Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Viertes Kapitel.

Es war längst Tag geworden in der großen Stadt, und das kleine Haus in der Dorotheenstraße setzte seine Ehre darein, in diesem Punkte hinter keinem seiner vornehmeren Nachbarn zurückzubleiben.

Auch die Bewohner der »Tonne« waren sonst keine Langschläfer, und zumal Balder überhörte nie die allgemeine Weckuhr des Hauses, den alten Brunnenschwengel, der ein gutgemeintes aber eintöniges Morgenlied pfiff, wenn das Reginchen, im Sommer um Sechs, im Winter um Sieben ihn in Bewegung setzte, um dem Vater sein Glas frisches Wasser zum Frühstück zu bringen. Zu gleicher Zeit wurden die Fenster in der Werkstatt unten aufgemacht, und man hörte das Brummen des Obergesellen, der die halbe Stunde, bis der Meister erschien, benutzte, um den Lehrjungen die Wichtigkeit seiner Person fühlbar zu machen. Sobald dann aber der Hausherr selbst, in einer bequemen Jacke und Pantoffeln, behaglich über den Hof daher kam, wurde unten Alles mäuschenstill. Doch war dafür gesorgt, daß die Brüder, die es noch immer nicht zu einer Uhr gebracht hatten, über den 44 Stundengang des Tages nicht in Zweifel sein konnten. Genau eine Stunde nach jener ersten Brunnenmusik erschien das Reginchen in der Tonne mit den ausgeklopften Kleidern und dem Frühstück. Punkt neun Uhr wurde in der Beletage drüben ein Fenster geöffnet, ein vergilbtes altes Gesicht in einer Nachthaube, die ehemals gefeierte Schauspielerin, streckte ein welkes Näschen hinaus, um zu prüfen, wie der Wind gehe, da ihr Mann, der ehemals berühmte Tenor, obwohl er kein hohes C mehr zu schonen hatte, der Gewohnheit nicht untreu werden konnte, bei Ostwind das Haus zu hüten. Wieder genau eine Stunde später trat das kleine Männchen selbst an ein anderes Hoffenster, um, von der Sonne unbehelligt, mit großer Umständlichkeit sich zu rasiren und vor dem kleinen Bartspiegel die nöthigen Schönheitsmittel an sich zu wenden, die eine alte Bühnengröße für unumgänglich, gleichsam für ein unveräußerliches Hoheitsrecht ihres Berufsadels hält. Schlag elf Uhr hörte man unten, wo Fräulein Christiane wohnte, deren flüchtige Bekanntschaft wir im ersten Kapitel gemacht haben, das Klavier öffnen und mit geübter Hand einige Accorde anschlagen, zur Einleitung einer Singstunde, die aus Rücksicht für Edwin auf diese Zeit verlegt worden war, da er dann in seine Vorlesung zu gehen pflegte. Es waren verschiedene Schüler, die hier ihre Studien machten; in jüngster Zeit kam zweimal die Woche eine muntere Soubrette von einem der Vorstadttheater, die sich ihre kleinen Partieen in neuen Operetten einüben ließ und mit einer Menge Unarten, musikalischen und anderen, ihre 45 ernsthafte Lehrerin zur Verzweiflung brachte. Da man bei offenen Fenstern ein lautes Gespräch Wort für Wort heraufschallen hörte, so war Balder oft Zeuge der wundersamsten Scenen, die ihn in eine ganz unbekannte Welt verstohlene Blicke thun ließen. – Dazwischen klingelte plötzlich die Eßglocke, Punkt zwölf Uhr, vom Lehrjungen gewöhnlich mit einem lustig gepfiffenen Gassenhauer beantwortet, da er auf andere Art dem dankbaren Gefühl der Erlösung nicht Luft machen durfte.

Auch heute hatte die geregelte Mechanik der Hausuhr ihre Schuldigkeit gethan. Aber die Bewohner des oberen Stocks im Hinterhause schienen taub dafür zu sein. Das Morgenlied des Pumpbrunnens war ungehört verhallt. Auf ein leises Klopfen eine Stunde später wurde nicht »herein« gerufen, und nach einigem Zögern und Kopfschütteln huschte der schlanke blonde Hausgeist, nachdem er die Kleider über das Treppengeländer gehängt, mit dem Frühstück wieder hinunter. Miezica, die weiße Katze, die sich gleichzeitig am Fenster meldete, um von Balder gefüttert zu werden, blieb auf dem breiten Sims, der von Dachrinne zu Dachrinne lief, mit verwunderten Augen hocken und starrte in das Zimmer hinein, wo noch nichts Lebendiges sich rührte. Erst als der gelbliche Wipfel der Akazie von der steigenden Sonne getroffen wurde – der alte Tenor fing eben an, sich mit Puder einzustäuben, es war also zehn Minuten über zehn – schlug Balder die Augen auf und erstaunte über die Helligkeit um ihn her. Er sah nach Edwin hinüber; der machte 46 noch keine Miene, als ob ihm der Sonnenschein zu hell werden könnte, um seine Träume darin fortzusetzen.

Leise stand der Jüngling auf und hinkte zu der Drechselbank im Winkel, wo er geräuschlos allerlei Werkzeuge, Hölzer und Fläschchen in Ordnung brachte. Er fing aber nicht an zu arbeiten, sondern nahm ein Buch und vertiefte sich eine Weile darein. Plötzlich schienen die Gedanken wieder aufzutauchen, die ihn Nachts so lange wach gehalten. Er legte das Buch beiseite, öffnete ein Fenster und lehnte sich in die schon sehr durchglühte Luft hinaus.

Nicht lange, so riß ihn aus diesem Sinnen ein bescheidenes Klopfen an der Thür. Er schlich auf den Zehen an dem Schlafenden vorbei und glitt durch die vorsichtig geöffnete Thür in den dämmrigen Flur hinaus.

Draußen stand das Reginchen, das runde Gesicht, auf dem die Lebenslust immer bereit war, aus Augen- und Mundwinkeln zu sprühen, mit einer Art neugieriger Besorgniß ihm zugewendet.

Guten Morgen, Reginchen, flüsterte er. Ich kann Sie nicht hineinlassen, er schläft noch immer. Er ist gestern lange nach Mitternacht erst zur Ruhe gekommen; ich bin froh, daß die Sonne ihn nicht weckt. Sie waren wohl schon einmal umsonst an der Thür – auch ich – gegen meine Gewohnheit – wir haben Nachts so lange geplaudert – es thut mir leid, daß wir Ihnen so viel Mühe machen, Reginchen! Geben Sie mir nur das Frühstücksbrett, ich will es hineintragen.

Von Mühe machen ist nicht die Rede, erwiederte das 47 Mädchen, das im Gespräch mit den Brüdern sich immer anstrengte, ihr mütterliches Berlinisch möglichst zu verfeinern, ohne doch dem verhängnißvollen Geheimniß der Dative und Accusative so recht auf die Spur zu kommen. Aber Sie werden ganz ausgehungert sein. Soll ich Ihnen nicht ein bischen Kaffee besorgen? Die kalte Milch so auf den nüchternen Magen –

Ich danke, Reginchen. Ich bin daran gewöhnt. Sie sind immer so gut und freundlich. Warum haben Sie sich denn heute schon so früh geputzt, Reginchen?

Sie erröthete, während sie das schwarzseidene Schürzchen und die Falten eines hellen Mousseline-Fähnchens, das frisch gewaschen und gebügelt war, zurückstrich.

Es ist ja mein Geburtstag, Herr Walter, sagte sie (in den Namen »Balder« hatte sie sich nicht finden können). Die Schürze hat mir meine Mutter geschenkt und die Granatbroche der alte Herr Hofsänger in der Beletage. Nach Tische besuche ich die Tante in Schöneberg. Ich wollte darum bitten, daß ich heut recht früh das Essen bringen darf. Gleich um Eins kommt mein Bruder und holt mich ab.

Ihr Geburtstag, Reginchen! Und das habe ich vergessen können! Sind Sie mir böse? Aber die Krankheit meines Bruders hat mir die letzte Zeit so viel zu denken gegeben. Sie wissen ja doch, Reginchen, daß ich Ihnen alles Gute und Glückliche wünsche, wenn ich auch mit meiner Gratulation nachhinke. Das Hinken sind Sie ohnehin an mir gewohnt.

Wie können Sie nur so reden, Herr Walter! sagte 48 sie, indem sie ihm die feste kleine Hand ruhig überließ, die er herzlich ergriffen hatte. Ob so ein dummes Ding wie ich, ohne Bildung und Wissenschaften, siebzehn oder achtzehn Jahr alt ist, das ist ganz egal. Der Vater sagt, Frauenzimmer blieben Zeitlebens große Kinder; ob sie älter würden, oder nicht, darauf käme gar nicht viel an.

Das ist nur gespaßt, Reginchen. Was finge der Vater an, wenn er Sie nicht hätte, von uns Anderen im Hause ganz zu schweigen? Also wirklich achtzehn Jahr werden Sie heut? Ich wollte, ich wüßte etwas, das Ihnen Freude machte; ich möchte es Ihnen gern zum Geburtstag schenken.

Ich will nichts geschenkt, wandte sie sich kurz ab und setzte den Fuß auf die oberste Treppenstufe. Ich habe schon so viel Sachen von Ihnen, von Weihnachten und sonst, und die Mutter zankt immer und meint, ich wäre nun schon zu groß, um mir von fremden Herren Präsente machen zu lassen. Horch! da ruft sie nach mir, ich muß fort, Herr Walter!

Sie flog wie der Blitz die steile Treppe hinunter, und Balder, der oben zurückblieb, hörte sie mit einer hellen Kinderstimme ein Liedchen singen, während sie mit ihren Pantöffelchen über das Pflaster des Hofes klapperte.

Er seufzte unwillkürlich, als er das Brett von der niedrigen Bodentreppe nahm, auf die sie es einstweilen aus der Hand gestellt hatte. Dann hinkte er leise in das Zimmer zurück. 49

Er trat vor den schlafenden Bruder und betrachtete ihn mit liebevoller Sorge. Edwin schien ruhig zu schlummern. Seine hohe, schöngewölbte Stirn war faltenlos, der Mund lächelte, die feinen Flügel der Nase zitterten leise, wie sie zu thun pflegten, wenn er etwas Witziges sagte. Das Hemd auf der Brust war offen, ein kleines goldenes Medaillon an einer seidenen Schnur wurde sichtbar, das eine Locke von dem blonden Haar der Mutter einschloß, wie auch Balder eines auf der Brust trug.

Eben wollte er sich wieder in seinen Fensterwinkel zurückziehen, als ein rascher Schritt die Treppe heraufstürmte, und ehe Balder hinaus konnte, um den Störer zurückzuhalten, verkündete ein lebhaftes Klopfen an der Thür einen Besuch, der sich hier zu jeder Zeit willkommen wußte.

Herein! sagte Edwin, noch halb im Schlaf, indem er sich langsam aufrichtete. Das wird Marquard sein. – Himmel, es ist ja heller Tag!

So scheint es allerdings, lachte der Eintretende. Muß erst so ein verächtlicher Empiriker, wie unsereins, kommen, um dem Herrn Philosophen ein Licht darüber aufzustecken, daß die Sonne schon lange am Himmel steht? Nun, wie geht's, Patient? Hat das Recept gewirkt? Ich glaube fast, die Dosis war zu stark.

Er trat rasch, Balder freundlich zunickend, an das Bett und fühlte Edwin an Stirn und Schläfe, eh er seinen Puls ergriff. Die scharfen hellgrauen Augen sahen dabei durch eine goldne Brille auf eine schwere goldene 50 Secundenuhr, und das jugendlich runde und regelmäßige, aber etwas blutlose Gesicht, das mit dem Ausdruck der heitersten Selbstgefälligkeit in die Thür getreten war, nahm eine ruhig beobachtende Miene an, während die elegante mittelgroße Gestalt sich leicht an den Sessel neben dem Bette lehnte.

Theurer Medicinalrath, sagte Edwin, du hast dein Meisterstück an mir gemacht. Mutter Natur, die sich vor dir fürchten mag, da du ihr respectlos in den Eingeweiden wühlst und all ihre kleinen Menschlichkeiten unters Mikroskop bringst, scheint sich auf deine Ordre auch meiner wieder erbarmt und zunächst für Schlaf gesorgt zu haben. Das Uebrige wird sich nun auch finden. Wenigstens verspür' ich schon einen wahrhaft wölfischen Appetit. Wenn du erlaubst, Doctor, so werde ich mich nur nothdürftig bekleiden und sogleich ans Frühstück gehen, schon um Balder zu erlösen, der wieder, wie ich sehe, auf mich gewartet hat.

Probatum est, lachte der Doctor, seine Uhr einsteckend. Ich hab' es wohl gewußt, daß es für Gehirne, wie das deine, keine bessere Narkose giebt, als die Mixtur von Unsinn, Lärm und Tricots, die wir Lebemänner schlürfen, um uns aufzuregen. Ich finde heut sämmtliche Erscheinungen weit beruhigender, als gestern, und denke in einigen Tagen die Dosis zu wiederholen. Auch der Hunger ist ein gutes Symptom. Aber ich sehe noch immer das Frühstück nicht.

Es steht dort auf dem Tische, sagte Balder ruhig.

Der Doctor trat an den kleinen, mit einer grünen 51 Decke behangenen Tisch in der Mitte des Zimmers und sah mit einem unbeschreiblichen Blick des Mitleids und Entsetzens in den weißen Topf, der zwischen zwei Tassen von Steingut stand, während in einem Blechkorb daneben zwei kleine Semmeln lagen.

Um Vergebung, sagte er, meine Kenntnisse reichen nicht so weit, um nach dem bloßen Augenschein zu bestimmen, wie die Kraftbrühe heißt, die euch hier als erste Mahlzeit des Tages erwartet.

Es ist reine, unverfälschte Milch, in die wir die Blume des Weizens eintauchen, sagte Edwin, der sich inzwischen in die Kleider geworfen hatte und jetzt an den Tisch trat und beide Tassen voll schenkte. Es wird dir bekannt sein, Bester, daß in der Milch alle Nahrungsstoffe enthalten sind, die –

Die ein Wickelkind braucht, bis es Zähne bekommt und für den Beruf der Menschheit, in der niederen Thierwelt aufzuräumen, hinlänglich vorbereitet ist. Heilige Vernunft, wohin soll die Welt kommen, wenn selbst deine zünftigsten Verehrer, die Philosophen, sich schamlos zu den widersinnigsten Sitten und Gebräuchen bekennen! Erschrickst du denn nicht vor dem ungeheuren Widerspruch, mein Junge, daß du mitten in unserer aufreibenden und entnervenden Civilisation, die dir Blut und Mark aussaugt, mit der Nahrung stumpfsinniger Hirtenvölker ausreichen willst? Obenein in Berlin, wo bekanntlich alle Kühe von der Blässe der Hegel'schen Philosophie angekränkelt sind, und das, was sie an wässeriger Naturkraft von sich geben, an jeder Pumpe noch verdünnt wird. Nein, 52 Theurer, entweder ich gebe dich als unheilbar auf, oder du entschließest dich auf der Stelle zu einem gründlichen Systemwechsel, wäschest dir mit dieser unschuldigen Flüssigkeit das Gesicht, – ein vortreffliches Mittel gegen zu frühe Runzeln – und feuchtest deinen inwendigen Menschen um diese Zeit mit einem Glas Portwein an, wozu du ein halb Pfund gebratenes Fleisch, je nach Umständen, zu dir nimmst. Ich wette, daß dann in Kurzem eine Umstimmung deines Organismus erfolgen wird, die es eher bedenklich erscheinen läßt, wenn du das Berliner Ballet zu fleißig besuchst. Was ist dabei zu lachen? Ich rede ganz im Ernst.

Deßhalb lache ich eben, sagte Edwin, indem er, am Tische stehend, behaglich die Semmel in die wasserblaue Milch brockte. Du vergissest, Bester, daß ich nur Recepte brauchen kann, die man in der Apotheke »zu den glücklichen Bettlern« machen läßt. Oder hast du sie schon in der Tasche?

Was?

Meine außerordentliche Professur, oder Balder's Diplom als Hofdrechsler. Bei deiner Praxis in den maßgebenden Kreisen kann es ja nicht fehlen, wenn es dir nur Ernst damit ist, uns Carrière machen zu lassen. Früher aber bedaure ich sehr, dir zu einem Systemwechsel keine Aussicht geben zu können.

Marquard sah sich im Zimmer um, schüttelte ärgerlich den Kopf und sagte dann: Es ist aber ein selbstmörderischer Frevel, eine himmelschreiende Thorheit, wie ihr lebt! Auch mit Balder kann es nicht besser werden, 53 wenn ihr hier wie ein paar Spittelfrauen zusammenhockt und euch die Bleichsucht an den Hals fastet. Professur? Unsinn! Du kriegst dein Lebtag keine, mit deinen Gesinnungen, in unserm christlich germanischen Staat. Wenn du nur was Ordentliches gelernt hättest, daß man dich irgendwo anders brauchen könnte. Uebrigens, rechnen kannst du ja so ziemlich, nicht wahr?

Etwa die vier Species und die Regeldetri.

Mach keine Possen. Du bist ein fixer Mathematiker. Ich will dich bei einer Lebensversicherungs-Gesellschaft unterbringen, wo sie Jemand brauchen für ihre Wahrscheinlichkeits-Rechnungen. Fünfhundert Thaler Gehalt für den Anfang. Du brauchst nur ein Wort zu sagen.

Lieber drei statt eines, mein getreuer Eckart: ich danke schön. Ich kann die Büreauluft nicht vertragen. Aber im Ernst, theurer Menschenretter, gieb dir mit mir keine Mühe. Ich bin unverbesserlich. Jeder Deutsche darf sich als solcher eine Marotte erlauben. Die meine ist: mir selber anzugehören, vom Baum des Lebens mir so viel Nüsse zu schütteln, als mir beliebt, und mit dem Knacken und Auskernen so viel Zeit zu verderben, als ich irgend erübrigen kann. Carrière machen ist eine sehr zeitraubende Beschäftigung, und auf eine anständige Weise Millionär werden, desgleichen. Auf Beides also muß ich verzichten, und da ich überdies so wenig Talent als Neigung dazu habe und einstweilen auch so durchkomme, warum soll ich mich darüber ereifern, daß die Berliner Kühe in der Milchfabrikation sich in demselben Maße 54 verschlechtert haben, wie die preußische Staatsphilosophie seit Vater Kant? Wenn nicht so ein Epikuräer, wie du, einmal unnatürliche Gelüste in uns erregt, fehlt es uns in unserer »Tonne« an Nichts, und wir haben noch Einiges übrig, uns einmal einen guten Tag zu machen. Nicht wahr, Balder?

Der Doctor wollte noch etwas erwiedern, verschluckte es aber und griff nach seinem Hut. Adieu! brummte er und ging nach der Thür. Auf der Schwelle aber blieb er stehen.

Du wirst mir erlauben, sagte er barsch, da ich dich doch einmal in der Pflege habe, dir Medicin aus meiner Apotheke zu schicken. Ich habe von einem Weinhändler, an dem ich eine glänzende Cur gemacht habe, einen sehr strebsamen Bordeaux geschenkt bekommen. Ich schicke dir eine Probe, und wenn du nicht jeden Mittag eine halbe Flasche trinkst – Balder reicht mit einem Glase –, so –

So willst du mir die Freundschaft kündigen? Thue das lieber nicht. Es wäre Schade drum: um dich, weil du ohne unsern Umgang vollends in Empirie und Gourmandise untergehst; und um uns, weil wir uns dann den letzten Luxus versagen müßten, einen Arzt zu consultiren. Nein, alter Junge, ich danke dir sehr für deine menschenfreundliche Absicht; aber es ist weiser, wenn wir fortfahren, uns nach unserer Decke zu strecken.

Und diese Menschen wollen über die gemeinen Vorurtheile erhaben sein! rief der Doctor heftig und setzte den Hut auf; wenn ihr's wirklich wäret, würdet ihr 55 nicht zu stolz sein, von einem alten Universitäts-Kameraden einen elenden Tropfen Wein anzunehmen! Geht mir, ihr seid rechte Narren mit eurem Idealismus.

Und du bist auf dem Wege, ein so berühmter Arzt zu werden, wie der alte Heim. Die Grobheit wenigstens hast du schon dazu! – lachte Edwin.

Der Doctor hörte es nicht mehr; er hatte die Thüre zugeworfen und polterte die Treppe hinunter.

Balder sah den Bruder an.

Du hättest es doch nicht ablehnen sollen, sagte er. Er meint es gut, und er hat gewiß Recht: unsere Diät taugt dir nicht.

Fange du nun auch an zu zanken, versetzte Edwin und trank mit einer Miene, wie wenn er den köstlichsten Nektar schlürfte, den Rest seiner Milch aus. Ich bin heute in einer Stimmung, daß mich die Posaune des jüngsten Gerichts nicht in meiner Seelenruhe stören würde. So recht die phlegmatische, sinnlich-übersinnliche Disposition, in der einem die schwersten Probleme nur ein Kinderspiel sind. Schade, daß ich gerade nichts Sublimeres aufzurathen habe, als wie es zugehen mag, daß ein verrückter Mensch im Traum so gescheidte Sachen sagen kann und doch beim Aufwachen gerade wieder so toll sein, wie vorher.

Wie meinst du das?

Ich habe nämlich pflichtschuldigst von meiner gestrigen Bekanntschaft geträumt; du entsinnst dich, Kind: la belle Chocoladière. Ich wußte, Gott weiß woher, daß sie die Tochter einer polnischen Gräfin und eines 56 französischen Kammerdieners sei, ein ganz unwissendes, eitles, nicht übermäßig tugendhaftes Geschöpf. Da sie sich über mein mangelhaftes Französisch lustig machte, fing ich an, ihr sehr ruhig auseinanderzusetzen, wie dankbar sie noch immer sein müßte, daß sich ein vernünftiger Mann überhaupt mit ihr einlasse. Dann sprach ich viel und sehr nachdrücklich über die Würde des Mannes im Allgemeinen und des Philosophen im Besonderen, etwa wie die Wieland'schen Langbärte, und sie, nachdem sie anfangs Miene gemacht, sich über ihre Schwächen und Untugenden zu betrüben, auf einmal fängt sie laut an zu lachen, tanzt im Zimmer herum – im Stil der Solotänzerinnen, die wir gestern gesehen – trällert französische Chansons nicht von der anständigsten Art und geberdet sich überhaupt so ausgelassen, daß ich immer hitziger werde und endlich ihr geradezu ins Gesicht sage: ich würde mich selbst für den verächtlichsten Thoren und Schwächling auf Erden halten, wenn ich nur noch eine Minute länger mir von ihrem kleinen Näschen und schwarzen Augenwimpern den Kopf verdrehen ließe. Nun wurde sie erst recht übermüthig, ich immer kälter und bittrer, sie immer bacchantischer, und ich war eben im Begriff, zu einem niedrigen Fenster hinaus in einen schönen großen Garten zu entspringen, da sie mir mit schmeichelnden Händen ins Gesicht fuhr und mit Gewalt die Zornfalte auf meiner Stirn glätten wollte – da wachte ich auf und merkte auf der Stelle, daß ich trotz aller Traumweisheit noch um kein Haar klüger geworden war, als wie ich zu Bette ging. 57

Aber nimm dir die Sache nicht so sehr zu Herzen, Kind, fuhr er fort, da Balder stumm blieb. Ich kann dich versichern, es ist kein so großes Unglück, so eine hoffnungslose Leidenschaft. Ich bin fest überzeugt, ich werde sie nie wiedersehen, und wie lange es dauern wird, bis ich wieder an etwas Anderes denken kann, weiß ich nicht. Aber es ist eines der angenehmsten Gefühle, dies leise Fortbrennen, diese selige Wehrlosigkeit, dies Insichgekehrt- und Außersichsein zu gleicher Zeit –, der wahre immanente und transcendente Widerspruch, der das eigentliche Geheimniß alles Lebens ist und dessen man bei der gewöhnlichen ehrenwerthen Verständigkeit unseres Daseins selten so recht inne wird. Du wirst das auch einmal erleben, Kind, und dann erst ganz verstehen, wie ich's meine. Dabei arbeitet der Kopf einstweilen gar nicht mit; die Begriffsmühle ist gestellt; sie hat kein Korn mehr zu zerreiben. Ganz andere Nervencentren scheinen die Herrschaft übernommen zu haben, und es wird, wenn ich nur die erste Ungewohnheit des Zustandes überwunden habe, eine sehr interessante psychologische Aufgabe sein –

Die Thür wurde aufgerissen, und ein neuer Besucher unterbrach diese Bemühung unseres Philosophen, aus der Noth eine Tugend zu machen und sein Herzweh wenigstens für die Wissenschaft zu verwerthen. 58



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