinder, der enthaltsamen Lebensweise und der dadurch 447 bedingten verminderten Sterblichkeit beruht, sondern vor allem durch die ständige Zuwanderung. So kann dort ein Millionenvolk entstehen, das den Aderlaß von Hunderttausenden Erschlagener überwindet, das später dem russischen Reich eine bedeutende Judenschaft liefert und das sogar der allmählichen Erschöpfung der deutschen Judenschaft durch ständigen Zustrom wiederaufhilft.
Aber gerade die Masse ist ein nicht unwesentlicher Faktor für die Herausbildung ihrer besonderen wirtschaftlichen Situation. An sich umfaßt die Tätigkeit der Juden jeden erdenklichen Zweig der Wirtschaft. Sie treiben Acker- und Gartenbau, Handwerk, Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, Warenhandel im kleinen und im großen, Industrie, Kreditgeschäfte, Zollpacht und später auch Pachtung von Landgütern, insbesondere von königlichen Ländereien und denen der Schlachta, des Adels. Damit war die sogenannte Propination verbunden, die Nutzung von Salzgruben, Forsten und Bodenschätzen, insbesondere aber die Schankgerechtigkeit. Schließlich waren sie auch am Ausfuhrhandel überragend beteiligt.
Es wiederholt sich in der Entwicklung des wirtschaftlichen Status dasselbe wie überall. Das wirtschaftliche Neuland, das sie vorfinden, und die Möglichkeit, Lücken in einem System auszufüllen, läßt die Juden prosperieren. Aber es ist hier keineswegs ein stürmisches Prosperieren. Dafür ist die Zahl der Juden, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, zu groß und die Aufnahmefähigkeit der polnischen Wirtschaft zu klein. Der Jude erreicht in den Anfängen einen bescheidenen Wohlstand, der nicht nur auf seinem Fleiß, sondern auf seiner überaus sparsamen Lebensweise beruht. Aber daß der Jude überhaupt prosperiert, ruft die Empörung des christlichen Handwerkers und Kaufmanns wach. Ein Beispiel für alle mag belegen, wie primitiv die Vorstellungen des Polen über wirtschaftliche Zusammenhänge waren. Innerhalb der späteren Wirtschaftskämpfe wird der Beschluß gefaßt, daß der Verdienst an abgesetzten 448 Waren gesetzlich geregelt werden soll, und zwar darf der Pole 8, der ausländische Kaufmann 5 und der Jude nur 3% an der Ware verdienen. Davon verspricht man sich einen erheblichen Aufschwung des christlichen Handels. Der Erfolg ist, daß die Konsumenten beim Juden kaufen, weil seine nur mit 3% belastete Ware eben billiger ist als die des Polen.
Aber die Umgebung reagiert nicht einheitlich auf die Tätigkeit des Juden. Polen ist ein Land mit ausgeprägter ständischer Verfassung. Das Land war aufgeteilt in Landadel (Schlachta), Klerus und Bürgerschaft. Die Unmenge leibeigener Bauern kam als selbständiger Stand nicht in Betracht. Wo ein Land sich in Stände aufteilt, stellen sich die Beziehungen zwischen ihnen im wesentlichen als Interessenkämpfe dar. Diese Interessen, auf den Juden bezogen, waren verschieden. Für die Regierung diente der Jude wegen seiner internationalen Beziehungen und seiner entsprechenden Erfahrungen als der Finanzmann, der Vermittler von Anleihen und der Pächter der Staatszölle. Das sind Funktionen, zu denen Juden selbst dann noch herangezogen werden, wenn sie in anderen Wirtschaftszweigen unter schärfsten Druck gestellt sind. Der Adel ist an dem Juden interessiert, weil er ihm durch Übernahme der Pachtungen seine Güter rentabel macht. Der Kleinadel insbesondere braucht den Juden dringend für die Gewährung von Krediten, wobei der Umstand, daß er diese Kredite nicht für produktive Zwecke, sondern für seine feudale Lebensweise verbraucht, nicht immer freundschaftliche Gefühle für den Juden bei der Rückzahlung aufkommen läßt. Für den Staatshaushalt schließlich sind die Juden als Steuerzahler völlig unentbehrlich, und es gehört zu den vornehmsten Aufgaben einer jeden Sejmtagung, die Steuern der Juden zu beschließen und sie nach Möglichkeit, trotz der fortschreitenden Verarmung der jüdischen Bevölkerung, fortgesetzt zu erhöhen.
Diese Verarmung muß notwendig in dem Augenblick eintreten, in dem der bürgerliche Stand, soweit er Kaufleute und 449 Handwerker umfaßt, nicht nur die wirtschaftliche Tätigkeit des Juden zu spüren bekommt, sondern auch unter Berufung darauf, daß der Jude außerhalb der ständischen Verfassung stehe, für seine eigenen Standesinteressen besonderen staatlichen Schutz verlangt. Diesem Verlangen muß die Regierung immer von neuem nachgeben, und so erwächst im Laufe der Zeit eine ungewöhnlich große Zahl rechtlicher Beschränkungen der Juden. Es mag auch hier angemerkt werden, daß es gerade die deutschen Zuwanderer waren, die sich im Kampfe gegen die Konkurrenz des Juden besonders energisch betätigten.
Die erste wesentliche Beschränkung wird auf dem Reichstag zu Petrikau (1538) durchgeführt. Die Juden erhalten eine »Verfassung«. Sie bestimmt, daß fortan die Verpachtung von Zöllen nur noch an den Landadel vergeben werden darf. Der freie Handel und das Kreditgeschäft werden für die Juden unter vielfache Beschränkung gestellt. Es wird ihnen auch auf Verlangen des Klerus das Tragen eines besonderen Abzeichens zur Pflicht gemacht. Der Jude ist also schon ganz einwandfrei Objekt der Interessenkämpfe der polnischen Stände geworden, und während man ihn vom einen Interesse her unter Ausnahmevorschriften stellt, erwirken gleichzeitig die Magnaten für sich das Recht, Juden unter ihren persönlichen Schutz nehmen zu dürfen, und gewiß nicht aus Menschenliebe. Sigismund I. (1506–1548) erklärt denn auch in leicht gereiztem Ton, daß die Juden, die von diesem Gesetz Gebrauch machten, den königlichen Schutz verlören. »Mögen die Juden von demjenigen beschützt werden, der Nutzen aus ihnen zieht.«
Trotz dieser einschneidenden Beschränkungen war die wirtschaftliche Überlegenheit der Juden immer noch so groß, daß der Kampf unausgesetzt weitergeführt wurde. Er bekommt allerdings gegen Ende des 16. und mit Beginn des 17. Jahrhunderts als Folge der katholischen Gegenreformation und unter Führung der Jesuiten eine religiöse Begründung. Dadurch wird der Weg dafür frei gemacht, auch den Exzessen gegen die 450 Juden eine religiöse Maske aufzusetzen. Man schrie: »Rache für Jesu Tod« und meinte: »Nieder mit der jüdischen Konkurrenz«. Unter diesem doppelten Druck beginnt der Jude aus der Stadt auf das Land abzuwandern. Aber das war keine Lösung, sondern nur eine Verschleppung des Problems, und zwar eine für die folgende Entwicklung katastrophale. Soweit sie sich hier als Bauern betätigten, war zwar ihre wirtschaftliche Konkurrenz gering, aber ihre Situation war durch die steigende Agitation des Klerus unter einer Bauernschaft von tief mittelalterlicher Denkungsart sehr gefährdet. Soweit sie Pächter von Schankwirtschaften waren – und das wurde im Laufe der Zeit eine immer größere Zahl – lag der Anreiz dazu nicht im Ausschenken von Branntwein, sondern in der vermittelnden Funktion, den Bauern den Verkauf ihrer Produkte am Orte selbst und den Ankauf von Waren und landwirtschaftlichem Gerät zu ermöglichen. Als ihnen die Gesetzgebung diese Tätigkeit endlich untersagte, wurden 60 000 Familien davon betroffen. Aber schon nach dem ersten Anlauf wurde das Gesetz suspendiert, weil die Beamten selbst darauf hinwiesen: der polnische Bauer trinkt Branntwein nicht infolge des Juden, sondern infolge seiner Gewohnheit. Er wird auch hergestellt, wenn man 60 000 Familien, das sind rund 300 000 Menschen, brotlos macht und noch dazu andere 60 000 Familien dem Ackerbau entziehen muß, um die Schenken zu besetzen. Endlich ist niemand da, der diesen ländlichen Handelsverkehr besorgt. Aber Vernunfterwägungen haben in der Stellung der Welt zum Juden immer eine spärliche Rolle gespielt. Der polnische Bauer reagierte nicht durch die Erwägung, daß er sein schwer verdientes Geld so oder so zu einem guten Teil in Branntwein anlegte, sondern er reagierte durch das Ressentiment, daß er sein Geld zum Juden trage. Er konnte nicht anders denken.
Noch weniger konnten sich diejenigen Bauern mit Vernunftserwägungen behelfen, die auf den großen Gütern der Magnaten und des Klerus in völliger oder teilweiser Leibeigenschaft 451 lebten. Abgaben und Frondienste machten diese Menschen zu gedrückten und verhetzten und verarmten Kreaturen. Vielleicht hatten sie ihren Herrn nie gesehen, aber den jüdischen Verwalter und den jüdischen Pächter hatten sie in greifbarer Nähe. Auf ihn, der die Abgaben einzog und die Leistungen einforderte, im Auftrage des Herrn oder aus dem eigenen Recht der Pachtung, konzentrierte sich ihr Verlangen des Versklavten nach Verbesserung ihrer Existenz, nach Revolte, nach Mord und Totschlag.
Zu der rechtlichen Sonderstellung, zur wirtschaftlichen Bedrückung und zur Anfeindung der christlichen Kirche kommt das Martyriologium des Alltags. Die alten Mittel der Judenbedrückung: Prozesse wegen Hostienschändung und Ritualmord, werden durch die Kirche und die deutschen Einwanderer vom Westen nach dem Osten geschleppt, und so, wie sie später als im Westen dort eintrafen, haben sie auch länger gedauert, bis in das 20. Jahrhundert hinein. Es scheint, als ob es sich dabei um eine geistig-religiöse Verfassung handelte, die ihre Zeit zum Ablauf haben will. Der erste Prozeß wegen Hostienschändung wird schon 1399 in Posen veranstaltet und endet mit der Verbrennung eines Rabbiners und 13 Juden. Es ist kennzeichnend, daß die Juden immer dann Hostien schänden, wenn besondere wirtschaftliche Depressionen eintreten, wenn politische Unruhen die Staatsgewalt schwächen oder wenn die Kirche durch religiöse Agitationen oder durch politische Aktionen Erfolge erzielt. Das letztere war hier der Fall. Die Kirche hatte Jagello von Litauen zur polnischen Krone verholfen. Die Auswirkungen der ecclesia triumphans zeigen sich sofort in der systematischen Störung des bis dahin guten Einvernehmens zwischen Juden und Christen in Litauen und in Prozessen der erwähnten Art. In Krakau und Posen ist dabei, wie erwähnt, die Unterstützung der deutschen Elemente besonders spürbar. Selbst dann, wenn die Regierung sich aus Gründen der Staatsräson einmal ostentativ für die Juden einsetzt, wie unter 452 Kasimir dem Jagellonen, reagiert der Klerus durch seine Agitation, die immer mit Exzessen endet. Dieses unterirdische Wühlen hat nie aufgehört. Es nahm insbesondere in der polnischen Gegenreformation verschärfte Formen an. Das Eindringen der Jesuiten nach Polen sorgt dafür, daß die Ritualmordprozesse nicht aufhören. Man darf ihre Tätigkeit als eine auf Herstellung von heiligen Märtyrern gerichtete bezeichnen. Die Zöglinge ihrer Schulen besorgten inzwischen das, was man den »Kleinkrieg« nennen kann. Sie verübten auf die jüdische Bevölkerung unblutige und blutige Überfälle, mit einer Methodik und Beharrlichkeit, daß die Gemeinden sich bei diesen jungen Helden zunächst durch Naturalleistungen, später durch eine reguläre Steuer loskaufen mußten.
Das war das Leben des Juden in Polen bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus. Was hatte er diesem Dasein gegenüberzustellen? Eine eisern gefügte Selbstverwaltung und eine eiserne religiöse Disziplin, beide mit ihren unvermeidlichen Folgen: der Entstehung einer oligarchischen Verwaltungsclique und der Entstehung eines extremen Mystizismus.
Schon in der Art, in der Juden überall in der Welt sich zusammenfinden, liegt der Keim einer Selbstverwaltung beschlossen. Zehn Menschen, zum gemeinsamen Gebet vereinigt, ergeben eine Gemeinschaft, die sich den gleichen kultischen Vorschriften unterordnet. Ist noch ein Rabbiner vorhanden, so ist damit sofort die Instanz gegeben, die Fragen des bürgerlichen und religiösen Rechts autoritativ entscheidet. Die unvermeidbaren Beziehungen zur Außenwelt, die nicht automatisch durch das geltende allgemeine Gesetz des Landes geregelt sind, machen immer wieder das Herausstellen repräsentativer Persönlichkeiten notwendig; so wird eine Verwaltung mit nach innen und nach außen gerichteten Funktionen für jede jüdische Gemeinde und erst recht für die Gesamtheit der Gemeinden in einem Lande zur selbstverständlichen Notwendigkeit.
Was den Juden in Deutschland nicht gelingen konnte, gedeiht 453 hier zu einer vollendeten Form, und zwar nicht zum wenigsten durch die Mitwirkung des polnischen Staates selbst. Sein Interesse am Juden bestand vor allem in seiner Qualität als Steuerzahler. Um nicht den umständlichen Weg über jeden einzelnen Steuerzahler machen zu müssen, bedient er sich in steigendem Maße der jüdischen Selbstverwaltung, der er es überläßt, die pauschal festgesetzten Steuern auf die einzelnen Gemeindemitglieder, beziehungsweise auf die einzelnen Gemeinden zu verteilen. Um das zu ermöglichen, versieht er die Verwaltungskörper steigend mit autoritativen Befugnissen, bis sie – im Rahmen des ihnen Erlaubten – wirklich eine eigene Staatsverwaltung darstellten.
Die Grundlage der jüdischen Selbstverwaltung ist der Kahal. Man begreift darunter zunächst die Gemeinde als solche und zugleich ihren Vorstand, später nur noch den Vorstand selbst. Jede größere Gemeinde hat eine Kahalexekutive, die in einem komplizierten Wahlverfahren ernannt wird. Aber die schweren Verpflichtungen, die ein solches Amt mit sich bringt, insbesondere die persönliche Verantwortung der einzelnen Kahalmitglieder für die Erfüllung der Steuerpflichten der Gemeindemitglieder, sogar für jede Verfehlung eines Gemeindemitgliedes überhaupt, bringen es mit sich, daß dieses Amt allmählich in den Händen einer repräsentationsfähigen, vor allem vermögenden Gruppe von Juden verbleibt. Das gleiche Interesse des Staates an bequemer Erfassung der Steuerobjekte bewegt ihn dazu, mehrere solche Kahale zusammenzufassen, Steuerbezirke zu schaffen, die sich mit den Bezirksverbänden der Kahale decken. Und wieder aus der Zusammenfassung der Bezirksverbände werden im Laufe der Zeit umfassende Landesverbände. Schon 1580 ist diese Entwicklung abgeschlossen. Es entsteht der Länderwaad, Waad ha'arazoth, später der Waad der vier Länder, Waad arba arazoth genannt.
Das ist – auf fremder Erde, innerhalb einer Mauer fremden Gesetzes, halb ein freiwilliges, halb ein erzwungenes Gebilde – 454 der jüdische Staat. Er hat seine Kommunalbehörde in der Kahalexekutive, die die Verwaltung und Rechtsprechung ausübt, daneben auch die gesetzgeberische Gewalt über die Verhältnisse der Gemeindemitglieder. Er hat seine Provinzialverbände in den Waadim und in deren Zusammenfassung seine höchste Körperschaft. Er hat sein eigenes »jüdisches Recht«, seine eigene Geistlichkeit, seine eigenen Schulen und seine eigenen sozialen Institutionen. Er unterhält auch bei der Landesregierung seine eigenen Vertreter, die sogenannten Schtadlanim. Es ist alles vorhanden, was einen Staat ausmacht. Nur das wichtigste Lebenselement fehlt ihm: die Freiheit der Entschließung, die der Staat als Instrument für das größtmögliche Wohlergehen seiner Mitglieder handhabt. Darum wurde dieser Staat in dem Augenblick zerschlagen, als die Umwelt ihn als entbehrlich betrachtete.
Im Rahmen dieses Staates führt der polnische Jude ein geistiges Leben, das sehr weit und sehr eng zugleich ist. Immer noch scheitern die geringsten Ansätze weltlichen Wissens an der nachwirkenden Panik der Jahrhunderte, die sich auf das religiöse, das heißt: das talmudische Wissen mit einer Hartnäckigkeit festgelegt hat, die immer unbeweglicher wird. Aber dieses talmudische Wissen ist immerhin imstande, so viel an Normen und Anweisungen aus sich zu entlassen, daß es das sehr komplizierte Leben des Juden in dieser Zeit und in allen erdenklichen Lebensverhältnissen regeln kann. Die Form der Lebensbeziehungen deckt sich mit dem Inhalt der religiösen Überzeugung. Beiden aber haftet die Zwangsläufigkeit an. Aller Glaube ist in Gefahr, sich im nackten äußeren Tun zu verfangen. Das Vorbildliche und Repräsentative im religiösen Verhalten des Juden – die noblesse oblige seiner Andersartigkeit – ist auf ein Minimum reduziert. Der Schulchan Aruch ist ein heiliger Kodex geworden. Er genügt den Konservativen nicht einmal. Moses Isserles aus Krakau (ca. 1520–72) hat daran auszusetzen, daß Karo in seinem Werke die Entscheidungen der 455 askenasischen Gelehrten nicht berücksichtigt und viele Bräuche, Minhagim, der deutsch-polnischen Gemeinden außer acht gelassen habe. So verfaßt er zu Karos »Gedecktem Tisch« eine Mappa, ein »Tischtuch«, und das Volk nimmt diese doppelte Erschwerung, die aus der Summe religiöser Normen fast ein Straf-Gesetz macht, willig auf. Der polnische Rabbinismus nimmt dieses Doppelwerk zum fast einzigen Ausgang seiner praktischen und theoretischen Tätigkeit. In den Schulen wird eine unerhörte Dialektik, eine an das Absurde grenzende Rabulistik getrieben, der Pilpul. Das Wort bedeutet: scharfer Pfeffer. Die Methode war: es stellt einer eine Behauptung auf und belegt sie aus dem Talmud. Dann beweist er das Gegenteil aus dem Talmud, um darauf zu beweisen, daß dieses Gegenteil kein Widerspruch sei. Das ist geistige Akrobatik, die entstehen muß, wenn die natürlichen Fähigkeiten einer Intelligenz, die nun einmal unter allem Druck der Umwelt nicht sterben wollen, kein Gebiet des realen Lebens zur Verfügung haben, auf dem sie produktiv sein können.
Aber es ist nie zu vergessen, daß selbst dieses unfruchtbare Spiel mit den Möglichkeiten des Intellekts mit einer letzten Faser noch dem Gebiet der tiefen Gläubigkeit verhaftet ist. Glaube kann man nicht nur gestalten, man kann ihn auch erdulden. Das polnische Judentum hat dieses Phänomen verwirklicht, und zwar in doppelter Weise. Davon wird jetzt zu berichten sein.