Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Zehntes Kapitel.

Zweimal ist es Winter und zweimal wieder Sommer geworden seit jenem Abend, an welchem das Flitterwochenglück der Neuverbundenen so erschütternd getrübt wurde.

Der Schlag hatte aber in Beiden eine sehr verschiedene Spur zurückgelassen.

Während Edwin nach dem ersten jähen Schmerz fast eine tragische Beruhigung empfand, das unheilvoll verworrene Schicksal dieses edlen Lebens durch einen heroischen Tod gelös't zu wissen, verfiel Lea einer seltsamen Schwermuth, die sie beständig darüber nachgrübeln ließ, ob sie selbst sich nicht eine Mitschuld an diesem furchtbaren Ausgang zuzurechnen habe. Wenn sie nicht dazwischen gestanden hätte – wenn sie bei jenem ersten und letzten Gespräch der fremden Wohlbekannten anders begegnet wäre –! Und wieder: wenn auch die Lebende über Edwin's Herz keine Macht mehr hatte, wie mochte das Bild der wundersamen Frau, die mit so ruhiger Hoheit sich von diesem verlorenen Leben hinweggewendet, in der Verklärung des Todes ihm nachgehen und jede leibhaftige Gestalt in seiner Nähe 312 verdunkeln! Dann wieder lehnte sich ein geheimer Stolz in ihr gegen den Gedanken auf, daß ihr mit diesem freiwilligen Scheiden ein Gefallen sollte geschehen, ein Opfer gebracht worden sein; als habe die Großmüthige sich gesagt: so lang ich noch athme, kann diese Frau ihres Glücks und Friedens nicht sicher sein; Eine von uns muß aus dem Wege gehn!

Diese unruhig auf und ab wogenden Gedanken verschloß sie sorgfältig vor Edwin. Und da sein Beruf und die nun rüstig geförderte Arbeit an seinem Buch ihm genug zu schaffen machten, kam er nicht dazu, Lea beständig zu beobachten, und schob gewisse dunkle Stimmungen, die ihm nicht ganz entgingen, auf ihren veränderten Zustand und die Bangigkeit eines ersten Muttergefühls. In der That lichtete sich auch ihr Wesen wie auf Einen Schlag mit der Erfüllung dieses sehnlichsten Wunsches, und wie das Kind erst in der Wiege lag, schien das Haus gegen alle Schatten der Vergangenheit durch einen unvergänglichen Sonnenschein geschützt.

So war noch ein zweites Jahr vergangen.

Und wieder ist es eine Ferienzeit, in der wir unseren Freunden begegnen. Diesmal aber treffen wir sie nicht zwischen Berg und Thal oder in der traulichen Enge ihrer neuen Heimath. Lea, in verzeihlichem Mutterstolz, hat dem eigenen Verlangen und der dringenden Einladung der Eltern nicht widerstehen können und ihr kleines rosiges Mädchen, »das schon so verständig ist und unterwegs gar keine Noth macht«, auf die Reise nach Berlin mitgenommen. Sie sind gestern Abend 313 wohlbehalten in dem hübschen Hause der Thiergartenvorstadt angekommen, wo Papa Zaunkönig, seitdem er die Lagune verlassen, sich sein bescheidenes aber behagliches Nest gebaut hat. Hier mitten im Grünen und in der Pflege der treuen Gefährtin ist der alte Herr förmlich noch einmal aufgeblüht, und die Freude, Tochter und Enkelkind zu umarmen, hat ihn selbst die Fesseln abstreifen lassen, mit denen, in Gestalt von Tüchern, Binden und Filzschuhen, die Gicht seine Füße sonst unbehülflich zu machen pflegt. Wie er an den Wagen gelaufen kam, seiner so viel behenderen und immer noch jugendlich anmuthigen Frau weit voraus, wie er sich's nicht nehmen ließ, das schlafende Püppchen sammt allen Kissen und Decken selbst durch den Vorgarten ins Haus zu tragen, und dann den Rest des Tages unermüdlich hin und her lief, um hundertmal zu fragen, ob die Kinder in ihrem Gastzimmer auch Nichts vermißten, obwohl seine kluge Frau aufs Liebevollste für Alles gesorgt hatte – – »O, wieder nach Hause kommen ist doch schön!« hatte Lea mit feuchten Augen ausgerufen und war der neuen Mutter, die als solche zu begrüßen sie immer noch im Stillen sich gefürchtet hatte, mit dankbarer Innigkeit um den Hals gefallen.

Auch Edwin war heiter. Auch ihm hatte das Wiedersehen der trefflichen Menschen wohlgethan. Aber im Hintergrunde seines Gemüths lag doch eine leise Schwermuth, eine stille Beklommenheit, die auch der andere Morgen mit allem Sonnenschein und 314 Vogelgezwitscher vor den Fenstern nicht zu verscheuchen vermochte.

Lea verstand ihn sofort, als er, ohne das gemeinsame Frühstück abzuwarten, sich zum Ausgehen rüstete.

Geh nur, Liebster, sagte sie. Es muß doch einmal sein. Ich ginge mit dir, aber das Kind ist noch nicht versorgt. Grüße mir Alles!

Sie küßte ihn und sah ihm mit Händewinken nach, als er durch den Vorgarten in den Park hinausschritt. Sie wußte, daß es ihm keine Ruhe ließ, die Stätten wiederzusehen, an denen seine theuersten Erinnerungen hingen. Aber in Einem täuschte sie sich doch. Sein erster Gang war nicht, wie sie voraussetzte, nach dem Friedhof, wo Balder ruhte. Nicht einmal das Grab zu schmücken oder für einen Denkstein zu sorgen hatte er sich besonders angelegen sein lassen, und als Lea damals ihn um die Inschrift befragte, da ihr Vater alles Uebrige stillschweigend in die Hand nahm, hatte er sie fast befremdet angeblickt und nur erwiedert: Ihr werdet das schon machen; wie es euch am besten dünkt, so ist es mir recht. – Dann war er überhaupt nicht wieder hinausgegangen. Er gestand, daß seine Todten ihm nirgend ferner blieben, als in der Nähe ihrer Gräber, wo er ihnen lebend nie begegnet war und die geliebten Bilder ihm zu Schatten unter andern Schatten verblaßten. Als er aber jetzt in der stillen Morgensonne quer durch den menschenleeren Thiergarten wanderte, war es ihm plötzlich mitten im hellen Tageslicht, als wandle eine verklärte Gestalt, die Balder's Züge trug, dicht neben ihm 315 her, daß er die Augen halb eindrückte, um diesen wachen Traum nicht zu stören. Alles Vergangene, alles Liebe und Trauliche ihres Jugendlebens, drängte sich wieder an sein Herz, und wie er unwillkürlich die Hand ausstreckte, wurde förmlich einen Augenblick das Gefühl darin wieder lebendig, das er gehabt hatte, wenn er dem Bruder über die weichen Haare strich.

So kam er in die Gegend, wo der Park aufhört und neue Häuser und Straßen, die inzwischen aus dem Boden gewachsen waren, ihn daran erinnerten, wie viel Jahre er fern gewesen war. Er wußte, daß Marquard hier draußen wohnte, ja an einem der hohen, mit Karyatiden eingerahmten Fenster eines prachtvollen Hauses glaubte er ein Gesicht zu erkennen, das an Adele erinnerte.

Er wandte sich ab, um nicht erkannt zu werden. Es war ihm nicht darum zu thun, schon an diesem ersten Morgen hier ein Wiedersehen zu feiern. Dann kam er bald an das Spreeufer und ging nun rechts den Quai hinunter, die Augen nachdenklich auf das sonneblitzende Wasser geheftet. Es fiel ihm auf, wie wunderlich es war, daß er nur an Dem, was sich in beständigem Flusse befand, keine Veränderung wahrnahm, während die festen Steine dem Wandel der Zeit nicht widerstanden hatten und Haus um Haus sich erneuert zu haben schienen. Dagegen bot die alte Spree noch ganz denselben Anblick, die schwimmenden Häuser auf ihr hatten Form und Farbe und ihre Insassen Tracht und Sitte 316 bewahrt, wie an dem Tage, wo er zuerst mit dem kleinen Maler hier seine Canaletto-Studien gemacht hatte.

Daß er die Lagune und den venezianischen Palast überbaut finden würde, wußte er; und doch zog es ihn zunächst an diese Stelle des Schiffbauerdamms. Als er aber in die Nähe kam und jede Spur des alten Bildes verwischt, statt des Kanals einen breiten Thorweg und über dem Holzplatz ein himmelhohes, nüchternes Gebäude mit blitzenden Fenstern errichtet fand, blieb er in plötzlicher Niedergeschlagenheit stehen, und es war ihm, als finde er an der Stelle, wo er einen Schatz vergraben, einen Haufen werthloser Steine. Dann mußte er selbst über die Heftigkeit dieser Empfindung lächeln. So hängen wir am Handgreiflichen! sagte er vor sich hin. Wir mögen uns noch so sicher in unserm Idealismus dünken – die Sinne verlangen ihr Pflichttheil. Was war mir diese armselige hundertjährige Baracke! Und jetzt, da ich sie nicht mehr mit leiblichen Augen sehen soll, ist mir's, wie wenn Barbaren einen Tempel eingerissen hätten, der die herrlichsten Götterbilder enthalten und mich oft zur Andacht gestimmt hätte!

Langsam schlug er den Weg in die Friedrichsstraße ein. Er hatte vor, nach dem Hause in der Dorotheenstraße zu gehen, dort in der alten »Tonne« sich umzusehen und dann die Grüße auszurichten, die ihm Reginchen und Franzelius an die Mutter mitgegeben. Den Vater konnten sie nicht grüßen lassen; der gute Meister war nicht mehr unter den Lebenden. Schon der 317 vorige Herbst hatte dieses bescheidene Blatt am Baum der Menschheit vom Zweige gerissen, ehe es zu welken Miene machte. Denn die letzte Zeit, in der er eifrig nach dem Rath Heinrich Mohr's den Fortschritt in der Kreisbewegung erstrebt und die Culturfragen der Menschheit in nächster Nähe studirt hatte, war die genußreichste und ergiebigste seines ganzen Lebens gewesen. Anfangs freilich zeigte er sich ungehalten darüber, daß »Mutter« durchaus nicht zu bewegen war, ihn auf seinen Entdeckungsfahrten durch Berlin zu begleiten. Nach und nach aber schien er sich mit diesem Eigensinn auszusöhnen; ja er gestand seinen Freunden im Bezirksverein, daß man gewisse Abgründe der modernen Civilisation nur in ihrer ganzen Tiefe ermessen könne, wenn man sich »ohne Damen« hineinwage. Da er beständig von diesen »Abgründen« sprach, redeten ihm einige Spaßvögel zu, doch einmal einen Vortrag darüber zu halten. Er sträubte sich lange mit geschmeichelter Bescheidenheit, ging aber doch endlich daran und verbrachte, zu großem Erstaunen seines treuen Weibes, die ihren Mann auf seine alten Tage zum Schriftsteller werden sah, viele Wochen damit, ein paar Bogen mit höchst seltsamen aber ausbündig schwungvoll stilisirten Sätzen über die sogenannten socialen Fragen zu füllen, worüber er Essen und Trinken, Schlafen und Spazierengehen und sogar seine Werkstätte völlig vergaß, aber selig war wie ein Gymnasiast, der die ersten Liebeslieder an eine junge Dame dichtet, mit welcher er nie ein Wort gesprochen. Als er diese wundersame Composition, unter dem Titel »sociale 318 Abgrundsstudien«, in einer der Comité-Sitzungen gleichsam zur Probe vortrug, belohnte ihn eine große, allgemeine Heiterkeit für seine Mühe, eine Form des Beifalls, die ihm, da er auch das Gewürz einiger Wortspiele und Anekdoten eingestreut hatte, durchaus nur schmeichelhaft schien. Der Vorsitzende hielt nun freilich aus ganz scheinbaren Gründen der Zweckmäßigkeit den Vortrag für ein größeres Publikum noch nicht geeignet, dankte aber dem strebsamen Meister aufs Wärmste für die interessante Mittheilung, so daß der alte Mann in einer gehobenen Stimmung, wie er sie noch nie erlebt, Champagner kommen ließ und mehr als Einer Flasche auf das Wohl des Fortschritts und der Volksbildung den Hals brach.

Am andern Morgen fand man ihn vom Schlage getroffen todt in seinem Bette, das Lächeln des Siegers noch auf seinen Lippen, das die Ueberlebenden zu fragen schien, ob der so plötzlich Hingeraffte, wenn ihm eine längere Wirksamkeit beschieden gewesen wäre, nicht doch vielleicht noch bewiesen haben würde, daß er mehr war, als ein mittelmäßiger Mensch.

Nicht gerade an diesen wackeren Freund dachte Edwin, als er die lange Straße hinunterging und jetzt, nachdem er sich ein Herz gefaßt, um die Ecke bog. Da hatte ihm sonst das schmale Häuschen mit dem schiefgesunkenen Dach und dem heiteren, fleischfarbenen Anstrich schon von Weitem zugewinkt. Heute – was war geschehen, daß seine suchenden Augen zuerst daran vorüberglitten? Hatte es seinen alten Herrn nicht überdauern wollen? Nein, noch stand es an seinem Ort, 319 aber sein Ansehen war sehr verwandelt. Die lebenslustige rosa Tünche, die mit der Stimmung seiner jetzigen Alleinbesitzerin in zu grellem Widerspruch stand, war unter einem nachdenklichen Steingrau mit schwarzen Querstreifen verschwunden, so daß es aussah, als trüge auch das Haus Trauer um seinen alten Herrn. Auch das Schild über der Ladenthür hatte sich eine Correctur gefallen lassen müssen; eine melancholische Veränderung war mit der Firma vorgegangen, die nun lautete:

»Gottfried Feyertag's sel. Wittwe und Compagnie«

mit welchem Zusatz natürlich Niemand anders gemeint war, als Georg, der Obergesell.

In der Beletage standen alle Fenster offen; das war in früheren Zeiten selbst im Hochsommer nie vorgekommen. Aber das alte Pärchen hatte schon vor etlichen Jahren diese friedliche Wohnung verlassen, um jenes noch stillere letzte Quartier zu beziehen, wo man gegen alle Zugluft geschützt auf seinen Erdenlorbeern ausruht. Kaum ein Dutzend Worte hatte Edwin mit diesen Hausgenossen gewechselt; und doch war es ihm jetzt, als hätten auch sie nothwendig zu seinem Leben gehört, und sie nicht mehr zu finden, sei ihm ein wirklicher Kummer.

Er näherte sich jetzt mit zaudernden Schritten dem Hause, stieg die paar Stufen hinan und trat in den Hausflur. Durch die Scheiben der inneren Thür konnte er in den sonnenhellen Laden sehen, wo Madame Feyertag, ganz in Schwarz mit einer großen Florhaube, in dem Winkel hinterm Schaufenster saß und nähte. Er 320 brachte es nicht übers Herz, einzutreten und Reginchens Grüße zu bestellen; die Brust war ihm wie zugeschnürt; er fürchtete, seine Worte nicht regieren zu können. Behutsam mit lautlosen Tritten schlich er vorbei und öffnete die Thür nach dem Hof. In die Tonne hatte er hinaufsteigen wollen; eine mächtige Sehnsucht zog ihn wieder in die alten Räume. Es war hier noch Alles wie sonst: das kahle graue Hinterhaus – die Bohnenlaube mit den Schattenpflanzen, die Akazie, die nun freilich ganz abgestorben auch nicht ein kümmerliches Blatt mehr getrieben hatte – und oben in ihrem dürren Wipfel – was lag da Weißes, wie ein Häuschen zurückgebliebenen Winterschnee's? Ein Kätzchen? War sie es selbst, Balder's alte Freundin, die ihre lebensmüden Glieder einsam auf diesem hohen Wittwensitz sonnte – oder war es eine Nachkömmlingin, die der Stammmutter so täuschend glich? Er konnte es nicht unterscheiden – sein Blick umflorte sich leise – dazu waren ihm die Füße wie gelähmt: trotz seiner Sehnsucht vermochte er nicht, den Hof zu betreten und die Hühnerstiege hinaufzuklimmen. So stand er an den Thürpfosten gelehnt mit eingedrückten Augen. Dann wurden Stimmen laut drüben in der Werkstatt, und zusammenfahrend, als fürchte er hier wie ein eingeschlichener Dieb ertappt zu werden, riß er sich los und floh mit klopfendem Herzen auf die Straße zurück.

Lange ging er hin wie ein Trunkener. Er sah die Menschen nicht, die an ihm vorübereilten, nicht die glänzenden Läden, das Gewühl der Wagen, das ganze rege Treiben des Lebens um ihn her. Aber nach und nach 321 wurde die schmerzliche Erregung in seinem Innern sanfter, und nun wachten einzelne Worte in ihm auf, die sich unwillkürlich zusammenfügten, noch eh er sich besann, daß es ein altes Lied Balder's war, was plötzlich aus dem Grunde seines Gedächtnisses wieder herausklang und mit einem heimlichen Zauber ihn beschwichtigte:

Seele, wie schweifst du
Aetherbeschwingt
Das All entlang
Durch Tiefen und Höh'n!

In deiner Armuth
Welche Fülle!
In ew'ger Unrast
Wie heil'ge Stille!

Frei über Alles
Und stets gebunden,
Seele, wo hast du
Dein Ziel gefunden?

Gestirn' und Sonnen
Umkreis't dein Flügel
Und weilt mit Wonnen
Am Veilchenhügel.

Die Wiege der Blitze
Heimelt dich an;
Zum Wolkensitze
Stürmst du hinan.

Und wieder innig
Im engsten Kreise,
Zärtlich und sinnig,
Schüchtern und leise, 322

Rankst du mit tausend
Fasern und Klammern
Dem Epheu gleich
Um niedre Kammern,

Wo nur ein Strahl des Erinnerns
Durch Trümmerspalten
Herniederglänzend
Dich traulich wärmt! – –

Wie er, die letzten Worte halblaut vor sich hinsprechend, eben in die Linden einbog, fühlte er sich plötzlich am Arm gehalten und sah, sich umwendend, in ein Gesicht, das seinen Gedanken am fernsten gewesen war.

Der alte lievländische Baron, der begeisterte Kunstfreund und -Kenner, der damals dem guten Zaunkönig zu seiner kurzen Hofmalerherrlichkeit verholfen hatte, stand mit dem Ausdruck lebhaftester Freude vor ihm.

Nun wahrhaftig, rief er, Edwin mit jugendlichem Ungestüm die Hand schüttelnd, das nenne ich den Wolf in der Fabel! Habe erst gestern Abend wohl zwei Stunden von Ihnen gesprochen, auf Sie gescholten und Sie wieder vertheidigt, wenn Andere sich's herausnehmen wollten, ebenfalls auf Sie zu schelten. Und heute rennen Sie da vor mir her, Trautester, als ich eben überlege, ob ich wohl zu Ihrem Schwiegerpapa hinausgehen soll, um mir Ihre Adresse geben zu lassen; denn ich war drauf und dran, Ihnen zu schreiben. Nur weiß ich nicht, wie seit jener dummen Geschichte der treffliche Meister Zaunkönig auf mich zu sprechen ist. Denn so glorios er sich bei der bewussten Affaire benommen hat, 323 genau wie ich's ihm zugetraut hatte, – ich war doch jedenfalls mit verschworen, und jene ganze Wette –

Sie sollten ihn doch besser kennen, lieber Baron, unterbrach Edwin den munter hervorsprudelnden Redestrom. Er ist zwar nicht so ganz »die Taube sonder Gallen«, daß er gegen Ihren Fürsten nicht sehr aufgebracht gewesen wäre, im ersten Augenblick der Enthüllung, und freilich auch da weniger aus gekränkter persönlicher Würde, als ganz im Allgemeinen aus Empörung über die kaltblütige Frivolität, mit der solche hohen Mäcene einen anspruchslosen Künstler behandeln. Dann aber ist er still und nachdenklich geworden, hat seine Zaunstudien und die paar fertigen Bildchen zusammengetragen und rings um sich her ausgebreitet. Wie ich ihn frug, was er da mache, sagte er: »Ich verleide mich mir selbst. Seien wir gerecht: diese Sächelchen sind aus einer Verirrung des Kunsttriebes hervorgegangen!« – Und andern Tages waren sie verschwunden, wie ich hinterher erfahren: in einer Kiste vernagelt, mit einem Ziegelstein beschwert und in die Lagune versenkt.

Oh, oh, oh! sagte der Alte kopfschüttelnd, so haben wir ihn wirklich um seine beste Lebensfreude gebracht! Ich werde den Luini, den ich dem Fürsten damals abgewonnen, nie mehr ohne Gewissensbisse ansehen können. Oh, oh!

Beruhigen Sie sich, lieber Baron. Sie haben nur mitgeholfen, seinen alten Lieblingsspruch wieder einmal zu bewähren, daß Denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Seine Kunstleidenschaft ist 324 recht eigentlich aus der Lagune, in die er sie zu begraben dachte, verjüngt und lebenskräftig wieder auferstanden. Seit er da draußen wohnt, wo er übrigens trotz der neuen bequemeren Verhältnisse seine alte bescheidene Lebensweise fortsetzt und fleißig seine Holzstöcke schneidet, seitdem hat er freilich keinen Versuch gemacht, zu seiner ehemaligen »Specialität« zurückzukehren. Er behauptet, jetzt erst, da er täglich ins Grüne sehe, erkenne er die ganze Größe der frevelhaften Dreistigkeit, mit der er diese Wunderwerke Gottes auf seinen armseligen Leinwändchen nachgestümpert habe. Dagegen, da immer das Versagte die Seele reizt und die Phantasie aufregt, hat er sich nun ein neues kleines Genre zurechtgemacht; er malt Ansichten von der Spree und dem grünen Graben, Brückenprospecte und Wassertreppen mit etwas Kahnstaffage, gar nicht ohne Glück, wie mir scheint. Sie können sich denken, daß die geraden Linien und die grauen Localtöne ihm besser gelingen, als das saftig sein sollende Unkraut und die lichten Himmel seiner früheren Zaunbilder. Wenn Sie einmal zu ihm hinauskämen – er hat gerade wieder etwas fertig –

Col sommo piacere! Mit tausend Freuden! Sie nehmen mir da einen Centnerstein vom Herzen. Aber was ich sagen wollte – wovon sprachen wir doch vorhin? – Mein Kopf wird alt, Freundchen, und Nichts macht confuser und vergeßlicher, als der Umgang mit lauter stummen Bildern.

Sie erzählten, daß Sie gestern zwei Stunden lang auf mich gescholten hätten. Ich wäre doch begierig – 325

Richtig, das war's: von Ihrem Buch war die Rede; man spricht ja jetzt überall davon, so daß ich mich zuletzt schämen mußte, es nicht gelesen zu haben, obgleich ich nicht gerade verpflichtet bin, alle neuen Bücher zu kennen, von denen gesprochen wird, nicht einmal die von meinen Freunden. Aber Bester, was haben Sie da gemacht!

Doch hoffentlich nichts so Arges. Im schlimmsten Fall ein schlechtes Buch.

Was viel Schlimmeres, Freundchen: ein gutes Buch, ein Buch, das in allen Hauptsachen vollständig Recht und die große Mehrzahl der denkenden Menschen auf seiner Seite hat. Sie lachen? O diese jungen Leute! Sie meinen, in der Welt komme es darauf an, Recht zu haben. Als ob es etwas Anstößigeres, Unbequemeres, Polizeiwidrigeres geben könnte, als einen Menschen, der weder links noch rechts sieht, weder Vorsichten noch Rücksichten kennt, sondern die Dinge beim Namen nennt! Ein solcher Tolldreister möge in die thebaische Wüste gehen und dort den Steinen seine Weisheit vortragen. Aber wenn er sich einbildet, in unserm auf gegenseitiges Bemänteln und Beschönigen, auf Respect-Heuchelei vor verrottetem Kram, auf Ueberfirnissen uralter Schäden gegründeten Staat geduldet zu werden, wo man nicht einmal den Muth hat, in Museums-Katalogen den Humbug falscher Taufen zu beseitigen, geschweige denn andere Götzenbilder bei ihrem richtigen Namen zu nennen – sehen Sie, Freundchen, die Galle tritt mir in meine Satzconstruction, und ich weiß nicht mehr, wie ich angefangen habe. Aber das weiß ich, daß Sie mit solchen 326 Büchern nie und nimmermehr Aussicht haben, in unserem theuren Vaterlande Carrière zu machen, und daß ich dies lebhaft bedaure.

Ich danke Ihnen für diese Bedauern, erwiederte Edwin mit einem stillen Lächeln. Ja, ich theile es sogar in gewissem Sinne, nämlich nicht für mich selbst! Mir ist wohl, wo ich bin, und Amt und Würden haben so wenig Reiz für mich, wie ein Haufen Geld, den ich mir allenfalls, wenn ich's behutsamer anfinge, zusammendociren oder erschriftstellern könnte. Aber im Interesse der öffentlichen Zustände, der Gesundheit und Sittlichkeit unseres Staatslebens kann ich nur mit Kummer daran denken, wie weit wir noch davon entfernt sind, mit der vielberühmten und vielverpönten Gedankenfreiheit Ernst zu machen. So lange der patriarchalische Wahn noch besteht, daß der Staat das Recht oder gar die Pflicht habe, über die theoretischen Meinungen seiner Mitglieder zu wachen, während doch nur die Handlungen vor sein Forum gehören, werden wir aus der träumerischen und tändelnden Unmündigkeit nicht herauskommen. Und dies beruht freilich auf einem tieferen Irrthum, gegen den die Spitze meines ganzen Buches gerichtet ist, obwohl es sich scheinbar um ganz tendenzlose psychologische Probleme dreht: auf dem Irrthum, daß Metaphysik und Moral in einem intimen Zusammenhang, ja in beständiger Wechselwirkung mit einander stünden.

Gedankenfreiheit! rief der lebhafte alte Herr und blieb stehen, indem er seinen blanken Kahlkopf entblößte, da es ihm unterm Hut zu schwül wurde; – als ob es 327 Ihnen um diese armselige Posa'sche Errungenschaft zu thun wäre, die Sie ja so gut besitzen, wie schon die Herren Spanier selbst in den finstersten Zeiten. Was Sie haben wollen und noch lange nicht bekommen werden, ist Lehrfreiheit, die Freiheit, Ihre Gedanken in anderen Köpfen fortzupflanzen, nicht bloß durch Bücher, die nur von einem kleinen Häuflein gelesen werden, sondern durch das lebendige Wort in offenen Hörsälen, gerade so gut wie nebenan Ihr Herr College die approbirte und völlig unschädlich befundene condensirte Milch der frommen Denkart seinen Zuhörern einflößt. Aber Sie haben Unrecht, trautester Freund, das zu verlangen, und darum habe ich auf Sie gescholten, weil ich es beklage, daß Sie sich selbst Ihre Wirksamkeit durch vorschnelles Ausplaudern Ihrer letzten Gedanken erschweren, wo nicht unmöglich machen. Lieber Himmel, es ist ein so erschrecklicher Mißwachs auf dem Felde der Philosophie, man würde so froh sein, eine junge Kraft heranziehen und fördern zu können; aber wenn sie so links und rechts ausschlägt und mit ihren Wurzeln den Boden lockert, auf welchem zahme Küchenkräuter bisher ihren nahrhaften Pflanzenschlaf so friedlich geschlummert haben – Sie sind ein zu klarer Kopf, bester Doctor, um nicht zu begreifen, daß die Zeit noch nicht erfüllet ist, wo man Sie bei uns brauchen kann.

Noch nicht erfüllt, gewiß, aber nah, und näher als man da oben vielleicht denkt. Oder wie lange glauben Sie, daß es dauern wird, bis endlich die Scham über die Halbheiten und den künstlich genährten Selbstbetrug, die man mit pädagogischen Rücksichten beschönigt, den Lenkern der öffentlichen Zustände 328 ins Gesicht steigt und sie nöthigt, das längst heimlich Erkannte und Eingestandene auch öffentlich zu bekennen? Es ist wahr, wir hatten bisher andere Aufgaben zu lösen, Fragen der Existenz, der Nothwehr, dann unsrer Macht und Ehre. Aber nachdem wir damit so ziemlich weit gediehen sind, glauben Sie, daß wir, die wir uns auf unsre sittliche Würde vor anderen Völkern mit Recht etwas zu Gute thun, in diesem traditionellen Schlendrian fortfahren und die edelsten geistigen Güter dadurch gefährden dürfen? Denn freilich haben all die heiliggesprochenen Mythen und metaphysischen Legenden auch ethisch gewirkt; aber doch wahrlich nicht nach dem Maß ihrer Wahrheit, sondern durch den Grad ihrer Wahrhaftigkeit, im Schöpfer und Hörer des Gedichts. Und dennoch soll heute der Grad der Wahrhaftigkeit nicht mehr das Entscheidende sein über die Zulässigkeit und sittliche Kraft einer Lehre? Oder ist es nicht eine tiefe Unsittlichkeit, aus äußeren Rücksichten staatlicher Kinderzucht Märchen und Legenden für den Grundstein unserer Glückseligkeit auszugeben, an die alle gebildeten Geister so wenig glauben, wie die Hellenen zu Aristoteles' Zeit an die Fabeln des Homer und Hesiod? Immer nur, um das schmutzige Wasser nicht eher fortzugießen, als bis man reines habe? Aber wer bürgt uns, daß wir überhaupt je aus der letzten, reinsten Quelle schöpfen werden? Und wer möchte nicht lieber mit den wilden Feldfrüchten, die am Wege wachsen, seinen Durst beschwichtigen, als von jenem Wasser trinken, das trotz alles Filtrirens immer nur trüber und schlammiger geworden ist? O bester Freund, ich sehe Ihnen am Gesicht an, was Sie 329 einwenden wollen: die große Masse sei nicht so heikel und nehme mit der trüben Flut vorlieb, ob auch geistesarme Theologen seit Jahrhunderten ihre schmutzige Wäsche darin gewaschen haben. Und wir Gebildeten könnten uns ja an die Früchte halten, die uns Philosophie und Naturforschung vom Baum der Erkenntniß pflücken. Auch ich habe einmal so aristokratisch gedacht. Ich kann es jetzt nicht mehr übers Herz bringen. Denn – von allem Andern zu schweigen – ich glaube nicht, daß Gefahr für die Masse wäre, wenn man sie zur Wahrheit erzöge, statt zu einer fable convenue, wie unsere Dogmengeschichte sie darbietet. Aber selbst wenn es in gewissen Dorf- und Stadtkirchen noch etwas leerer werden sollte, als ohnehin in Folge der Abgestorbenheit und des immer mehr schwindenden Gemüthswerthes unserer Cultusformen der Fall ist – hat der Staat denn nur Verpflichtungen für die Ungebildeten? Darf er sich ohne Gefahr bei den Gebildeten um den Credit der Wahrhaftigkeit bringen, den er so leicht sich erhalten könnte, wenn er nur überhaupt nicht Partei ergriffe, Gewissensfragen nicht durch Staatsinstitutionen zu entscheiden sich herausnähme? Hat er nicht auch Verantwortung für die große Schicht zwischen Bildung und naivem Volksgemüth, die durch all diese theils bewußten, theils unbewußten Halbheiten in ihrer eigenen Frivolität bestärkt und fast gerechtfertigt wird? Das in diesen Kreisen hereinbrechende Unheil der Verflachung und Verweltlichung im schlimmen Sinn, die Uebermacht des gedankenlosen Genusses, der ganze schnöde Materialismus unserer Tage – glauben Sie wirklich, mein Freund, daß dem 330 Allen abzuhelfen, dem ein Damm entgegenzuwerfen sei durch das morsche Trümmerwerk eines Glaubens, an dem die Elemente der Jahrhunderte gerüttelt, genagt, und kaum einen Stein auf dem andern gelassen haben? Ich vermag es nicht zu glauben, auch wenn ich es wünschen könnte, und das Flicken und Ausbessern an dem wankenden Bau scheint mir frevelhafter und gefährlicher, als das Aufrichten eines neuen Dammes – wenigstens das Ausmessen und Abstecken der Fundamente, auf denen unsre Kindeskinder den Bau aufführen mögen.

Schon unsere Kindeskinder? O Sie Sanguiniker!

Sie haben Recht. Wer kann es wissen? Und doch – wie rasch geschehen heutzutage die geistigen Wandlungen im Vergleich mit früheren Zeiten, wo der Verkehr der Geister sich mühsamer vollzog! Von den Tagen an, wo Lessing's Nathan eine That, eine Herausforderung, ein einsam brennendes Bedürfniß dieses großen Herzens war – bis heute, wo sein damaliges noch so zaghaftes Evangelium von der Duldung aller Religionen ein Gemeinplatz geworden ist, da die ehrliche Duldung auch der Irrelegionen zum verschwiegenen Bedürfniß Unzähliger herangereift ist – ist wirklich noch kein volles Jahrhundert seitdem verflossen? – Und aber über hundert Jahren, wer da wie Chidher desselben Wegs gefahren käme –

Ich hoffe, daß der Ihr Buch dann in den deutschen Seminarien eingeführt finden wird – jedenfalls aber den Nathan so in Fleisch und Blut übergegangen, daß man einem Juden ohne Bedenken erlaubt, vor erwachsenen Menschen über Logik und Metaphysik zu lesen.

Das Letztere hoffe auch ich, erwiederte Edwin 331 lächelnd. Das Erstere wäre ein trauriges Zeichen der geringen Fortschritte, die in hundert Jahren die Wissenschaft gemacht hätte. Unsereins ist dann hoffentlich ein überwundener Standpunkt.

Nein, rief der Alte mit einer Feierlichkeit, die Edwin seltsam bewegte, und faßte beide Hände des jüngeren Freundes, indem er ihm voll in die Augen sah – hier muß ich es Ihnen sagen, obwohl es Ihnen von einem alten Kunstnarren nicht sonderlich viel bedeuten wird: in dem Neubau, von dem Sie reden, wenn auch er selbst nach Jahrtausenden morsch und bröcklig geworden sein wird und wieder umgebaut werden muß, wird das Fundament bleiben, und unter andern Andenken an diese Tage, die in den Grundstein eingemauert zu werden verdienen, befindet sich auch Ihr Buch. Ich habe es mir gekauft und vorn hineingeschrieben eine Strophe des alten von göttlichem Wahnsinn erleuchteten Poeten Hölderlin:

Verlaß mit deinem Götterschilde,
Verlaß, o du der Kühnen Genius,
Die Unschuld nie! Gewinne dir und bilde
Das Herz der Jünglinge mit Siegsgenuß!
O säume nicht; erwache, strafe, siege
Und sichre stets der Wahrheit Majestät,
Bis aus der Zeit geheimnißvoller Wiege
Des Himmels Kind, der ew'ge Friede, geht!

Und dieser Friede sei mit Ihnen, Trautester! Leben Sie tausendmal wohl!

Er umarmte den Verstummten und küßte ihn trotz aller Vorübergehenden auf beide Wangen; dann bog er hastig um die nächste Straßenecke und verschwand den Blicken des Nachschauenden. 332



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