Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Schoftim

Die äußeren Vorgänge in der Richterzeit haben mit kleinen Varianten alle dasselbe Aussehen; feindliche Angriffe unterwerfen einen oder mehrere der jisraelitischen Stämme und zwingen sie unter eine Botmäßigkeit, die bis zum Halbsklaventum geht. Dann ist eines Tages ein Führer da, der alle Kräfte des Volkes gegen die Bedrückung aufruft und die alte Freiheit in vermehrtem Umfange wiederherstellt. An sich also Vorgänge, die mancher geschichtlichen Entwicklung eigen sind, die einen Schulfall aller nationalen Entwicklung aufzeigen und die doch vom Religiösen her ihre eigentliche Bedeutung bekommen. Nacheinander und mit unterschiedlichen Zeitabständen werden Unterdrückungen durch die Idumäer, Moabiter, Philister, Midianiter und Ammoniter berichtet. Als Retter aus der Not werden Othniel, Schamgar, Balak, Gideon, Jephta und Schimschon (Simson) überliefert. Sie haben alle etwas Gemeinsames: keiner kommt aus irgendeiner Führerfamilie; keiner ist nach Herkunft oder besonderen früheren 32 Leistungen zu seinem Amte vorherbestimmt. Sie kommen schlechthin aus dem Volke, aus dem Dunkel. Jephta ist ein Räuberhauptmann aus Gilead, den seine eigenen Stammesgenossen verjagt haben. Schimschon, an den sich die Sage liebevoll heftet, ist eine Art Rübezahl. Von der zärtlich umhegten Figur der Debora weiß die Quelle nur zu berichten, sie sei die Frau eines Mannes namens Lapidot gewesen. Sie alle werden Schoftim, Richter, genannt; auch Debora. Schon daß sie unter die Zahl der Schoftim gerechnet wird, spricht entscheidend dafür, daß die nackte Übersetzung des Wortes keinen zulänglichen Sinn vermittelt. Sie waren nicht Richter in dem Sinne, daß sie die Rechtsprechung ausübten. Sie waren da, wenn die Not rief; sie tauchten unter, wenn sie vorüber war. Sie richteten etwas aus: die jeweilige Befreiung des Volkes. Wie das Beispiel Deboras zeigt, brauchte es dazu nicht einmal eine Heldentat mit dem Schwert. Es genügte, daß einer ein Wort fand, das ihnen ans Herz ging, das ihre seelischen Kräfte mobil machte. Und eben das ist Deboras Art und Amt. Sie kämpft nicht. Sie gibt die Idee des Kampfes und seine Parole. Wie der Kanaaniter Chazor die Nordstämme unterwirft, spielt sie gegen seine eisernen Streitwagen den Gedanken aus: es muß für Gott gegen Chazor gekämpft werden. Noch begreift die Gesamtheit der Stämme den Gedanken nicht. Jehuda nimmt an diesen Vorgängen überhaupt nicht teil. Andere Stämme sind auf ihre Ruhe bedacht und bleiben abseits. Dennoch gelangt der Rest, der ihr folgt, zu einem Sieg, dessen Umfang und Bedeutung in dem ungewöhnlich reifen und dramatisch gespannten Debora-Lied seinen Niederschlag findet.

»In den Tagen Schamgars, Sohns Anats,
»in den Tagen Jaels
»stockten die Wanderzüge,
»die Straßengänger
»gingen krumme Wanderpfade,
»das Bauerntum, es stockte in Jisrael, 33
»stockte,
»bis du aufstandest, Debora,
»aufstandest, eine Mutter
»in Jisrael!«

Der Ausgang dieses Liedes umreißt mit kürzester Formel die innere Situation, den Sinn dieser kriegerischen Bemühung:

»So müssen schwinden
»alle deine Feinde,
»Jahve!
»Aber die dich lieben,
»sind, wie die Sonne ausfährt in ihrer Heldenwehr.«

Jeder Kampf hat den gleichen Sinn. Zuweilen ist er in der Parole enthalten, so in der, die Gideon ausgibt: »Schwert für Jahve und für Gideon!« Das Verständnis für solche Parolen wird geweckt und lebendig erhalten durch die Tätigkeit der Lewiten. Sie sind es, die zwischen den inneren und den äußeren Gefahren, zwischen dem Verlust der eigenen Art durch Angleichung an die Umgebung und dem nackten Untergang in Kriegen den geistigen Zusammenhang herstellen und auflichten: alles Unheil ist Folge der vernachlässigten Bundespflicht gegen Gott. Die Lewiten haften nirgends am Boden; sie haben keinen persönlichen Besitz zu verteidigen. Sie bleiben also von den Verlockungen der Angleichung frei. In solcher Freiheit empfinden sie sich als Amts- und Ideenträger. Ungleich anderen Priesterkasten kennen sie keine persönliche Machtstellung, sondern nur Dienst an einer Aufgabe: das Volk soll seelisch wachsen; es soll der Theokratie eine steigende Wirklichkeit bereiten. Sie schaffen die geistige Atmosphäre, aus der allein der Begriff des »Richters« verstanden werden kann, so verstanden, wie das Volk selbst ihn von Mal zu Mal auffaßte und begriff: als jeweils berufenen Vollstrecker eines göttlichen Auftrages.

Die Schoftim sind also weder identisch mit Richtern im üblichen Sinne noch mit Stammesführern, noch sind sie einfach Kriegshelden. Debora hat nie gekämpft. Eli war oberster 34 Priester in Silo; Schemuël (Samuel), der aus dem Kreis der Lewiten in Silo hervorging, war weder Kriegsführer, noch hatte er sonst ein Amt. Dennoch sind sie Schoftim, Richter. Und das ist ihr Sinn, der trotz erkennbarer Redaktion des Buches »Richter« im monarchischen Sinne unangetastet mit seinem wahren Gehalt dasteht: von Mal zu Mal, wenn die Not des Augenblicks das Volk besinnlich macht, entsteht ihm ein Vollstrecker göttlichen Willens, begreift es den Menschen, der sie durch Tat oder Wort führt, als den Beauftragten ihres wahren Oberhauptes: ihres Gottes. Sie verstehen den Richter einfach als den mit einem einmaligen Auftrag belehnten Menschen, als einen Funktionär der Theokratie, als den, der aus höherem Gebot über den Gegner den Auftrag zu vollstrecken, das Gericht abzuhalten hat: Richter, der ihnen das Recht verschafft, indem er das Gericht über die anderen vollstreckt. In den Gestalten der Richter realisiert das Volk sein Leben unter der Theokratie. Die Richter selbst – Debora, Eli und Schemuël beweisen es – fassen ihr Amt auch keineswegs als Befreiung im politischen Sinne auf. Es soll nur durch die Befreiung eine immer erneute Möglichkeit zu innerer Selbstbefreiung gegeben werden. Darum erlischt ihre Existenzberechtigung mit dem Vollzug ihres Auftrags. Sie sind einmalig und ohne Nachfolgeschaft. In den Zeiten zwischen ihrem Auftreten ist das Volk wieder sich selbst und der eigenen Auseinandersetzung mit seinem Oberhaupt, Gott, überlassen.

Aber so sich selbst überlassen sein und je und je der eigenen Entscheidung vertrauen müssen, ist in diesem jungen Stadium der Entwicklung für das Volk eine ungewöhnliche Last, die es gerne von sich abwälzen möchte. Jede sichtbare Art der Führerschaft erleichtert die Entschließung, weil sie nichts braucht als den momentanen Gehorsam. Und so wächst das Bedürfnis nach einer bleibenden Institution. Mit Gideon beginnt es schon. Sein Name ist schon in die Parole eingeschlossen. Es scheint, daß man ihm die Königswürde von Seiten der Stämme 35 angeboten hat, denen er Hilfe brachte. Jedenfalls hat er in seinem Heimatsstamme Manasse die Rolle eines Oberhauptes bis zu seinem Tode nicht abgegeben. Aber da beginnen auch gleich die Konflikte, die man als die Wehen des Königtums bezeichnen kann. Abimelech, einer seiner Söhne, läßt – bis auf einen – alle seine Brüder ermorden, um zur Macht zu kommen. Ihn unterstützt der Stamm Ephraim. Aber wie Abimelech von der Macht, die ihm zugefallen ist, wirklich Gebrauch machen will, lehnen sie sich auch gegen ihn auf. Er wird in den Kämpfen, die daraus entstehen, getötet.

Aber die Idee der ständigen Führerschaft, einmal konzipiert, wächst trotz dieses entmutigenden Beispiels weiter. Eine vernichtende Niederlage, die ihnen die Philister bereiten, gibt dem Gedanken neuen Anstoß. In der Ebene Saron gehen schwere Kämpfe zwischen den Philistern und den verbündeten jisraelitischen Stämmen unentschieden hin und her. Um ihren Mut zu heben und um die sichtbare Vertretung ihres Gottes in den eigenen Reihen zu haben, lassen sie die Lade des Bundes von Silo holen und im Lager aufstellen. Es nützt ihnen nichts. Sie werden zurückgeworfen, die Lade wird von den Philistern erbeutet, das Land weit hinein besetzt und gebrandschatzt und der Ort Silo samt seinem Heiligtum zerstört.

Die Zerstörung dieses ideellen Zentrums treibt die Lewiten, die sich dort aufgehalten haben, durch das ganze Land und in alle Stämme hinein. Ihr Wirken ist jetzt im verstärkten Maße auf die Erweiterung des theokratischen Gedankens gerichtet. Das Volk selbst weist ihnen jede erdenkbare Autorität zu, aber in dem Wunsche nach ständiger Führerschaft bleiben sie hartnäckig. Wollen die Lewiten sie durch den Gottesbegriff einigen, so wollen hingegen sie selbst geeinigt sein nach dem Vorbild ihrer Umgebung: durch einen König. Sie wissen: ihre Kraft zur Einigung unter einem gemeinsamen und ausschließlichen Gott ist da. Es fehlt nur einer, der sie immer wieder anruft. Sie sind jung als Volk. Darum wünschen sie sich nicht 36 selbst überlassen zu sein. Sie wünschen sich heimlich jemanden, der ihnen Gewalt antut. Aber sie begreifen völlig richtig, daß in dieser Situation die Erfüllung ihres Wunsches nicht von ihnen selbst abhängt, daß sie nicht einfach zusammentreten und sich einen König wählen können. Der König bedeutet für sie im Grund doch nur das dauernde Richtertum, den erblichen und nicht mehr den einmaligen Vertreter des göttlichen Auftrags. Folglich müssen sie sich an diejenigen wenden, die sie als Diener und Vertreter ihres Oberhauptes anerkennen, und unter ihnen an denjenigen, der durch sein Wesen und Wirken bei ihnen die größte Autorität besitzt. Das ist Schemuël, der unter Eli in das Heiligtum zu Silo gekommen ist.

 


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