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Mehr und mehr wurde der Zoo das, was er früher gewesen war. Die Käfige und Gehege füllten sich mit Tieren aus aller Welt, auch entstanden im Laufe der nun kommenden Jahre neue Tierhäuser und Freianlagen.
Die waren zum Teil ganz modern und entbehrten in vielen Fällen der Gitter. Gefangene waren die Tiere natürlich trotzdem, die Illusion der Freiheit hatte wohl nur der Zoobesucher, der Mensch. Aber es war doch ein anderes Bild, die Geschöpfe der Wildnis unter Bäumen zwischen Busch und Blumen vor sich zu sehen, anstatt hinter dem das Bild zerteilenden Gitter.
Man wird beim Anblick solcher Zooanlagen an gewisse Bilder alter Meister erinnert, auf denen, mit liebevollem Eingehen auf die Einzelheiten, Landschaften dargestellt sind, in denen die Tiere, wie am Anfang aller Zeiten, ohne Furcht und Sorge voreinander und vor den Menschen friedlich daherwandeln.
Lammfromm schreitet der Löwe durch eine Herde Antilopen hindurch, und die zierlichen Paarhufer äugen den Herrn mit dem dicken Kopf, wie die Afrikaner den Löwen nennen, aus ihren großen, dunklen Augen freundlich an. Strauße und Hyänen tummeln sich miteinander, der Adler schwebt über einem Volk Wildhühner, das sich nicht im geringsten in der Futtersuche stören läßt, und jegliches Getier bildet eine einzige große Familie.
Ein reizendes Märchen. Und doch, noch vor hundert Jahren haben Afrikaforscher ganz Ähnliches beobachtet. Dort standen, bevor der »weiße Mann« erschien, Riesenherden von Gnus, Zebras, Antilopen der verschiedensten Arten und Strauße beisammen, und mitunter sehr zahlreiche Trupps von Löwen gingen auf Entfernungen von dreißig Metern an ihnen vorbei, ohne den Versuch zu machen, ein Stück zu schlagen. Das sah genau so aus, wie das Bild des alten Meisters gemeint war. Dahinter stand aber etwas anderes. Kein Löwe ist imstande, diese Tiere in offener Hetzjagd zu erbeuten, seine Schnelligkeit reicht nicht aus. In der Nacht, an den Wechseln des Wildes und den Tränken, da ändert sich das Bild. Dann rollt wie ein vielfaches Echo das Gebrüll der Löwen durch die Steppe, und mit dem Frieden zwischen Pflanzenfresser und Fleischfresser ist es vorbei.
Alle Sinne auf das äußerste angespannt, geht das Wild zu den Tränken, denn überall können die Löwen, die oft zu mehreren jagen, im Hinterhalt liegen, und wenn auch die gelben Großkatzen auf langer Strecke hinter den Hufern zurückbleiben, ihr Überfall ist blitzschnell.
Davon kann man sich sogar gelegentlich im Zoo überzeugen, wenn in einem der großen, weiten Gehege ein Löwe den anderen spielerisch überrollt. Gedankenschnell ist dann sein Ansturm, weit schneller, als man es so großen, schweren Tieren zutraut. Doch im Zoo zeigten die Löwen und Tiger nur selten ihre Fähigkeit zu kraftvoller Schnelligkeit. Die Löwen besonders sahen meistens mit ihrem herrlichen, königlichen Auge in weite Fernen, und ihre Seele war, selbst wenn sie in der Gefangenschaft geboren waren, in der Freiheit und in der Weite ihrer sonnenglühenden Heimat.
Wenn dann ein Sonntagsbesucher den Blick des Löwen endlich erhascht hat, der Löwe aber bald wieder an ihm vorbeisieht, so meint der Mann selbstverständlich, das Raubtier könne den starken Blick des Menschen nicht ertragen.
Könnte der Löwe lachen, er täte es. Warum sollte dieses starke Tier den Blick eines Wesens fürchten, das er täglich zu Hunderten von Exemplaren an sich vorüberziehen sieht und das ihn nur langweilt?
Aber der Löwe ist ein Steppentier, und sein Auge sieht außerordentlich weit. Dinge oder Wesen, die in seiner Nähe sind, längere Zeit zu fixieren, liegt einfach nicht in seiner Natur, es sei denn, er will sie reißen. Daß er das durch die Gitterstäbe nicht kann, hat er längst begriffen, und so lassen ihn diese Geschöpfe kalt.
So liegt der König der Tiere den größten Teil des Tages teilnahmslos, und seine goldklaren Augen sehen über die Menschen hinweg ins Leere. Was in ihm vor sich geht, wissen wir nicht.