Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Fünftes Kapitel.

Geliebte Sonne,
Allerbarmerin,
An deinem Busen
Hegst du dein Kind!

Schlafend lag ich
In Fiebertraum.
Du kommst gewandelt,
Mich zu heilen;

Schwebst lieblich groß
Mit goldnem Lächeln
In des Einsamen
Arme Zelle,

Daß der gefesselte
Sinn des Kranken
Wie Knospenhülle
Die Decke lüftet.

Ueber Thurmhöhen,
Steile Dächer,
Durch Baumeswipfel
Wagst du den Weg.

Und schmiegst dich kosend,
Gewaltige du,
Mir um die Kniee,
Mir an das Herz. 74

Nicht viel genoß ich
Irdischer Feste;
All meine Freuden
Reiftest mir du:

Die rothe Frucht hier,
Deren Saft mich kühlt,
Das weiße Brod hier,
Dessen Kraft mich nährt;

Ach, und des lieben
Einzigen Mädchens
Schlichtes Blondhaar,
Schimmernde Wangen –

Du ließest sie blühen,
Deinem Sonnenkinde,
Mir zum Segen,
Mir zur Freude.

Weile noch, weile,
Bis sie naht;
Ueberhauche mit Glanz
Die traute Gestalt.

Ach, wenn ich ewig
Sie sollt' entbehren,
Mir wäre besser,
Auch dich zu missen,

Daß nur dein Aug'
Auf meinem Hügel
Am schönen Mittag
Meinen Schlummer streifte! –

Das Blatt, worauf diese Verse mit Bleistift hingeworfen waren, lag auf Balder's Knieen. Er hatte sich, bald nachdem Edwin ihn verlassen, ans Fenster in die Sonne gesetzt und begonnen, sich nach seiner Weise 75 einen Festtag zu machen, indem er ein Blatt nahm und die Stimmung, die ihn beherrschte, darauf hinströmte. Wir wissen, daß ihm nie wohler war, als wenn sein Herz so von selbst zu klingen anfing und die Hand kaum so rasch die Melodie aufzeichnen konnte, die er, in sein Inneres hineinhorchend, vernahm.

Heute aber war er besonders glücklich. Seine ungewöhnliche Fähigkeit, sich aus Allem, auch dem Geringsten, eine Freude zu machen, schien durch das Gefühl der Genesung noch gesteigert zu sein. Lange betrachtete er durch das geschlossene Fenster die weiße Katze, die wählig blinzelnd draußen auf dem Sims lag und sich sonnte und that, als ob sie die Sperlinge nicht sähe, die sich nahe an sie heranwagten. Ein weißes Wölkchen schwamm langsam durch den blauen Himmel. Er verlor sich in den Anblick, als sähe er dort die wundersamsten Bilder, bis vom Starren in den Glanz ihm die Augen weh thaten. Nun stand er auf und ging langsam durch das Zimmer, den kranken Fuß fast mit einer Tanzbewegung nachziehend, die letzte der Apfelsinen, die Marquard ihm neulich gebracht, von Zeit zu Zeit an die Lippen drückend, um den Duft und Saft zugleich einzusaugen. Dabei dachte er bald an den Bruder, wie dem die Stunden wohl vergehen würden, bald an das Reginchen, deren Stimme er hell aus dem Vorderhause herüber hörte, da sie bei offenen Fenstern droben in der Küche hantierte und dazu sang; dazwischen blieb er wieder vor Edwin's Bücherbrettern stehen, zog aufs Gerathewohl eines der Bücher heraus, die er alle kannte, und las eine halbe 76 Seite, um es dann wieder hineinzustellen und allerlei Gedanken an das Gelesene zu knüpfen. Auch sein Arbeitsgeräth nahm er wieder zur Hand, als ob er es brauchen wollte, besann sich aber, daß er Edwin versprochen hatte, noch wenigstens eine Woche zu feiern. Er meinte zwar, es sei eine überflüssige Schonung. Nie hatte er sich stärker und gesunder gefühlt, nie leichter geathmet.

Das Reginchen, als es ihm Mittags das Essen brachte, bemerkte seine ungewöhnliche Heiterkeit und Lebensfrische. Die Krankheit hat Ihnen gut gethan. Herr Walter, sagte sie.

Nein, versetzte er lächelnd, Ihre Pflege, Reginchen.

Nun, es kommt Eins zum Andern, sagte sie. Aber warum sind Sie nicht mit dem Herrn Doctor fort aufs Land? (Sie nannte Edwin immer bei seinem Titel.) Heute bleibt ja Niemand zu Hause, der auf gesunden Füßen steht.

Machen Sie denn auch eine Landpartie, Reginchen?

Ja ich! Ich bin heute der Haushund. Die Eltern sind auf eine Kindtaufe, schon um elf, die Gesellen natürlich alle fort, es ist Niemand im Hause, als die alten Leute, weil sie nämlich krank ist und er dann auch immer zur Gesellschaft mit krank wird und umgekehrt. Sie glauben wohl, ich spaße; aber fragen Sie nur ihr Mädchen. Wenn er nur den Schnupfen hat, ängstigt sie sich so, daß sie weder essen noch trinken kann und sich dann auch zu Bette legen muß. Es ist komisch, nicht wahr, aber doch wieder nett, wenn zwei alte Leute sich noch so lieb haben. 77

Noch? Ich dächte, man müßte sich immer lieber haben, je länger man sich kennt.

Freilich! Je länger je lieber. Aber immer trifft es doch nicht ein. Möchten Sie alt werden, Herr Walter?

Wenn die Menschen, die ich lieb habe, mit mir alt würden, gewiß!

Nein, sagte sie, ich nicht. Früher, ja, da habe ich gedacht, nichts sei schlimmer, als sterben. Aber jetzt – Sie werden mich auslachen – manchmal ist mir das Leben ordentlich verleidet, obgleich ich mich doch über Nichts beklagen kann. Es wird mir so enge und so bange zu Muth, Nichts freut mich, ich wünsche mir, ich weiß nicht was, und fürchte mich, ich weiß nicht wovor. Sie sind so gescheidt, Herr Walter. Woher kommt das eigentlich?

Liebes Reginchen – und er ergriff ihre Hand und sah ihr in das treuherzige Gesicht, das ihm mit argloser Neugier zugekehrt war. Er suchte nach einem Wort, um ihr leise anzudeuten, daß es die Ueberfülle von Jugend und sehnsüchtiger Lebensahnung sei, was ihr das alltägliche Leben verleide; vielleicht wollte er sich ein Herz fassen, ihr zu gestehen, daß ihm ähnlich zu Muthe sei.

Plötzlich entzog sie ihm ihre Hand. Haben Sie nicht gehört? Die alte Dame drüben hat nach mir geklingelt, Gott weiß, was sie braucht. Aber ihr Mädchen ist ausgegangen, weil sie ihren Sonntag hat, da ist Niemand zu ihrer Bedienung, als ich. Essen Sie nur, Herr Walter; vielleicht, wenn ich nachher Zeit habe, 78 komme ich noch auf fünf Minuten herauf. Sie sind ja auch gar zu einsam, und dazu am Sonntag!

So huschte sie aus dem Zimmer. Es war ihm fast lieb, daß sie unterbrochen worden waren. Was hätte er ihr sagen wollen, ohne sich ganz zu verrathen? Und was sollte daraus werden, wenn sie es wußte und auch ihm ihre Liebe gestand? Waren sie dann nicht verlobt, und mußte er's dann nicht Edwin sagen? Und doch schien es ihm unmöglich, daß ein Mensch um das wissen sollte, was ihm selbst wie ein übermüthiges Märchen vorkam. Und war es denn auch zu glauben? Seine zwanzig Jahre, seine Krankheit, seine Abkehr von allem Leben der Welt – und er sollte, wie jeder Andere, hintreten und sagen: hier ist ein Mädchen, dessen Mann will ich sein und Haus und Herd gründen und – Kinder von ihr haben und großziehen! – Indem er das dachte, wurde er, obwohl er mit sich allein war, roth und schüttelte den Kopf. Dann aber setzte er sich an den Tisch und aß, und wie er mit gesundem Appetit sich die einfache Kost schmecken ließ, wuchs auch sein Vertrauen zu seinem Schicksal, und er wurde sehr vergnügt und nahm sich im Stillen vor, wenn sie Nachmittags käme, ihr wirklich zu sagen, daß er zu wissen glaube, was sie sich wünsche und wovor sie sich fürchte –: ihr Herz hinzugeben an ein anderes Herz und ihr eigenes Leben zu verlieren, um in einem andern eine fröhliche Auferstehung zu feiern.

Er hatte aber längst abgetafelt und das Kätzchen die Teller so rein geputzt, daß sie in der Sonne glänzten, 79 und immer noch ließ seine kleine Haushälterin auf sich warten. Zum ersten Mal empfand er eine ungeduldige Langeweile, die er mit nichts zerstreuen konnte. Er hörte es vier Uhr schlagen, dann sogar fünf; die Sonne wurde blasser, und er fühlte plötzlich ein lebhaftes Verlangen, aus der dumpfen Oede seiner »Tonne« ins Freie zu kommen. Wie lange hatte er den Himmel nicht über sich gehabt, oder doch nur so weit, als er den Kopf zum Fenster hinausstreckte. Es durchzuckte ihn ein fröhliches Muthgefühl, als er das alte schwarze Mäntelchen aus dem Schranke holte und die Mütze und so verwahrt die Treppe sacht hinunterglitt. Wie wenn er eine weite, gefährliche Reise anträte, so seltsam klopfte ihm das Herz. Und doch wollte er das Haus überhaupt nicht verlassen, sondern nur unten im Hof sich in den Winkel setzen und warten, bis das Mädchen käme, um zu ihm hinauf zu huschen, und dann erstaunte, ihn unten zu finden.

Sehr milde, trotz der beginnenden Dämmerung, war die Luft unten im Hof; als wäre von der Sonnenwärme, die über Tag in die Tiefe zwischen den vier Mauern hinabgeronnen, noch ein Rest unten im Grunde zurückgeblieben. Auch rührte sich kein Hauch und kein Laut, weder im Hause noch von der Straße herüber. Baldern war fast wie einem Knaben zu Muth, der Versteckens spielt, als er sich in die vergilbte, halb entblätterte Bohnenlaube auf das Bänkchen setzte und merkte, daß, wer vom Vorderhause kam, ihn zuerst nicht sehen konnte, da die Stangen sich so dicht vorschoben und dann die schwarze Brunnenröhre vortrat. Er wickelte sich 80 überdies so sorgfältig in den Mantel und zog den Kragen in die Höhe, daß auch sein blondes Haar ihn nicht verrathen konnte.

So saß er und wartete in phantastischen Träumen auf das Reginchen. Was Edwin sagen würde, wenn er heimkäme und hörte, auch Balder habe seine Landpartie gemacht! Das Beste dabei dürfte er freilich nicht verrathen. Oder sollte er's ihm dennoch heute schon beichten? Würde er, wenn er wirklich so glücklich gewesen, wie er hoffte, und mit ihr von Herz zu Herzen gesprochen – würde er im Stande sein, sein Glück zu verschweigen? Würde es ihm nicht aus den Augen strahlen, aus den Wangen leuchten und von selbst über die Lippen springen?

Er nahm sich vor, sich dem Augenblick zu überlassen und seinem Herzen zu folgen. Wenn sie nur käme! Vergessen konnte sie ihr Versprechen doch nicht haben; aber was hielt sie so lange zurück? Und er verging in sehnsüchtiger Unruhe und wagte doch nicht, sie vorn im Hause zu suchen. Wer konnte wissen, ob er sie allein traf? –

Und doch war sie noch immer allein, als er schon eine halbe Stunde in der Laube saß. Sie hatte die alten Leute oben vielfach zu bedienen gehabt, bis sie ihnen endlich das Theegeschirr gebracht und dann entlassen worden war. Nun erst konnte sie an ihr Versprechen denken, und zugleich fiel ihr ein, daß sie noch immer keinen Blick in den Schiller gethan, den sie doch nächstens zurückbringen müsse. Auch, wenn er sie danach fragte, 81 war es doch übel, gar nichts davon zu wissen; was mußte er von ihr denken, daß sie sich gar nicht ein bischen um »Bildung« bekümmerte?

Also setzte sie sich vorn in den finsteren Laden, wo aber durch die halbgeöffnete Thür noch Licht genug hereinkam, und nahm das Büchlein auf den Schooß und ihr Strickzeug in die Hände, da sie es für Zeitverschwendung hielt, zu lesen, ohne dabei zu arbeiten. Sie öffnete aber das Büchlein noch immer nicht; ihre Gedanken gingen darüber weg ins Weite, zu Dem, der seit Wochen nichts hatte von sich hören lassen, nicht einmal durch ihren Bruder. Sie hätte ihm gern die Strümpfe geschickt, die längst fertig waren, und überhaupt, wenn es ihm Ernst war – – Er liebt mich doch wohl nicht von Herzen! seufzte sie vor sich hin. Aber wenn er wüßte, wie oft ich an ihn denke – er ist ein so guter Mensch! –

Sie stellte sich seine derbe Gestalt, das ehrliche, finstere Gesicht mit dem schwarzen Bartdickicht so deutlich vor, daß sie in demselben Augenblick, wo sie ihm im Stillen ihre Liebe erklärte, lachen mußte. Dabei hatte sie doch großen Respect vor ihm, schon wegen seines Buchdruckerhandwerkes, da sie glaubte, das sei das gelehrteste von allen. Und dann wußte sie auch durch ihren Bruder, daß er selbst allerlei Schriften verfaßte, die sehr schön und unter den Arbeitern immer rasch vergriffen waren. Daß ein so gescheidter und ungewöhnlicher Mensch gleichwohl ihr gegenüber verlegen wie ein Knabe war und es ihr nicht einmal zu sagen wagte, daß er sie liebte, 82 schmeichelte ihrem unschuldigen und sehr bescheidenen Selbstgefühl nicht wenig, ja es rührte sie ordentlich, wenn sie daran dachte, wie lieb er sie haben müsse, daß er sich keine Vornehmere und Gebildetere aussuchte. Dafür wollte sie ihn auch recht treu und zärtlich wieder lieben und noch viel zulernen, und glaubte es ihm vor Allem schuldig zu sein, wenigstens den Schiller zu lesen, obwohl sie die schönen Worte darin nicht recht verstand. Wenn er noch bei ihr säße und ihr vorläse, dann würde es ihr schon leichter werden. Sie hörte seine Stimme so gern, und was er für ein Redner sei, hatte ihr Bruder oft genug gerühmt. Aber da er sich eben nicht sehen ließ, blieb nichts übrig, als es endlich mit dem Lesen zu versuchen.

Eben schlug sie das Buch in ihrem Schooße auf und las die ersten Zeilen der »Melancholie an Laura«, als plötzlich ein schwarzer Schatten draußen zwischen sie und das Tageslicht trat, daß sie erschrocken mit einem kleinen Schrei aufsprang und das Buch zu Boden gleiten ließ.

Der Gegenstand ihrer heimlichen Gedanken stand leibhaft vor ihr, oder kniete vielmehr zu ihren Füßen, das Buch aufzuheben, während er die Bitte hervorstotterte, ihm das plötzliche Eintreten, das sie so erschreckt, zu verzeihen.

Sie hatte nicht so verzärtelte Nerven, um sich nicht rasch wieder zu erholen, sobald sie sich überzeugt hatte, es sei kein Spuk, sondern der wirkliche schwarzbraune Geliebte, den sie so sehnlich herbeigewünscht. Sie lachte 83 vielmehr über ihr Entsetzen, wurde nun eben so roth, wie sie blaß geworden war, und begriff nur nicht, warum er unverwandt auf das beschriebene Blatt starrte, das aus dem Büchlein herausgefallen und jetzt von ihm entfaltet und gelesen worden war. Sie fand es nicht eben höflich, daß er sie über so einem Geschreibsel vergessen konnte, dachte aber, das komme eben von seiner Gelehrsamkeit. Auch entschuldigte er sich, als er das Buch auf den Ladentisch legte, und fragte nur schüchtern, wie sie dazu komme. Herr Walter habe es ihr geliehen, sie habe eben zuerst darin lesen wollen. Das beschriebene Blatt habe er wohl darin vergessen. Was denn darauf stehe, daß der Herr Franzelius es so eifrig studirt habe?

Fräulein Reginchen, versetzte der Buchdrucker und wischte sich den Schweiß von der Stirn, erlauben Sie mir das Blatt einstweilen einzustecken, ich will es gelegentlich ihm selbst wiedergeben – es könnte in unrechte Hände – aber nicht wahr, Sie haben mir mein plumpes Hereinplatzen vergeben? Wenn Sie wüßten, Fräulein Reginchen –

Dabei sah er sich verstört nach allen Seiten um. Sie hatte ihn nie so wunderlich aufgeregt gesehen.

Was haben Sie nur? fragte sie. Wollen Sie ein Glas Wasser? Wenn ich Ihnen sonst irgend helfen kann –

Sie können, Reginchen, nur Sie allein können mir helfen. Aber hier – so dicht an der Straße, wo jeden Augenblick Jemand uns überraschen kann – o Sie wissen nicht, um was es sich handelt! 84

Sie glaubte es freilich zu wissen. Was konnte es sein, wenn sie allein im Stande war, ihm zu helfen? Und was konnte er ihr zu vertrauen haben, wobei er nicht überrascht werden wollte, als eben das Eine, die eine große Hauptsache, zu der er sich bisher nie ein Herz gefaßt, und die sie ihm längst an den Augen abgesehen hatte!

Sie haben ganz Recht, sagte sie mit dem unschuldigsten Ton, und that dabei ein wenig neugierig. Hier ist man wie auf der Straße. Wissen Sie was? Die Werkstatt ist ganz leer, und auch im Hof ist Niemand; da können Sie mir Alles sagen. Ich muß nur hier den Laden zuschließen. Nein, aber die Ueberraschung! An nichts hätte ich weniger gedacht, als daß gerade Sie heute noch kommen könnten!

Sie schloß rasch die feste Vorthüre des Ladens, so daß sie beide plötzlich im Dunkeln standen. Im nächsten Augenblick aber hatte sie schon die zweite Thüre nach dem Flur geöffnet und ließ ihn hinaustreten. Es ist gar Niemand von meinen Leuten zu Hause, flüsterte sie; die Eltern kommen auch nicht vor sieben von der Kindtaufe zurück, auch der Herr Doctor hat eine Landpartie gemacht, und nur der Herr Walter –

Jetzt erst fiel ihr wieder ein, was sie dem Einsamen versprochen hatte. Aber nun war es zu spät; sie dachte sich Abends noch zu entschuldigen.

Wenn es ganz etwas Heimliches ist und Sie im Hause nicht gesehen werden wollen, laufen Sie geschwind über den Hof. Die alte Dame oben könnte gerade ans 85 Fenster kommen. Mein Gott, was haben Sie denn nur? Sie sind ja ganz blaß und reden keine Silbe!

Er antwortete nicht, folgte aber ihrem Rath. Ohne rechts und links zu sehen, huschten sie beide über den kleinen Hof, der jetzt tief verschattet war, und betraten die Werkstatt, deren Fenster gerade über der Bohnenlaube lagen. Sie waren sämmtlich geschlossen.

Eines wollen wir ausmachen, flüsterte das flinke Mädchen. Sie sind den Leder- und Pechgeruch nicht gewöhnt, und es ist auch keine Gefahr; im Hof, wie gesagt, hört uns keine Katze. Nun? Sind Sie nun ein wenig zu Athem gekommen? Mir ist ordentlich gruselig, was das für ein Geheimniß sein mag.

Sie hatte sich, damit er ihr Gesicht nicht deutlich sehen sollte, mit dem Rücken gegen das offene Fenster auf einen dreibeinigen Schemel gesetzt und strich sich mit beiden Händen das Haar glatt, das in leichten Löckchen sich von der Stirn wegsträubte. Es ist heiß hier, sagte sie, als er noch immer nicht anfing, sondern, die Hände auf dem Rücken, in tiefem Brüten durch den großen, fast schon nächtlichen Raum stolperte.

Endlich blieb er an einem Tische stehen, auf dem Handwerkszeug und halbfertige Waare übereinander lag.

Reginchen, sagte er, dies ist vielleicht das letzte Mal, daß wir uns sehen. Wenn nicht alle Zeichen trügen, bin ich morgen entweder ein Gefangener, oder auf dem Wege nach Amerika.

Barmherziger Gott! rief sie mit unverhohlenem Schmerz; das ist doch nicht Ihr Ernst? 86

Nur zu sehr, versetzte er dumpf. Auch überraschte es mich nicht; ich habe es lange kommen sehen. Reginchen – sehen Sie mich einmal an und sagen Sie mir: trauen Sie mir ein Verbrechen zu?

Ihnen! Sie sind ja der beste Mensch unter Gottes Sonne! Sie könnten ja keinem Kinde etwas zu Leide thun. –

Ich danke Ihnen, Reginchen. Daß Sie mir das sagen, ist mir ein großer Trost, vielleicht der einzige, den ich mitnehme, wenn ich fliehen muß; nein, auch noch das Bewußtsein, daß ich für eine heilige Sache –

Aber sagen Sie mir doch nur –

Sie haben Recht, die Minuten sind kostbar. Ich bin hier, Sie um einen großen Dienst zu bitten, den Sie mir und auch der großen Sache leisten können. Ihr Bruder, der bravste Junge, den ich je kennen gelernt – er ist es werth, Reginchen, Sie zur Schwester zu haben – wenn Sie Genaueres wissen wollen, fragen Sie ihn. Er hat all die Nummern meiner Zeitung, wegen deren ich verfolgt werde. Es ist wahr, ich habe sie gereizt. Die lammherzige Geduld haben wir lange genug geübt, dem Löwen wird es endlich in der Eselshaut zu enge, aber vielleicht war es unklug von ihm, sich durch sein Brüllen zu früh zu verrathen, ehe er den Sprung thun kann. Es ist geschehen; die Immerklugen sind nur die Feigen und Knechte. Was sie nun vorhaben, weiß ich nicht. Aber daß es gegen mich geht –

Gerechter Gott, rief sie, man will Ihnen den Proceß machen, Sie ins Gefängniß werfen? 87

Damit ich unschädlich werde, ja! Was ist daran Neues oder Wunderbares? O liebes Reginchen, die Lüge dieses sogenannten Rechtsstaates ist alt genug, daß die ruhigen Bürger sie ganz in der Ordnung finden. Aber dazu bin ich nicht hier, Ihnen diese Dinge zu erklären, von denen Ihr edles, unschuldiges Herz keine Vorstellung hat. Sehen Sie, da ist mein theuerstes Besitzthum – und er zog eine ziemlich dickleibige lederne Brieftasche hervor, die mit einem Bindfaden umschnürt und versiegelt war. – Es sind Papiere, die, wenn man sie bei mir fände, nicht nur mich, – was läge daran! – sondern noch viele der hochherzigsten Menschen, die sich mir anvertraut, ins Verderben stürzen würden. Ich weiß keinen Ort, wo ich diese Briefe und Schriftstücke sicher verbergen könnte, keinen Menschen, dem ich es zutrauen dürfte, sie unter allen Umständen vor jedem fremden Auge zu schützen; denn alle meine Freunde schweben in derselben Gefahr, wie ich, daß über Nacht die rohe Polizeifaust in ihr Asyl einbrechen und ihre geheimsten Fächer durchwühlen kann. Da habe ich an Sie gedacht, Reginchen. Bei Ihnen sucht Niemand staatsgefährliche Papiere; Ihr Vater, obwohl er liberal ist, hat immer zu allen Planen der Socialdemokratie den Kopf geschüttelt. Wollen Sie mir nun den großen Gefallen thun, dieses mein Vermächtniß aufzuheben und es nur dann aus den Händen zu geben, wenn ich selbst Ihnen brieflich mittheile, unter welcher Adresse Sie das Packet absenden sollen?

Sie griff rasch mit beiden Händen nach der 88 Brieftasche und schob sie unter das dicke wollene Tuch, das sie über die Schultern genommen und hinten in einen Knoten geschlungen hatte. Keine sterbende Seele soll davon was zu wissen kriegen, sagte sie, es soll sicher sein, wie wenn's in der Bank läge. Ach, Herr Franzelius, aber ist es denn wirklich so weit? Sie müssen fort, auf ewig?

Sie fuhr sich rasch mit der Hand nach den Augen, er sollte nicht sehen, daß sie naß wurden; er that ihr gar zu leid, und auch sie selbst kam sich als ein sehr unglückliches Wesen vor, daß all ihre Träume so rasch zerstört werden sollten.

Reginchen, sagte er stotternd, ich danke Ihnen dafür, daß es Ihnen nahe geht – obwohl – wie mir zu Muthe ist, können Sie freilich nicht ahnen. Sie hätten es auch nie erfahren, wenn ich hätte bleiben können – so aber – da es nichts mehr schaden kann –

Sie sah ihn mit plötzlich getrockneten Augen groß an. Nichts mehr schaden? sagte sie.

Ja wohl, Reginchen. Wenn ich fort bin, werden Sie mich bald vergessen, auch wenn Sie wissen, daß ich – daß ich Sie – nun vielleicht wissen Sie es schon.

Ich, Herr Franzelius? – Ihre ganze Evasnatur war wieder aufgewacht; sie wollte es ihm nicht leicht machen, er sollte mit der Sprache ganz heraus. Warum war er sonst ein so guter Redner, und nur ihr gegenüber stotterte er wie ein Schüler?

Reginchen, sagte er, indem er tief athmete und einen großen Anlauf nahm, wenn Sie es wirklich noch 89 nicht gemerkt haben – und ich glaube Ihnen, da Sie keiner Verstellung fähig sind – ich – ich habe Sie schon lange – schon seit zwei Jahren – – Geben Sie mir Ihre Hand, Reginchen. Sehen Sie, ich bildete mir zuweilen ein, es würde mir einmal das Glück beschert sein, Sie – und Ihre lieben Eltern – zu bitten, daß Sie mir diese Hand fürs Leben schenken sollten. Ich – ich habe Sie außerordentlich lieb gehabt, ganz unsäglich lieb, so lange ich Sie kenne – und – obwohl ich weiß, daß ich sonst eben wenig Glück habe – im Leben und bei den Frauen – manchmal schien es mir – als ob auch Sie –

Er stockte und ließ ihre Hand fahren, um sein Schnupftuch hervorzuziehen und sich die Stirne zu trocknen. Die kleine blonde Schlange, obwohl ihr ganzes Herz sie zu ihm hinzog und sie ihm am liebsten gleich um den Hals gefallen wäre, fand es dennoch angemessen, ihn noch ein wenig hinzuhalten.

Was Sie sagen, Herr Franzelius! warf sie halb schmollend hin. Lieb gehabt haben Sie mich, und jetzt – jetzt ist es aus? Weil Sie nun fortgehen, lassen Sie auch mich zurück, wie ein unbequemes Stück Möbel, das nicht in den Koffer geht?

O Reginchen, rief er und sah sie plötzlich so herzlich an, daß sie roth wurde und die Augen niederschlug, Sie spaßen nur. Sie wissen recht gut, wie ich es meine, und daß ich nie aufhören werde, Sie lieb zu haben, lieber als alle Menschen. Aber wenn ich mich jetzt losreiße, – glauben Sie mir, es geschieht nicht bloß, weil ich es 90 für gewissenlos hielte, – bei meiner unsichern Zukunft und allem Schicksal, dem ich vielleicht entgegengehe – und Sie so jung und so wenig an Noth und Entbehrung gewöhnt –

O, unterbrach sie ihn, wenn es nur das ist! Ich habe immer gehört, wenn man sich lieb hat, so ist das die Hauptsache. Heißt es nicht in dem Lied von Aennchen von Tharau, das Sie mir einmal aufgeschrieben haben:

Käm' alles Wetter gleich auf uns zu schla'n,
Wir sind gesinnt bei einander zu stahn –?

Herzensmädchen, rief er außer sich, und über sein finsteres Gesicht ging ein Wetterleuchten von Freude und Ueberraschung, ist das wahr? du hast – Sie haben das behalten – auf mich, auf uns Beide angewendet? O das habe ich nicht zu hoffen gewagt! O Sie einziges Reginchen! Und jetzt – wie glücklich könnte ich sein – wenn ich es sein dürfte! Sage mir's nur noch einmal, liebstes, einziges Kind: ist es denn wahr? Du würdest mit mir gegangen sein, wenn ich dir den Vorschlag gemacht hätte – und deine Eltern – Aber nein, sage mir nichts! Es kann ja nichts helfen und das Schwere nur noch schwerer machen.

Er sank auf einen Schemel am Tische hin und vergrub das Gesicht in die breiten Hände.

Sie betrachtete ihn stumm. Sie konnte aus seinem Betragen nicht klug werden. Was war es denn, das im Wege stand? Warum konnte es »nichts helfen«, daß sie ihm ihre Liebe gestand und ihren guten Willen, mit ihm in die weite Welt zu gehen? 91

Plötzlich sprang er auf und sagte, indem er dicht an sie herantrat: Schwören Sie mir, liebes Reginchen, daß Sie suchen wollen, zu vergessen, was ich Ihnen da gesagt habe. Ich hätte schweigen sollen; es übermannte mich aber. Und nun leben Sie wohl und machen Sie Den glücklich, der es mehr verdient, als ich, der Sie gleichfalls sehr treu und herzlich liebt – wenn auch freilich – mehr als ich kann Niemand in der Welt Sie lieb haben!

Er wollte, nachdem er sein Gesicht gegen ihre Hände gedrückt, sie loslassen und hastig aus der Werkstatt stürmen. Nun aber hielt sie ihn fest. Lieber Herr Franzelius, sagte sie, wenn's Ihnen Ernst damit ist und Sie haben mich wirklich gern, warum thun Sie mir so das Herz brechen, und sagen mir Sachen, die ich nicht verstehe, und verlangen, ich soll einen Andern glücklich machen, den ich gar nicht mal kenne? Ach freilich habe auch ich Sie lieb, und wenn es weiter nichts wäre, als die Eltern – aber so reden Sie doch; ich verstehe ja kein Wort von all Ihrem Durch-die-Blume-sprechen.

Er blieb an der Thüre stehen und sah sie betroffen an. Ist das möglich? sagte er. Sie haben keine Ahnung, wen ich meine? Täglich sehen Sie ihn, und es ist Ihnen noch nie eingefallen, was für einen Eindruck Sie auf sein Herz gemacht haben? Und ich habe es doch bemerkt, lange schon, und schwer genug darunter gelitten. O Reginchen, du weißt nicht, was das heißt, einem solchen Freund ein solches Mädchen nicht gönnen, weil man sie selber liebt! Und doch, ich weiß, was ich ihm 92 schuldig bin, wie tief, vielleicht bis ans Leben es ihm gehen würde, wenn du und ich –

Barmherziger! rief sie plötzlich – nein, nein, das ist nicht möglich! – Herrn – Herrn Walter können Sie nicht meinen!

Und warum nicht?

Ich bitte Sie um Alles, ein so kranker Mensch, glauben Sie denn wirklich, er wird je wieder gesund, daß er daran denken kann – Herrgott, wie haben Sie mich erschreckt! Mein Lebtag wäre mir das nicht eingefallen. Der Herr Walter!

Ich weiß, was ich weiß, liebes Reginchen, versetzte der Buchdrucker mit einem traurigen Ton. Was werden soll, wann er wieder ein gesundes Leben führen kann und ob es überhaupt noch einmal so weit kommt – wer kann das wissen? Aber ein Schuft wär' ich, wenn ich ihm, der schon so viel zu leiden hat, nur den Schatten eines Kummers machte, den ich ihm sparen könnte. O Reginchen, wenn Sie ihn ganz kennten, die edelste und vornehmste Seele, die je in einem gebrechlichen Leibe gewohnt hat – Sie würden ihn so lieben müssen, wie ich ihn liebe, mehr als mich selbst, und lieber Alles ertragen und opfern, als ihm nur eine Stunde seines Lebens trüben.

Sie sahen Beide zu Boden. Eine bange, beklommene Pause trat ein.

Also meinen Sie wirklich – fing das Reginchen an; sie brachte den Satz nicht zu Ende.

Ich bin, wie von meiner eigenen Liebe, von der 93 seinigen fest überzeugt, stotterte Franzelius. Hätte ich noch zweifeln können, heute, erst vor einer halben Stunde wäre mir Alles bezeugt und bewiesen worden. Ich habe kein Recht, Sie zu irgend etwas zu bereden, was Ihrem Herzen widerstrebt. Aber ich weiß gewiß, jetzt, da Sie sein Geheimniß kennen, ist es unmöglich, daß Sie ihn nicht auch liebgewinnen; er ist ja auch hundertmal liebenswürdiger, als ich, den Sie nur aus himmlischer Güte – vielleicht nur aus Versehen oder Zufall –

Nein, rief sie eifrig, und die Thränen waren ihr nahe, nun muß es denn doch heraus: es war gar keine besondere Güte dabei, als Ihre eigene, und ich habe Sie mir gut genug angesehen, und ob der Herr Walter liebenswürdiger ist – mein Gott, das ist ja möglich, aber ich kann einmal nichts dafür – Sie habe ich doch lieber, und haben Sie es nicht damals schon gemerkt, als Sie die Wasserstiefel anprobirten und wegen der Strümpfe – warten Sie, ich hole sie Ihnen gleich, sie sind längst fertig, ich habe mich so damit gesputet, weil ich damals schon dachte, Sie müßten fort, freilich nicht auf ewig! Herrgott, daß ich Ihnen nun obenein noch helfen muß, sich auf die Strümpfe zu machen!

Mädchen, rief er, du hättest wirklich –? – Es ist zu viel! – o, nun sehe ich erst, wie glücklich wir hätten werden können!

Wer weiß, was noch geschieht, sagte sie, sich selber tröstend, und trocknete sich die Augen mit ihrer Schürze; aber warten Sie hier nur fünf Minuten; ich habe sie vorn in meinem Nähtisch. Gleich bin ich wieder bei 94 Ihnen. Sie werden Ihnen gewiß passen und Sie warm halten.

Er war stark in Versuchung, wie sie ihn leise von der Thür wegdrängte, um hinauszueilen, das geliebte Geschöpf in die Arme zu nehmen und den Dank für ihre Gabe ihr auf die frischen Lippen zu drücken. Aber so ernst war es ihm mit seinem Verzicht zu Gunsten des Freundes, daß er sich nicht getraute, sie nur anzurühren, gerade weil er fühlte, sie hätte es ihm nicht gewehrt. Als sie hinaus war, setzte er sich wie ein schwer geschlagener Mensch auf eine Bank und drückte die Fäuste gegen die Augen. In allem Kummer genoß er doch die Wonne, sich von ihr geliebt zu wissen, und jedes ihrer Worte, das ihn dessen versicherte, klang in seiner Seele nach. – –

Aus dieser seligen Versunkenheit riß ihn plötzlich ein heller Schrei draußen im Hofe, nah an der Thür, die in das Hinterhaus führte. Er hatte Reginchens Stimme erkannt, in tödtlichem Entsetzen sprang er auf, riß die Thüre auf und wollte über den Flur nach dem Hofe stürzen. Aber ein Schreckensanblick hemmte seinen Fuß.

An der Schwelle des Hinterhauses, zu der zwei Stufen hinaufführten, lag in sein dunkles Mäntelchen gehüllt in tiefer Bewußtlosigkeit der Unglückliche, der das ganze Gespräch hatte mitanhören müssen, da er sich nicht getraute, aufzustehen, um seine Gegenwart nicht zu verrathen. Wer unternähme zu schildern, wie es in seinem Busen stürmte, während er lautlos, an die Mauer gelehnt, all seine geliebtesten Täuschungen zerstieben sah! 95 Es arbeitete und wogte in seiner kaum genesenen Brust, daß er zu ersticken meinte, und der Gedanke, die beiden Glücklichen möchten heraustreten und ihn hier entdecken, grub sich ihm wie ein glühendes Eisen ins Innerste des Lebens. Schon hatte er sich aufgerafft, um auf die Straße hinauszuflüchten, als ihr Vorhaben, das Geschenk aus dem Vorderhause zu holen, ihn wieder in seinen dunklen Winkel festbannte. Aber die paar Augenblicke, bis sie zurückkehrte, dachte er zu nutzen. Hastig, sobald sie vorn im Hausgang verschwunden war, schleppte er sich, an der Mauer sich haltend, da ihm die Kniee versagen wollten, nach der Thür, um die Treppe zu seinem Zimmer zu gewinnen. Aber wie er erst die zweite Stufe erreicht, verließ ihn die Kraft, ein heißer Blutstrom stürzte ihm über die Lippen, und ohnmächtig sank er auf die Schwelle nieder.

Als das Reginchen mit dem kleinen, sorgfältig eingewickelten Packet zurückkam, erschrak sie über die dunkle Masse, die ihr den Weg versperrte. Wie sie aber das blonde Haar erkannte und die dunklen Flecken auf dem Stein daneben, verlor sie alle Fassung und schrie so schmerzlich um Hülfe, als ob sie selbst ins Herz getroffen wäre. Sie wechselte mit dem herzueilenden Freunde kein Wort und keinen Blick. Im Nu war ihr der Zusammenhang klar geworden, und als wäre sie eine todeswürdige Verbrecherin wich sie den Augen ihres Mitschuldigen aus. – Sie trugen den Bewußtlosen, der nur leise ächzte, die Treppe hinauf und legten ihn behutsam auf seinem Bette nieder. Unter ihrem Bemühen, 96 ihn wieder zur Besinnung zu bringen, während sie sich doch fürchteten, er möchte die Augen aufschlagen und sie beide an seiner Seite erblicken, kam Edwin nach Hause und trat mit ahnungsloser Fröhlichkeit ins Zimmer.

Wie erschütternd der Anblick, der ihm ward, auf ihn einstürmte, wird Jeder sich ausmalen, der lange genug gelebt hat, um den grausamen Hohn des Schicksals erfahren zu haben, mit dem es die sterblichen Menschen gerade mitten aus dem höchsten Glück in den tiefsten Jammer zu stürzen liebt. 97



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