Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Neuntes Kapitel.

In der Dorotheenstraße war indessen Reginchens Geburtstag gefeiert worden.

Zunächst oben in der großen Wohnstube der Eltern, wo sich zum Essen heute, wie alle Tage, auch die Gesellen und Lehrjungen eingefunden hatten. Madame Feyertag hielt darauf, daß sie sich sämmtlich, ehe sie zu Tische kamen, am Brunnen unten die Hände wuschen und ihre Jacken ausbürsteten. Heute war diese oft etwas übereilte Procedur von Allen mit einer feierlichen Gründlichkeit vorgenommen worden, die bewies, daß ihnen die Huldigung gegen die Tochter ihres Meisters nicht eine bloße kalte Förmlichkeit war, sondern von Herzen ging. Der Obergesell hatte sogar das Recht seiner überlegenen socialen Stellung so weit benutzt, daß er mit einem Strauß erschien, den er mit einigen wenigen aber gewählten Worten dem erröthenden Geburtstagskinde überreichte. Madame Feyertag that, als bemerke sie es nicht. Sie schien den guten Menschen im Verdacht zu haben, daß er es als eine stehende Tradition dieses Hauses ansähe, der Obergesell müsse die Meisterstochter 122 heimführen, und obwohl sie selbst den Segen einer solchen Mißheirath erfahren hatte, wollte sie doch mit ihrer einzigen Tochter höher hinaus. Der Meister hatte kein Arg dabei. Wenn er zurückdachte, fielen ihm ganz andere Aufmerksamkeiten ein, die er sich, auch ohne festliche Veranlassung, gegen die weiblichen Familienglieder seiner Brodherren herausgenommen hatte. Er war sehr vergnügt, aß drei große Stücke von dem berühmten Pflaumenkuchen und ließ zuletzt zwei Flaschen Wein aus dem Keller holen, in welchem er selbst die Gesundheit Reginchens ausbrachte, mit einer Rede, die, trotz der wunderlichsten Vermischung väterlicher Zärtlichkeit und unverständlicher Anspielungen auf Schopenhauer, von sämmtlichen Gesellen als ein Muster oratorischer Kunst angestaunt wurde.

Doch hatte dies solenne Mahl bei alledem nicht über eine halbe Stunde gedauert, und es war pünktlich halb Ein Uhr, als die kleine Heldin des Tages ihrer Gewohnheit gemäß den Brüdern in der Tonne das Essen hinauftrug. Es wurde ihnen für das geringe Kostgeld nichts Anderes aufgetischt, als womit auch die Insassen der Werkstatt zufrieden sein mußten. Aber Madame Feyertag, die ein gutes Herz hatte und besonders für Balder um seiner Schönheit und Kränklichkeit willen eine fast mütterliche Sorge trug, war doch stets darauf bedacht, von den besten Stücken etwas für ihre Kostgänger zurückzubehalten, ehe sie für ihre eigenen Leute anrichtete.

Als das Reginchen, von der Feier des Tages 123 verklärt und stolz darauf, daß ihretwegen heute diese großen Kuchenstücke auch den Brüdern zu Gute kamen, oben bei ihnen eintrat, war sie verwundert, nur Balder zu finden, der noch an seiner Drehbank saß und bei ihrem Erscheinen rasch etwas in der Tasche seines Arbeitskittels verbarg. Sie fürchtete nämlich, das Essen werde, wie manchesmal, wieder heruntergetragen und warm gestellt werden müssen, und um Ein Uhr sollte ihr Bruder, der Maschinenbauer, kommen, sie abzuholen. Als Balder ihr aber gesagt hatte, Edwin würde heute überhaupt nicht zum Essen nach Hause kommen, beruhigte sie sich. Sie deckte rasch und so zierlich, als es die einfachen Geräthe irgend erlaubten, den Tisch und stellte den Kuchenteller in die Mitte, den sie mit ein paar Blumen aus dem Strauß des Obergesellen verziert hatte. Dann stand sie mit einem schalkhaft zufriedenen Gesicht vor ihrem Werk und rief Balder, sich zu setzen und es nicht kalt werden zu lassen.

Liebes Reginchen, sagte der Jüngling, indem er verlegen heranhinkte, ich habe keine so schönen Blumen, wie der Georg. Sie wissen, auf meiner Schnitzbank wächs't nichts, was grünt und blüht. Aber ich möchte doch auch, so gut ich kann, Ihren achtzehnten Geburtstag feiern, nicht bloß indem ich Ihren schönen Festkuchen esse. Wollen Sie dies kleine Büchschen, das ich selbst gemacht habe, zum Andenken an mich annehmen? Füllen müssen Sie's freilich selbst. Ich habe keine Zeit gehabt, Nadeln, Fingerhut, Seide und was Alles noch hinein soll, einzukaufen. 124

Er zog das blankpolirte zierliche Ding hervor und reichte es ihr, indem er es zugleich öffnete, um sie hineinsehen zu lassen. Ihr rundes, blühendes Gesicht überflog ein freudiges Roth. Doch glaubte sie es ihrer Wohlerzogenheit schuldig zu sein, nicht gleich zuzugreifen.

Aber Herr Walter, rief sie, und strich sich dabei mit beiden flachen Händen, wie sie in der Verlegenheit zu thun pflegte, über die blonden Schläfen – ich habe Sie ja gebeten, mir nichts mehr zu schenken. Die Mutter schilt wieder; sie meint ohnedies, Sie arbeiteten zu viel, Sie sollten sich mehr pflegen, und so was Reizendes, daran haben Sie gewiß ein paar Wochen sich gequält – und ich – ich bin es gar nicht werth – es ist zu hübsch – soll ich es denn wirklich haben? Wenn ich nur wüßte, was ich einmal thun könnte –

Wissen Sie was, Reginchen? sagte er, und auch seine blasseren Wangen hatten sich geröthet, – setzen Sie sich da ein wenig zu mir, es ist so traurig, allein zu essen, und an Ihrem Geburtstag möcht' ich gern recht guter Dinge sein. Wie soll mir sonst der Kuchen schmecken, den Ihre gute Mutter uns geschickt hat? Ich bin im Stande, wenn Sie mich mit ihm allein lassen, ihn nicht anzurühren, aus lauter Kummer, daß ich an solch einem Festtage so einsam bin.

Er hatte eine Stimme, der man schwer widerstehen konnte. Auch war das Mädchen vom Mitgefühl mit seiner Lage und der kindischen Freude über das Geschenk so erfüllt, daß sie gleich einen Stuhl an das Tischchen schob und sich ihm gegenübersetzte. 125

Ich soll mich eigentlich nicht länger hier aufhalten, lachte sie mit verstohlener Miene, als um das Essen zu bringen und hernach die Teller wieder abzuholen. Aber heute wird die Mutter nicht gerade aufpassen. Sie denkt wohl, ich machte mich schon zurecht für den Spaziergang, und der Fritz kommt nicht vor Eins. Er hat nur diesen Nachmittag sich frei gemacht und muß von Moabit herein. Sagen Sie mir nur, Herr Walter, wie können Sie es überhaupt aushalten, so zu leben? Aber Sie lassen die Suppe eiskalt werden.

Sie schob ihm eifrig den Teller hin, nach dem er kein sonderliches Verlangen zu tragen schien, und gab ihm mit einer allerliebsten zuthulichen Koketterie den Löffel in die Hand.

So zu leben? lächelte er und aß dabei wirklich von der Suppe. Ich wüßte nicht, wie ein Mensch besser leben könnte. Ein Essen wie ein Prinz, vor dem offenen Fenster das grüne Laub in der schönen Sonne, und die kleine Hauswirthin selbst, die sich herabläßt, mich zu bedienen, – ich wäre ein Ungeheuer von Undank, wenn ich mir noch etwas Besseres wünschen könnte.

Ach gehen Sie, schüttelte das Mädchen den Kopf. Sie machen Spaß und wissen wohl, was ich meine. Sind es nicht fast zwei Jahre, seit Sie zuletzt ausgegangen sind? Mich brächt' es um, immer auf demselben Fleck zu sitzen.

Weil Sie eine kleine Bachstelze sind, Reginchen. Oder darf ich Sie nicht mehr so nennen, seit Sie nun ganze achtzehn Jahre alt geworden sind? Ich denke aber, 126 Sie bleiben Ihr Lebtag so, wie damals vor fünf Jahren, als wir hier einzogen und Sie jedes Buch meines Bruders einzeln die Treppe herauftrugen, nur um öfter auf und ab springen zu können. Sehen Sie, das Springen ist nicht gerade meine Force. Aber mit den Freuden, die ein Mensch haben soll, ist es eigen: wenn er selbst ihnen nicht nachlaufen kann, sind sie so freundlich, zu ihm zu kommen, und was ich in diesen fünf Jahren an guten Stunden hier oben erlebt habe, ist gar nicht zu zählen.

Weil Sie so bescheiden sind, wie die Mutter immer sagt, und mit Allem zufrieden.

O nicht im Geringsten, Reginchen. Ihre gute Mutter hat eine ganz falsche Meinung von mir. Im Gegentheil, ich bin sehr verwöhnt, ich nehme gar nicht mit Allem vorlieb, und eben deßhalb habe ich auch kein Verlangen, auszugehen, unter das Gewühl von rohen und groben Menschen, die mich nichts angehen, zu sehen, wie sie sich abquälen, ihre Zeit loszuwerden, das heißt, sich selbst und die Empfindung ihres kleinen, armseligen, freudlosen Daseins, wie sie mit jämmerlichem Putz und Lärm sich Mühe geben, etwas zu scheinen, was sie nicht sind, und für groß zu gelten, wenn sie sich auf einen recht großen Haufen von Thalern stellen, den sie, Gott weiß wie, zusammengescharrt haben. Und nun vergleichen Sie damit mein Leben, Reginchen: mit einem solchen Bruder beständig zusammen, auch ein paar gute Freunde, gerade genug, um nicht zu vergessen, daß die besten Menschen noch lange keine Edwin's sind, in einem so 127 hübschen behaglichen Hause so gut verpflegt, dabei gar keine Sorgen, und – zu alledem –

Er stockte und erröthete tiefer. Wollen Sie mir wohl den Gemüseteller reichen, Reginchen? sagte er, um seine Verwirrung zu verbergen.

Sie schien nichts davon zu merken.

Alles gut und schön, sagte sie. Aber sind Sie nicht eigentlich immer krank, Herr Walter, und haben viel Schmerzen auszustehen? Und es heißt doch, Gesundheit sei das größte Gut.

Er schob den Teller zurück und sah sie mit einem so hell aufleuchtenden Blick seiner blauen Augen an, daß sie nun selbst ein wenig verwirrt wurde und sich im Stillen besann, ob sie etwas Ungeschicktes oder Kindisches gesagt hätte. Denn seiner vornehmen Klarheit gegenüber fühlte sie sich heut zum ersten Mal unsicher. Zugleich gestand sie sich auch zum ersten Mal, daß er wirklich sehr schön sei, wie die Mutter immer behauptete und sie eigentlich nie zugeben wollte, da ihrer munteren, beweglichen Frische alles Kranke und Stille von Haus aus unheimlich war.

Liebes Reginchen, sagte er, da Sie heut achtzehn Jahr alt geworden sind, kann ich Ihnen wohl sagen, daß Vieles, ja das Meiste, was die Leute so sagen und Einer dem Andern nachspricht, gerade das Gegentheil der Wahrheit ist. Gesundheit z. B., die als die Bedingung alles Glückes angesehen wird, macht nicht mehr und nicht weniger glücklich, als all das Andere, was sich Alle wünschen: Reichthum, Talente, Schönheit, oder wie es sonst 128 heißen mag. Ob diese Güter einen Menschen glücklich machen, das hängt noch erst davon ab, was er mit ihnen anzufangen weiß. Ich habe einen Mann gekannt, dem nie ein Finger wehthat. Aber er hatte nichts davon, erstens, weil er es nicht anders kannte und es hinnahm, wie das Athemholen, als etwas, das sich von selbst verstünde; und dann ließ ihm seine Gesundheit Zeit, sich und Andern das Leben recht sauer zu machen, weil Nichts seine rohen Kräfte bändigte. Erst wie er einen Fall gethan hatte und nun in Schmerz und Hülflosigkeit auf Andere angewiesen war, merkte er, was es um Menschenliebe und die tausend unscheinbaren Freuden im Leben sei, die er früher verachtet hatte. Sehen Sie, Reginchen, ich will Ihnen nicht zureden, mit mir zu tauschen. Für so ein Bachstelzchen wäre es eine schlechte Bescherung, stillsitzen oder hinken zu müssen. Aber so sehr ich Ihnen Ihre sprudelnde Gesundheit für Ihr ganzes Leben wünsche – wenn es einmal anders käme, bin ich überzeugt, auch Sie würden mich verstehen lernen und einsehen –

Hier unterbrach ihn ein Klopfen an der Thür.

Ein Dienstmann trat ein, warf einen neugierig verschmitzten Blick auf das Paar, das so vertieft einander gegenübersaß, und schob dann einen Flaschenkorb ins Zimmer: der Herr Dr. Marquard ließe sich empfehlen, und hier schickten sie die bewußten Proben, würden in ein paar Tagen nachfragen, ob sie ihre Schuldigkeit gethan.

Als er mit einem anzüglichen: »Wünsche viel 129 Vergnügen!« sich entfernt hatte, stand Balder auf und rief: Nun, Reginchen? Wollen Sie noch nicht zugeben, daß ich einer der glücklichsten Menschen unter der Sonne bin? Wenn ich jetzt zwei gesunde Beine hätte, wie Edwin, wer weiß, wo auch ich mich in diesem Augenblick herumtriebe. Statt dessen genieße ich armer Teufel eine beneidenswerthe Stunde, feiere Ihren Geburtstag mit einem traulichen Festessen in Gesellschaft der Heldin des Tages unter Blumen und Pflaumenkuchen, und das Glück bringt gerade im rechten Augenblick, wo das Gespräch gar zu nachdenklich wird, einen edlen Wein, um uns wieder lustig zu trinken. Sie brauchen nicht nach einem Pfropfenzieher zu laufen. Es thut's ein Bohrer aus meiner Werkstatt auch. Und wissen Sie wohl, daß wir Zwei noch ein gutes Werk thun, wenn wir eine dieser Flaschen anbrechen? Der Wein ist eigentlich für Edwin bestimmt, zu seiner Stärkung. Aber dieser sonst so vollkommene Mensch – in gewissen Dingen läßt sich mit ihm nicht fertig werden. Er wäre im Stande, aus purem Eigensinn den ganzen Flaschenkorb zurückzuschicken, obwohl er von einem alten Freunde kommt, bloß weil unsere Finanzen uns für gewöhnlich diesen Luxus nicht erlauben. Da muß ich ihm denn weismachen, der Wein sei auch für mich Arznei, und da wir Alles zu theilen pflegen, trinkt er am Ende mit. Kommen Sie, Reginchen. Sie müssen freilich mit einem Wasserglase vorlieb nehmen; zu Krystallpokalen haben wir's noch nicht gebracht. Auf Ihre Gesundheit, und daß Sie nie dahinter kommen mögen, wie wenig dieses »höchste Gut« für sich 130 allein bedeutet, weil Sie alle anderen Güter noch daneben haben.

Er reichte ihr ein Glas, und sie klangen fröhlich mit einander an, nachdem sie sich ein wenig gewehrt hatte: es steige ihr zu Kopf. Sie nippte dann auch nur flüchtig mit gespitzten Lippen; er aber trank auf Einen Zug aus, trat rasch an das offene Fenster, und ehe sie begriff, was er wollte, hatte er das Glas in den Hof hinunter geworfen, daß es klirrend zersprang.

Herrgott, sagte sie, was fangen Sie an?

Ich feiere Ihren Geburtstag, Reginchen, erwiederte er heiter, indem er zu ihr trat und eine ihrer Hände ergriff. Darf ich Ihnen nicht beweisen, daß ich nicht nur sehr gesund bin, sondern auch reich genug, um etwas aus dem Fenster zu werfen? Wer noch etwas Ueberflüssiges hat, dem kann doch nichts fehlen. Und nun leben Sie wohl, liebes Reginchen; ich höre Ihres Bruders Stimme unten im Haus. Und wenn Sie sich heut Abend recht müde amüsirt zu Bett legen, denken Sie noch einmal darüber nach, welch ein Glück es auch für minder leichtfüßige Menschen war, daß Sie heut vor achtzehn Jahren auf die Welt gekommen sind.

Er hielt trotz der Mahnung, daß sie gehen möchte, ihre Hand so fest, daß sie mehr und mehr erröthete. Plötzlich machte sie sich mit einer munteren Wendung von ihm los und sagte, das Geschirr rasch zusammenräumend: Ich will Ihnen einen Kornblumenstrauß mitbringen, wenn es noch welche giebt. Adieu, Herr Walter; und ich bedanke mich noch schön für das reizende 131 Präsent. Die Mutter hat Recht: Sie sind der beste Mensch von der ganzen Welt!

Damit lief sie zur Thüre hinaus.

Er horchte ihr nach, bis der Schall ihrer flinken Tritte unten verhallt war. Dann überflog es wie ein Schatten wehmüthiger Gedanken sein Gesicht. Er ging an ein Schubfach, das unten an seiner Drehbank angebracht war, schloß es auf und holte eine Mappe heraus, in der auf zerstreuten Blättern allerlei geschrieben stand, das nach Versen aussah. Er las und blätterte eine Weile. Dann stellte er Reginchens noch kaum berührtes Glas mit dem rothen Wein auf die Drechselbank, setzte sich davor und fing an, von Zeit zu Zeit aus dem Glase nippend, ein Gedicht zu schreiben.

Wohl eine Stunde verging ihm so. Seine feinen, fast mädchenhaften Züge wurden immer heiterer; er warf das dichte blonde Haar dann und wann mit einer lebhaften Geberde in den Nacken und sah in den sonnigen Wipfel der Akazie hinaus und drüber hinweg in das Stück Himmel, das über das alte Dach zu ihm hereinblaute. Glück und Stille und eine himmlische Klarheit leuchteten ihm von Stirn und Wangen, je länger er schrieb. –

Sie sagen, ich sei krank. Es mag wohl sein;
Doch kränkt mich's nicht, doch ist mir's keine Pein.
Ich seh' das Leben mir vorüberfließen
Im Sonnenschein,
Und sitz' am Ufer, wo die Blumen sprießen. 132

O süßes Flutgeräusch, o weicher Wind!
Luft, Wasser, Licht – wie schmeichelt ihr so lind!
Und winkt nicht aus dem Kahn zu mir herüber
Das blonde Kind?
Ach wohl, sie winkt – und wallt an mir vorüber!

            Doch ob ihr schwindet,
            Ihr blauen Sterne,
            Und ich erblindet
            Blick' in die Ferne,
            Der Glanz der Freuden
            In meinen Leiden
            Verschwindet nie.

            Seliges Licht
            Der Lieb' und Güte,
            Du hell Gemüthe
            Wie strahlst du mir!
            Und meines Daseins kurze Blüte –
            Du ahnst es nicht – erschließt sich dir!

Wieder ruhte er eine Weile und kritzelte mit der Feder allerlei Blumen und Ranken zwischen die Strophen, die er so hinschrieb, ohne auch nur ein Wort auszustreichen oder an einem Reim zu feilen. Denn es war keine Kunstübung, die er betrieb, um sich dabei als Dichter zu fühlen (er behauptete vielmehr, der eigentliche Poet von ihnen Beiden sei Edwin, der nur zu stolz-bescheiden sei, um sein Licht leuchten zu lassen); es war nur eine andere Art des Selbstgesprächs, und indem er diese Improvisationen aufschrieb, statt sie nur vor sich hin zu stammeln, verstärkte und verlängerte er einzig für sich selbst den einsamen Genuß. Denn zu dem Schubfach, in welchem er die Blätter verwahrte, trug er den Schlüssel immer bei sich, und selbst Edwin, vor dem er 133 sonst kein Geheimniß hatte, durfte an diesen vergrabenen Schatz nicht rühren.

Jetzt nahm er ein anderes Blatt und schrieb das Folgende:

            Wer das genossen,
            Wem das beschieden,
            Kann Der hienieden
            Unselig sein?

            Sich selbst zu fühlen
            In allen Brüdern,
            Nur im Erwiedern
            Sein Herz zu kühlen;

            Gewiß des Guten,
            Vom Schönen erbaut,
            In Lebensgluten
            Dem Tod vertraut;

            An das Geheime
            Ahnend zu rühren,
            Der Wahrheit Keime
            Im Geist zu spüren,

            Die sich erschließen
            Dem Licht entgegen,
            Still zu genießen
            Ihr heilig Regen,

            Vom Hauch der Musen
            Das Herz geschwellt,
            Mit reinem Busen
            Ein Kind der Welt –

            Wer das genossen,
            Wem das beschieden,
            Muß Der hienieden
            Nicht selig sein?

–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   – 134

Doch kommen Stunden, wo der Muth verstummt,
Rings wie ein Mückenschwarm die Sorge summt;
Ich athme schwer, es ist, als stände still
Der Lebensstrom, der bald versiegen will.

Ich frage mich, was ich denn kann und soll,
Ob Athmen schon allein so wonnevoll,
Um aufzuwiegen dieser Schmerzen Wucht,
Mein ringend Abmühn ohne Ziel und Frucht.

Des Lebens beste Freuden streng verwehrt,
Eintönig Tagwerk, keines Kranzes werth; –
Und wär's Verbrechen, wenn ein müdes Kind
Die Uhr zertrümmert, die zu langsam rinnt?

O Tod! – Da horch! ein Schrittchen drauß erklingt,
Ein Auge glänzt, ein Stimmchen lacht und singt –
Mein Muth, der schon erlag, fliegt himmelhoch –
Ob ich dies Leben liebe, frag' ich's noch?

Eine Weile saß er, still vor sich hin lächelnd. Dann wurde sein Blick ernster; er seufzte, wie um die beklommene Brust zu lüften und einen Gedanken abzuwälzen, der sie beschwerte. Auf das Blatt, das auf seinen Knieen lag, zeichnete sein Stift ein Profil, das unverkennbar Edwin bedeuten sollte. Eben schien der Gedanke, der ihn beschäftigte, wieder in Worten ausströmen zu wollen; da hörte er Jemand die Treppe heraufkommen, mit einem wohlbekannten schwerfälligen Schritt. Ein leichter Schatten des Unmuths flog über seine Stirn, er warf hastig die Mappe in das Schubfach zurück und verschloß sie sorgfältig. Dann nahm er seine Drechselarbeit wieder vor. Der Besucher aber, der jetzt mit einem melancholischen: Guten Abend, Balder! – bei ihm eintrat, sah in ein freundliches Gesicht, dem es nicht anzumerken war, wie unwillkommen ihm die einsame Musenstille verstört worden war. 135



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