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Seit jenem Tage war Edwin ein regelmäßiger Tischgenosse in dem Hause der Jägerstraße. Er kam jeden dritten Tag, ließ sich aber nie verführen, das Anrecht des kleinen Jean auf die Reste des Diners mehr zu schmälern, als das erste Mal. Er tafelte gleichsam nur symbolisch mit, indem er ein Biscuit in das zierliche Gläschen tauchte, das ihm die junge Wirthin mit spanischem Wein füllte. Wenn sie ihn fragte, warum er ihr nie die Freude mache, wirklich bei ihr zu essen, schützte er seine altmodische Gewöhnung an die Mittagsstunde vor. Im Grunde sträubte sich sein Gefühl dagegen, hier im Feenschlößchen sich's wohl sein zu lassen, nachdem er bei dem dürftigen Mal in der »Tonne« nur den Zuschauer gemacht hätte. Er war ohnedies jetzt so oft und lange von Balder getrennt; er wollte wenigstens ihre trauliche Eßstunde, wo ihn die Scherze mit Reginchen auf kurze Zeit aus seiner brütenden Laune herausrissen, um jeden Preis festhalten. Kam es doch immer häufiger vor, daß er auch am Abend sich nicht zu Hause sehen ließ. Zwar verabschiedete ihn seine Freundin jedesmal kurz 226 bevor sie ins Theater fuhr, und lud ihn weder ein, sie zu begleiten, noch weniger war daran zu denken, sie hernach noch zu sprechen. Aber jede mit ihr verplauderte Stunde, in der er den Gelassenen, Gescheidten, ihren »weisen Freund« zu spielen wußte, wie sie ihn scherzend nannte, hinterließ eine Aufregung in seiner Seele, ein Fieber von Zweifeln, Sehnsucht, Unmuth und Seligkeit, das er erst lange auf einsamen Nachtirrgängen vertoben lassen mußte, ehe er sich wieder zu Menschen gesellen konnte.
Er wußte auch, daß Balder um diese Zeit selten allein war. Mohr kam fast allabendlich, Schach mit ihm zu spielen, zu plaudern, am offenen Fenster sitzend dem Klavierspiel Christianens zuzuhören. Er erklärte, diese Musik und die blonde Mähne Balder's seien die einzigen Hausmittel, die ihm Linderung verschafften, wenn er einmal einen besonders heftigen Anfall seiner chronischen Selbstverachtung habe. Manchmal brachte er auch etwas von seinen Versen mit oder eine Scene seines berühmten Lustspiels »Ich bin ich und setze mich selbst,« um das Urtheil des Jünglings darüber zu hören, konnte sich dann aber nie entschließen, es vorzulesen. Dann und wann fand sich auch Franzelius des Abends ein, ging aber bald wieder, wenn er mit Mohr zusammentraf. Dieser gab sich freilich, auf Balder's Bitte, die redlichste Mühe, seinen Spott zu zügeln und den hitzigen »Volkstribun«, der unter vier Augen so wehrlos war, zu schonen. Aber schon seine bloße Nähe verstimmte den reizbaren Gesellen, zumal es ihm vorkam, als ob seit Mohr's Rückkehr auch innerlich etwas zwischen ihn und Balder getreten sei. 227 Er liebte den Jüngling mehr als irgend einen Menschen und wußte, daß Keiner ihn besser verstand. Nun war er eifersüchtig auf jedes Lächeln, das Mohr's barocke Manier seinem Liebling ablockte, und fühlte sich in seiner Dumpfheit und Schwerfälligkeit doppelt im Nachtheil dem cynischen Spaßmacher gegenüber, der ihm doch als eine Drohne unter den Arbeitsbienen verächtlich war.
Balder, mit seinem feinfühligen Herzen, hätte es sich wohl noch sorgfältiger, als er ohnehin that, angelegen sein lassen, den gekränkten Freund zu beruhigen. Er selbst aber war sorgenvoll, und seine Gedanken, auch wenn die Freunde um ihn waren, folgten heimlich dem Bruder auf den unbekannten Wegen, von denen ihm nur sehr obenhin berichtet wurde. Nicht daß Edwin verhehlt hätte, wohin er ging, und daß er von Tag zu Tage mehr in den Zauber des seltsamen Verhältnisses verstrickt wurde. Aber seine ganze Schwäche dem Bruder zu beichten, brachte er doch nicht übers Herz. Er hätte sie dann sich selber eingestehen müssen, wogegen ein Nest von Stolz und Mannhaftigkeit in ihm sich noch immer wehrte.
Wenn er Nachts, statt nach langem, ziellosem Herumspuken endlich heimzugehen, seine Schritte wieder zu dem Hause in der Jägerstraße lenkte, um drüben in einen Schattenwinkel gedrückt zu warten, bis ihr Wagen sie aus dem Theater zurückbrachte, und darauf Stunde um Stunde auf dem Posten auszuharren, ob die Thür sich nicht wieder öffnen und einen Glücklicheren ein- oder auslassen möchte – bis dann das Licht hinter ihrer 228 Gardine erlosch und rings um ihn her in der herbstlichen Nachtkühle alles Leben zur Ruhe kam, nur nicht das Fieber in seinem Blut – wie elend, wie unwürdig erschien er sich selbst! Wie verwünschte er die Stunde, die ihn zuerst in ihre Nähe geführt, und faßte die tapfersten Entschlüsse, ein Ende zu machen und diese unheilvolle Schwelle nie wieder zu überschreiten!
Der andere Tag fand ihn doch wieder an dem kleinen Tisch, wo er die Vögel beneidete, die ihr Futter pickten, ohne etwas dabei zu denken und zu leiden.
Sie selbst schien keine Ahnung zu haben, wie schlecht es um die Weisheit ihres »weisen Freundes« stand. Sie betrug sich am zehnten Tage nicht anders gegen ihn, als am ersten, mit so unbefangener Herzlichkeit, so sorglosem Zutrauen, als wäre es ein unmöglicher Gedanke, daß er ihr jemals ferner rücken, aber auch jemals näher treten könnte. Wenn er kam und ging, gab sie ihm wie einem alten Freunde die Hand; sie schalt ihn, wenn er sie warten ließ; sie examinirte ihn, nachdem sie ihm einmal sein Nervenleiden abgefragt hatte, aufs Theilnehmendste über sein Befinden und drang in ihn, allerlei Mittel und Curen zu brauchen, von denen sie gelesen oder gehört hatte. Mehr als einmal gestand sie ihm, daß sie nicht begreife, wie sie vor seiner Bekanntschaft mit dem langen Tage fertig geworden sei, daß sie sich nur vor dem Augenblick fürchte, wo er es müde werden würde, mit einem so thörichten und unwissenden Mädchen seine Zeit zu verderben. Sie sagte das freilich in einem Ton, der verrieth, daß es ihr mit dieser Furcht nicht gerade 229 Ernst war. Aber wenn sie sich auch ihrer Anziehungskraft vollkommen bewußt sein mußte, – daß eine tiefere Leidenschaft ihn an sie fesseln möchte, schien ihr nicht im Traum einzufallen. Je länger er sie beobachtete, desto mehr überzeugte er sich, daß es ihre volle, ehrliche Meinung gewesen war, was sie ihm über die Liebe gesagt hatte. Diese erschien ihr in der That wie eine Art Wahnsinn, von dem schwache Seelen dann und wann befallen würden. Wie ein vernünftiger Mensch, der sie jeden dritten Tag besuchte, ihr ernsthafte Bücher brachte und ganz gescheidte Dinge sagte, davon ergriffen werden könne, war ihr offenbar unbegreiflich.
Er durchschaute das Alles. Er erkannte die Hoffnungslosigkeit seiner tiefverborgenen Wünsche, die Unwahrscheinlichkeit, in noch so langer Zeit das Eis aufzuthauen, das sie wie ein schützender Wall umgab. Er hatte sie einmal gefragt, was es denn an ihm gewesen, das ihr, die sonst so unnahbar sich gegen Jeden verschließe, plötzlich ein so großes Vertrauen zu ihm eingeflößt habe. Sie hatte zuerst gelacht und mit Kopfschütteln erklärt, das sei ein Geheimniß, das sie für sich behalten wolle. Als er gegen seine Gewohnheit in sie drang, gestand sie: weder sein ehrliches Gesicht, noch irgend etwas, was er gesprochen, sei ihr Bürgschaft dafür gewesen, daß er ihr Vertrauen nicht mißbrauchen würde, sondern – und hier sah sie ihm mit einem reizend drolligen, halb furchtsamen, halb überlegenen Lächeln ins Gesicht, ob er es auch nicht übel nähme, – weil er keine Handschuhe getragen und auch bei dem zweiten Besuch nicht 230 sorgfältiger Toilette gemacht habe, als bei der Rückgabe des Buchzeichens.
Er lachte. Aber er mußte sich dazu zwingen, die Sache scherzhaft zu behandeln, die ihm völlig außer Spaß war.
Deutlich erkannte er, daß sie ihn eigentlich nur darum vorgezogen hatte, weil er ihr als ein Wesen ganz anderer Art ein für alle Mal ungefährlich erschienen. In der Abgeschiedenheit ihres Lebens war ihr ein Besucher, wie er, der ihr Unterhaltung brachte, ohne Ansprüche zu machen, sehr willkommen, und daß er ihr dabei so fremd blieb, wie sie ihm, erhöhte den Reiz dieses Umgangs. Uebrigens war ein Mensch, der sie ohne Handschuhe immer in demselben grauen Sommerrock besuchte, vor ihr selbst und vor der Welt über jeden Verdacht eines intimeren Verhältnisses erhaben.
Es gab Augenblicke, wo er es ihrer Ehrlichkeit Dank wußte, daß sie ihn über die unausfüllbare Kluft zwischen ihren und seinen Lebenswünschen und Bedürfnissen nicht im Zweifel ließ, wo er plötzlich, wie vor einem entsetzlichen Unglück, vor dem bloßen Gedanken erschrak, sie könnte jemals seine Leidenschaft erwiedern. Von allem Geheimniß abgesehen, das sie umgab, – wie hätte er je hoffen können, sein Loos und das seines Balder, ihre fröhlich ertragene Armuth, die Pflichten gegen seinen Beruf mit einem Leben in Einklang zu bringen, wie sie es führte, wie es ihr doch das allein zusagende sein mußte, da sie keinen Wunsch äußerte, es zu ändern? Er brauchte nur in Gedanken an Stelle des Reginchens, 231 das ihnen ihr Essen brachte, die Gestalt seiner Zauberin in die »Tonne« zu versetzen, die gestreifte Weste mit einer silbernen Schüssel hinter ihr, um den Abgrund der Unmöglichkeit zu ermessen, der zwischen ihnen lag. – –
So waren einige Wochen vergangen, ohne daß in ihrem Verkehr eine Aenderung, ein Wechsel zum Guten oder Schlimmen eingetreten wäre. Er fand sie freilich nicht immer gleicher Laune; manchmal glaubte er sogar zu bemerken, daß sie geweint habe, oder sie begrüßte ihn mit einem so verwunderten Aufblicken, als ob sie Mühe hätte, ihre Gedanken aus weiter Ferne zu ihm und dem, was er brachte, zurückzulenken. Dann genügten wenige Worte von ihm, um ihre Stirn aufzuhellen und sie wieder zu dem guten, liebenswürdig unbefangenen Kinde zu machen, das sie bei all ihrer Verwöhnung und der seltsamen Unabhängigkeit ihrer Existenz im Grunde noch immer war. Sie forderte es förmlich heraus, daß er sie dann und wann auf einer Unart oder Unbedachtheit ertappen mußte und mit seiner sarkastischen Ruhe, halb von oben herab, sie dann wie ein Wesen behandelte, das nicht ganz zurechnungsfähig sei. Er aber vermied es sorgfältig, sie seine Ueberlegenheit anders als mit ironischer Heiterkeit fühlen zu lassen. Wenn sie, wie sie es liebte, sich in seltsamen Gedankensprüngen erging, über Welt und Menschen, Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit phantasirte, konnte er still lächelnd Viertelstunden lang dabei sitzen, mit dem silbernen Messer die Schale eines Apfels in kleinen Mustern tätowiren und ihr zuhören. 232 Es verdroß sie dann immer, daß er es nicht der Mühe werth zu halten schien, ihr zu widersprechen. Sie erklärte ihm, selbst wenn er sie geradezu auslachte und verhöhnte, würde es nicht so unartig sein, wie dies stumme Vorsichhinlächeln, während sie die ernsthaftesten Sachen sage. Wenn der Wind wehe oder eine Quelle rausche, könne er kein nichtssagenderes Gesicht dazu machen. – Ob es seine Schuld sei, fragte er dann lachend, daß in ihrer Nähe ihm wirklich oft so wunderlich werde, wie in der Natur, deren mannichfache Stimmen ihn mit ähnlicher elementarer Gewalt überrieselten, ohne daß er sich aufgefordert fühle, etwas zu erwiedern? Er würde sich als ein lächerlicher Pedant erscheinen, wenn er den Vögeln im Walde Logik und dem Wasserfall Vernunft predigen wolle.
Und doch, wenn er dann wiederkam, geschah es fast immer, daß das Gespräch auf denselben Punkt zurückkehrte, bei dem es das letzte Mal abgebrochen war. Dann tauschten sie die Rollen, und die Reihe, sich auszusprechen und über die nachdenklichsten Fragen eine gute Weile ungestört zu phantasiren, kam an ihn. Es war das seltsamste Zwiegespräch in Monologen, das man sich denken kann, da immer erst zwei mal vierundzwanzig Stunden zwischen Frage und Antwort zu verstreichen pflegten.
War der Grund davon seine Scheu, den Gegensatz ihrer Naturen sich und ihr allzu fühlbar zu machen, die Furcht, daß jeder Streit sie sogleich unheilbar entzweien müsse, während er es doch fast für seine Pflicht hielt, 233 wenn die Sache ihr wieder gleichgültiger geworden, nicht mit seinem Widerspruch zurückzuhalten und den Muth seiner Meinung auch ihr gegenüber nicht zu verleugnen? Oder ahnte er, daß er alle Herrschaft über sich selbst verlieren würde, wenn er mehr und mehr Herrschaft über sie gewänne und das Fremdartige in ihrem Wesen nach und nach auszugleichen und sich anzunähern vermöchte? Und wozu überhaupt dieser gewagte Versuch? Was war im besten Falle davon zu hoffen? Eine Gazelle, eine Antilope zu zähmen – was kann Menschen daran liegen in einem Himmelsstrich und auf einem Boden, die für tropische Hausthiere nicht geschaffen sind! – –
Es war eines Nachmittags im September, ein erster Herbstregen strich fröstelnd und grau durch die menschenleere Straße, die Fenster waren zum ersten Mal dicht geschlossen und im Kamin, jedoch mehr um sich an der lustigen Flamme zu freuen, ein kleines Feuer angezündet. Zum ersten Mal auch klagte das schöne Wesen, auch darin Märchenblut, daß sie behauptete, nie krank gewesen zu sein, über einen leichten Kopfschmerz. Sie bestellte den Wagen ab, der sie ins Theater bringen sollte, und streckte sich in dem kleinen rothen Salon auf das Sopha, die Füße dem Kamin zugewendet, daß der rothe, flackernde Schein ihr blasses Gesicht mit einem durchsichtig unstäten Hauch überflog.
Lesen Sie mir etwas vor, Doctor, bat sie. Wenn ich darüber einschlafe, um so besser. Aber nicht Hermann und Dorothea; ich will Sie nicht kränken, da wir uns schon einmal darüber gezankt haben und ich doch nicht 234 dafür kann, daß diese wunderlichen Verse mich einwiegen, wie wenn ich in einer Schaukel säße, so gern ich auch bei der schönen Geschichte munter bliebe. Wissen Sie, daß ich diese Dorothea für eine sehr beneidenswerthe Person halte, ja eigentlich nie ein Romanglück schöner gefunden habe, als ihres? Vertrieben, arm, verwais't, heimathlos – und kommt plötzlich zu Haus und Hof und wird geliebt und auf Händen getragen, und das Alles geht so natürlich zu, daß es jeden Tag sich wieder ereignen könnte! Sie muß sehr reizend gewesen sein, setzte sie nach einer Weile hinzu. Ich stelle sie mir groß und schlank vor, mit sehr schwarzen Haaren und grauen Augen, die einen dunklen Rand haben, ein schwarzes Band um den schönen Hals und Ohrringe mit einem blutrothen Stein, der eigentlich ein Glastropfen ist –
Apropos, unterbrach er sie, was ich Sie schon lange fragen wollte: warum tragen Sie keine Ohrringe und überhaupt niemals Schmuck?
Weil ich zu arm bin, mir recht große Diamanten und echte Perlen anzuschaffen, und aus anderem Schmuck mir nichts mache.
Zu arm?
Jawohl, viel zu arm, viel ärmer, als Sie vielleicht glauben, jedenfalls ärmer, als Dorothea, die den vielgerühmten besten Schatz, die Genügsamkeit, besaß. Ich dagegen – glauben Sie wohl, daß ich es für ein Glück gehalten hätte, Frau Hermann zu werden?
Wenn Sie sich in ihn verliebt hätten – 235
Sie sah ihn ruhig an, als wollte sie prüfen, ob es sein Ernst sei.
Sie sind ein wunderlicher Mensch, sagte sie. Weisheit scheint vor Thorheit nicht zu schützen, und was nicht in Ihr System paßt, von dessen Dasein nehmen Sie nun einmal keine Notiz. Wie oft soll ich Ihnen noch auseinandersetzen, daß ich von dem, was Sie Verlieben nennen, keinen Begriff habe? Und sehen Sie, selbst Ihre Dorothea, obwohl sie von einem Dichter erfunden und beseelt ist und bei den Dichtern die Verliebtheit eine so große Rolle spielt, – ich kann auch in ihr keine Spur dieses seltsamen Zustandes erkennen. Sie findet einen jungen Menschen, der sie von der Straße weg in sein Haus führen und zu seiner Frau machen will. Da er gut und brav scheint und so recht einer von Denen zu werden verspricht, die man als Muster guter Ehemänner hinstellt – warum soll sie Nein sagen? Zumal der Pfarrer und der Apotheker und die ganze Kleinstädterei nichts Abschreckendes für sie haben. Und das eben beneide ich ihr. Ich dagegen – aber werfen Sie noch ein paar Stückchen Holz in die Flamme; sie ist am Auslöschen.
Er that, wie sie gesagt, und kniete eben vor dem Kamin, um mit einem zierlichen Blasebalg die Glut neu anzufachen, als ein Lärm und Wortwechsel draußen im Flur sich erhob, der ihn aufhorchen machte. Man hörte deutlich die weinerliche Stimme des kleinen Jean, der lebhaft gegen einen kräftigen Baß sich zur Wehre setzte. Jetzt wurde die Thür des Vorzimmers aufgerissen, die 236 Streitenden näherten sich dem kleinen Salon, ein rohes Auflachen, mit welchem der Fremde den Knaben, der ihm den Eintritt verbieten wollte, bei Seite schob, dann ein Klopfen an der Salonthür, worauf nicht erst die Antwort abgewartet wurde, sondern ein langer Bursch in reicher Jägerlivree mit der zuversichtlichsten Miene, wie wenn er hier zu Hause wäre, hereintrat.
Das Fräulein hatte sich hastig aufgerichtet und starrte den Eindringling mit sprachlosem Schrecken an. Auch Edwin war vom Knieen aufgestanden, den Blasebalg noch in der Hand, und war eben im Begriff, den Jäger zur Rede zu stellen, als dieser mit einer eleganten Verbeugung gegen Toinette einen Brief aus der Tasche zog und ihn auf das Tischchen vor dem Sopha legte.
Bitt' um Excüse, gnädigstes Fräulein, wenn ich gestört haben sollte, sagte er, Edwin mit einem impertinenten Blick streifend, aber der gemessene Befehl des Herrn Grafen Erlaucht, dies Billet zu eignen Händen zu übergeben –
Hat mein Diener Ihnen nicht gesagt, unterbrach ihn Toinette –
Daß das gnädige Fräulein nicht zu Hause sind, ja wohl, auch keine Billette annehmen, auch den Herrn Grafen nicht zu kennen belieben, wie sie ja auch durch Nichtbeantworten der Briefe, die Erlaucht durch die Post geschickt haben –
Sie verlassen das Zimmer auf der Stelle, brach es mühsam von den Lippen des todtblassen Mädchens, und wenn Sie sich je herausnehmen, wiederzukommen und 237 den Zutritt auf diese Weise zu erzwingen – mein Hausrecht werde ich doch wohl noch zu wahren wissen.
Das gnädige Fräulein wollen erlauben, versetzte der dreiste Bursch mit einem spöttischen Grinsen, Hausrecht hat nur, wem das Haus gehört. Wenn es meinem gnädigen Herrn Grafen recht ist, daß sein Diener aus einem Hause hinausgeworfen wird, oder ihm die Thüre verschlossen bleibt, wo Erlaucht doch so zu sagen der Miethsherr sind –
Unverschämter! braus'te Edwin auf. Haben Sie nicht gehört, was das Fräulein Ihnen befohlen hat? Ich habe nicht die Ehre, Ihren Herrn zu kennen. Aber wenn er ein Cavalier ist, kann es nicht seine Absicht sein, durch einen flegelhaften Lakaien eine Dame beleidigen zu lassen!
Der Mensch maß den unerwarteten Mitsprecher von oben bis unten mit kaltblütiger Insolenz.
Und ich, Herr, habe nicht die Ehre, Sie zu kennen, sagte er. Was aber mein Benehmen betrifft, so haben nur der Herr Graf das Recht, mich einen Flegel zu tituliren. Da ist der Brief, und nun kann ich gehen, weil ich meinen Auftrag bestellt habe. Das Fräulein zu beleidigen, ist mir nicht eingefallen, wäre ganz gegen meine Ordre. Aber von der ersten besten fremden Mannsperson –
Edwin erhob unwillkürlich das kleine Instrument, das er in der Hand hatte. Im nächsten Augenblick besann er sich. Der Blasebalg entfiel ihm, er schritt dicht an dem Jäger vorbei, öffnete die Salonthür und sagte 238 mit lauter Stimme, während er einen festen Blick auf den plötzlich Eingeschüchterten warf: Hinaus!
Der Jäger zauderte noch einen Augenblick. Dann, sich abermals gegen Toinette verneigend, trat er langsam den Rückzug an.
Ich werde Erlaucht melden, sagte er unter der Thür, daß das gnädige Fräulein keine Zeit hätten, auf Briefe des Herrn Grafen zu antworten, weil sie Herrenbesuch haben. Empfehle mich zu Gnaden!
Edwin warf die Thür hinter ihm zu. Sie hörten den Burschen draußen laut auflachen und im Fortgehen mit Jean scherzen, als ob nichts vorgefallen wäre.
In dem kleinen Salon war es todtenstill. Das schöne Mädchen, die Augen fest auf das verhängnißvolle Billet geheftet, das noch immer unentsiegelt auf dem Tische lag, die blassen Hände im Schooß gefaltet, saß regungslos auf dem Sopha. Edwin stand an der Thür, die Hand noch in der drohenden Geberde erhoben, mit der er den Frechen hinausgewiesen. Erst als er auch die äußere Thür ins Schloß fallen hörte, regte er sich plötzlich, wie wenn er etwas abzuschütteln hätte, und trat ruhig auf die Schweigende zu.
Wollen Sie die Güte haben, mir diese Scene zu erklären, mein Fräulein? fragte er mit einer Stimme, aus der jede Aufregung verschwunden schien. – Dann, da sie nicht gleich antwortete:
Darf ich hoffen, daß Sie mich nachträglich mit diesem Grafen bekannt machen, der, wie es scheint, doch irgend ein Anrecht darauf hat, daß Sie seine Briefe lesen? 239
Sie schwieg noch immer. Endlich erhob sie schüchtern ihre Augen zu ihm und sah ihn flehend an. Der Blick drang ihm an die Seele.
Wenn ich Sie nun bitte, mich nicht weiterzufragen? mir wie bisher zu vertrauen?
So werde ich Nichts dagegen einwenden, erwiederte er tonlos, aber zugleich Abschied von Ihnen nehmen – um nicht wiederzukommen.
Und warum?
Weil ich in einem Hause nicht aus- und eingehen mag, ohne zu wissen, wer das Hausrecht darin ausübt. Ich wünsche mich nicht der Möglichkeit auszusetzen, daß eines Tages, statt des Dieners, der Herr hier erscheint und mir erklärt, – daß es ihm nicht lieb sei, wenn Sie – Herrenbesuche empfangen.
Sie schien einen Augenblick zu überlegen.
Sie haben Recht, mein Freund, sagte sie jetzt. Ich bin es Ihnen schuldig, dies Alles aufzuklären, nein, mir selber bin ich es schuldig. Was müssen Sie von mir denken? Aber nicht heute, nicht hier will ich Ihnen diese ganze lange und trübselige Geschichte erzählen. Ihre gewöhnliche Stunde ist ohnehin längst überschritten; es wird bald Nacht werden. Kommen Sie morgen Vormittag gegen elf Uhr an den Goldfischteich im Thiergarten, da wo die Statue steht. Es ist einsam dort um diese Zeit; ich habe mich manchmal mit einem Buch da in den Schatten gesetzt, und nicht drei Spaziergänger sind vorbeigekommen. Da will ich Ihnen Alles sagen. Wenn der Reiz, den unser Versteckensspielen mit einander 240 gehabt hat, damit aufhört, sobald Sie die sehr alltägliche und prosaische Geschichte Ihrer Freundin kennen – Sie haben es so gewollt. Damit Sie aber gleich heute ein Pfand meiner Aufrichtigkeit haben – nehmen Sie dies unglückselige Billet mit sich und heben es mir bis morgen auf. Wir lesen es dann zusammen!
Sie stand auf und reichte ihm die Hand, die er, in düsteres Sinnen versunken, ergriff und festhielt. Ich bedarf kein Pfand, sagte er. Vielleicht wäre es überhaupt das Beste, ich –
– »ich nähme jetzt Abschied für immer«, wollte er sagen. Aber er hatte nicht den Muth dazu. Er sah ihr in die Augen, die wieder so unbefangen, ja heiter glänzten wie je. Mechanisch nahm er das Briefchen, das sie ihm hinhielt. Dann beugte er sich auf ihre Hand herab und küßte sie – lange und leidenschaftlich – das erste Mal, daß er ihre kühlen glatten Finger an seinen Lippen fühlte.
Auf morgen! sagte er. Halten Sie Wort!
Und wenn der Himmel über Nacht einfallen sollte! lächelte sie. Schlafen Sie indessen ruhig. Was ich Ihnen zu sagen habe, ist nur so lange wissenswürdig, als man es nicht weiß. O mein Freund, ich fürchte, Sie werden es noch bereuen, daß Sie durch Ihr Fragen den Zauber zerstört haben, wenn von morgen an das Märchen aus ist und Cendrillon wieder in der Asche sitzt! 241