Paul Heyse
Kinder der Welt
Paul Heyse

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Vierzehntes Kapitel.

Lorinser war indeß nur die eine Treppe hinabgeschlichen und hatte an der Thür des ersten Stockes Halt gemacht. Er las den Namen auf dem kleinen Schilde und horchte eine Weile hinein. Dann zog er leise die Glocke.

Christiane öffnete und sah verwundert den Fremden stehen, dem sie vorhin mit Edwin begegnet war. Er ließ seinen durchdringenden Blick einen Augenblick auf ihr ruhen und hob ihn dann gegen die Decke des Treppenflurs, als ob ihn die Spinneweben dort ausschließlich interessirten.

Fräulein Christiane Falk? sagte er.

Sie nickte kaum merklich. Was wünschen Sie, mein Herr?

Erlauben Sie mir, einen Moment bei Ihnen einzutreten; das Anliegen, das mich zu Ihnen führt, möchte ich nicht so zwischen Thür und Angel –

Sie trat einen Schritt von der Schwelle zurück, um ihn einzulassen. Im Augenblick hatte er das Entrée durchschritten und das Wohn- und Schlafzimmer betreten, das uns aus jener ersten Nacht bekannt ist. Es sah auch 192 heute im Tageslicht nicht viel freundlicher aus, als bei der kleinen mitternächtlichen Lampe. Die Wände waren mit einer verblichenen großgemusterten Tapete bekleidet, ohne allen Bilderschmuck. Keine Blume, kein Teppich, nichts von den hundert Sächelchen, mit denen einsam lebende Fräuleins ihre Wohnung zieren und die fehlende menschliche Gesellschaft zu ersetzen pflegen. Nur eine Anzahl Bücher auf der schmucklosen Kommode, auf dem Tisch vor dem Sopha der Band der Schopenhauer'schen Parerga, Noten in bunter Unordnung über das Klavier verstreut. Die Einrichtung machte den Eindruck, als ob hier kein heiteres Auge weile, dem das Leben um seiner Anmuth willen erfreulich sei.

Auch bestätigte das Gesicht der Bewohnerin nur allzu sehr dieses Zeugniß der stummen Dinge um sie her.

Die Züge waren unschön, streng und unjugendlich, die Brauen über den hellgrauen Augen fast zusammengewachsen, das Haar, stark aber nicht weich, hing wie ein schwerer Schatten über die blasse Stirn herein. Das einzig Reizende in diesem herben Bilde, der kräftig schwellende Mund mit seinen glänzend weißen Zähnen, hatte einen starken Anflug von Bart, und schien sich durch den stehenden Ausdruck finsteren Trotzes noch eigens dagegen zu verwahren, als ob dies Gesicht überhaupt zu gefallen wünsche. So war auch in der Kleidung alles Gefällige vermieden. Aber die ungeschickten Falten vermochten es doch nicht ganz zu verbergen, daß der männlich strenge, charaktervolle Kopf auf einem schöngebildeten Frauenkörper saß. 193

Sie stand ruhig am Tisch, dem Candidaten gegenüber, der sich, ohne ihre Aufforderung abzuwarten, in das kleine Sopha geworfen und das Zimmer mit seinem blitzartigen Streifblick gemustert hatte. Durch eine nachlässige Geberde der Hand schien er sie einzuladen, neben ihm Platz zu nehmen. Sie blieb aber regungslos, mit ineinandergelegten Armen vor ihm stehen.

Mein verehrtes Fräulein, sagte er, ich habe so viel Rühmendes von Ihrem Talent gehört, mein Freund, der Doctor Edwin, Ihr Hausgenosse, hat es eben erst so warm bestätigt, daß es mir wie eine himmlische Fügung erscheint, nun auch den Weg zu Ihnen gefunden zu haben. Die Sache ist in zwei Worten folgende. Eine Gesellschaft befreundeter Menschen hat seit einiger Zeit, da ihr die kirchliche Cultusfeier nicht genügt, ihren eigenen stillen Gottesdienst sich eingerichtet, bei dem die Musik eine wesentliche Rolle spielt. Die Dame, die bisher das Harmonium zu spielen pflegte, ist verreis't. Unter uns ist Keiner, der ihre Stelle einnehmen könnte, und so hab' ich es übernommen, für einen anderweiten Ersatz zu sorgen. Ich habe an Sie gedacht, mein Fräulein. Daß Sie keine Virtuosin des gewöhnlichen Schlages sind, daß das geheimnißvolle Wesen der echten und großen Tonkunst Ihnen aufgegangen ist, lehrt ein Blick auf jene Notenhefte, auf denen ich die Namen Bach und Gluck lese, und – erlauben Sie mir, es offen auszusprechen – ein Blick in Ihre Augen, die von einem tieferen Strahl erleuchtet sind, als gewöhnliche Weiberaugen. Diese Augen zeugen dafür, daß Ihre 194 Musik Ihnen Religion ist. Ich verhehle Ihnen nicht, daß dieser Standpunkt mir noch nicht der höchste scheint. Mir ist Musik nur eine Staffel zur wahren Gottbeseligung, freilich eine der nächsten am Throne des Ewigen. Indessen, ich bin nicht hier, Ihnen zu predigen. Auch werden Sie von Niemand in unserem Kreise belästigt werden mit der Zumuthung, unsere Andacht zu theilen. Was Sie uns aber geben, wird in jedem Sinne sich Ihnen reichlich lohnen. Ich bitte nur sich auszusprechen, unter welchen Bedingungen –

Und wenn ich nun unter gar keiner Bedingung darauf eingehen könnte? unterbrach sie ihn mit ruhigem Ton.

Er ergriff das Buch, das auf dem Tische vor ihm lag, blätterte scheinbar achtlos darin und versetzte nach einer kurzen Pause:

Sie werden vielleicht doch anderen Sinnes, mein Fräulein, wenn ich Ihnen mittheile, daß Sie diesen religiösen Uebungen überhaupt nicht in Person beiwohnen sollen. Das Instrument steht in einem Raum, der noch durch ein ziemlich großes Zimmer von dem Versammlungssaal getrennt ist. Sie spielen wie für sich, und von dem, was in der kleinen Gemeinde etwa vorgeht, dringt nicht ein Laut zu Ihnen herüber. Auf diese Art sind Sie und wir jeder gegenseitigen Störung überhoben und theilen einander nur mit, was völlig allgemeingültig ist.

Er sah sie scharf beobachtend an. Sie hatte den Blick vor sich hin gesenkt und schien zu überlegen, wie weit sie ihre innerste Empfindung diesem Fremden 195 enthüllen solle. Ein bitterer Zug flog plötzlich über ihren Mund, und die Brauen zogen sich noch finsterer zusammen.

Verzeihen Sie, sagte sie rasch, wenn ich es überhaupt unter jeder Form ablehnen muß, bei irgend etwas, das sich Gottesdienst nennt, mitzuwirken. Die Gründe dafür darf ich wohl für mich behalten. Ich zweifle, ob sie überhaupt von Ihnen verstanden, geschweige denn gewürdigt werden könnten. Und für ein noch so hohes Honorar, wie Sie es anzudeuten scheinen, bin ich nicht gewohnt, meinen Ueberzeugungen untreu zu werden.

Ihre Gründe? sagte er lächelnd, indem er aufstand und nahe an sie herantrat. Wollen Sie mir wohl erlauben, diese Gründe, oder vielmehr diesen Einen Grund von Ihrer Stirne abzulesen?

Mein Herr –!

Sie sah ihn betroffen an und trat einen Schritt von ihm zurück, wie um ihre persönliche Freiheit zu vertheidigen. Er blieb gelassen stehen und sah wieder an die Decke.

Der Eine Grund, weshalb Sie an keinem Gottesdienst Theil nehmen wollen, ist: daß Sie keinen Gott haben, dem Sie dienen möchten, sagte er mit dem unbefangensten Ton, wie wenn er etwas ganz Selbstverständliches ausspräche.

Sie antwortete nicht sogleich. Das dämonisch Sichere in diesem Menschen schien sie zu überwältigen. Sie mußte sich erst mit ihrem alten Trotz waffnen, ehe sie ein Wort entgegnen konnte. 196

Haben Sie das wirklich auf meiner Stirn gelesen, oder nur in dem Buche da auf dem Tische?

Mein theures Fräulein, erwiederte er ganz freundlich, wenn ich die Ehre hätte, länger von Ihnen gekannt zu sein, würden Sie mir zutrauen, daß ich ein so leichtes Räthsel wohl zu entziffern vermag, ohne dergleichen Behelfe. Der Verfasser jenes Buches, glauben Sie mir, hat bei all seinem Atheismus mehr von Gott gewußt, als Sie – wenigstens in dieser Stunde noch von ihm wissen. Denn er hat das gekannt, was allein zu ihm führt, was Ihnen, so viel ich sehe, bis jetzt unbekannt geblieben ist und darum Ihre natürliche Entfremdung von Gott, die Sie mit Unzähligen theilen, so schroff macht und Ihnen so nothwendig erscheinen läßt: die Sünde. Sie brauchen mir weder Ja noch Nein zu antworten. Ich weiß es: was auch an Irrthümern und Schwächen in Ihr Leben getreten ist, die Sünde haben Sie nie gekannt, jene Sünde, die allein das Bedürfniß, das Schmachten nach Erlösung in dem eigenwilligen Herzen weckt, jenes brennende Gefühl der eigenen Schmach und Niedrigkeit, das nach Gott dürsten macht und endlich durch den Thau der Gnade gestillt wird. Sie lächeln, mein Fräulein? Diese Sprache scheint Ihnen zu bilderreich, um die nackte Wahrheit auszudrücken. Sie werden eines Tages an diese Stunde denken und nicht mehr lächeln.

Nein, fuhr er wie in plötzlicher Erregung fort, indem er das Zimmer mit hastigen Schritten durchmaß, ich gebe Sie noch nicht auf. Ich habe, vom ersten Laut 197 Ihres Mundes an, einen zu tiefen Zug zu Ihnen gefühlt, um nun fortzugehen und mir zu sagen: diese starke, herrliche Seele wird nie den Weg in das Allerheiligste finden. Selbst eine so mächtige Führerin, wie die Musik, wird sie immer nur bis an die Schwelle geleiten. Glauben Sie mir, mein theures Fräulein, auch ich habe Aehnliches durchlebt; auch ich habe einmal gleich Ihnen gesagt: der Gott, der Himmel und Erde und mich selbst geschaffen hat, ist zu groß für meine Liebe, zu fern für meine Sehnsucht, zu stumm für mein Vertrauen! Und warum sollte ich auch nach ihm verlangen? Was fehlte mir, solange ich mich selbst hatte, meine Tugend, mein Wissen, meine Weltlust, meine guten Werke? Erst an jenem Tage, wo ich die Sünde kennen lernte, wo ich mich selbst verloren hatte, da wußte ich, wie nahe der Ferne sein kann, wie beredt er trösten, wie zärtlich liebevoll er an sich reißen kann. Seitdem erscheint mir alles Leiden der Welt, von dem jenes verworrene Buch redet, ein Kinderspiel gegen das Unglück: an sich selbst ein Genüge zu finden und mit der gemeinen Bravheit, Tapferkeit und Unschuld, dem banalen »Ueb' immer Treu' und Redlichkeit« sich durch die unüberwindlichen Schrecken des Daseins durchschlagen zu wollen.

Er blieb vor ihr stehen und streckte ihr beide Hände entgegen. Sie hielt aber die Arme ruhig über ihrer Brust verschränkt.

Ich verstehe Sie nicht, erwiederte sie. Auch weiß ich nicht, warum ich mir die Mühe geben soll, Sie zu verstehen, – warum Sie sich überhaupt die Mühe 198 geben, mir auf Ihre Weise helfen zu wollen. Ich fühle mich gar nicht krank, und was mir fehlt, um glücklich zu sein, kann mir kein Mensch und kein Gott geben. Wenn das Gefühl Ihrer Sündhaftigkeit Sie nach einem »Erlöser« begierig gemacht hat, so beneide ich Ihnen dies Glück gar nicht. Ich bin ein einsames Frauenzimmer; Nichts habe ich, als mich selbst, meinen Stolz, meinen Trotz, wenn Sie wollen. Wenn ich das verlieren sollte, ein Wurm werden müßte und mich im Schlamme wälzen, – dann freilich würde es mir wohl auch gelingen, zu Kreuze zu kriechen. Aber der Gott, der mich erst durch Sünde und Schmach zu sich ziehen müßte, nach dem verlange ich wahrlich nicht! Wenn er keine redlichen, aufrechten Geschöpfe an sein Herz drücken kann, will ich lieber ewig sein Stiefkind bleiben.

Sie wollen! sagte Lorinser mit gedämpfter Stimme, aber voll Nachdruck. Wenn Sie nur auch immer können!

Wer soll mich hindern, mir selber treu zu bleiben?

Einer, der mächtiger ist, als unser Wille: der Teufel.

Ich bin zu alt für Ammenmärchen.

O liebes Kind, erwiederte er, es giebt Märchen, die man erst erlebt, wenn man die Kinderschuhe ausgetreten hat und der Ammenmilch des gesunden Menschenverstandes entwöhnt ist. Haben Sie nie erfahren, daß unserm Willen Gewalt geschieht, durch eine plötzliche, gleichsam magische Einwirkung? Hat niemals ein Auge Sie bezaubert, eine Stimme Ihr Blut in Flammen gesetzt, die Berührung einer Hand Ihren trotzigsten Muth auf einmal zu Schanden gemacht? 199

Eine hohe Röthe überflog plötzlich ihr dunkles Gesicht. Wie kommen Sie dazu, mein Herr, preßte sie heftig hervor, einer Dame gegenüber, die Sie zum ersten Male sehen, den Inquisitor zu spielen? Ich bitte, verlassen Sie mich; unser Gespräch hat eine Wendung genommen –

Sie trat zurück, wie um ihm den Weg nach der Thüre freizulassen. Er nahm lächelnd seinen Hut vom Tische, blieb aber, ihn sacht hin und her schwenkend, mitten im Zimmer stehen, den Blick auf den Boden geheftet.

Sie thun mir Unrecht, sagte er. Ich bin nicht so indiscret, mich in Ihr Vertrauen eindrängen zu wollen. Was ich sagte, war ganz aufs Allgemeine gerichtet. Süßliche Poeten und sentimentale Weltkinder sprechen vom Zauber der Liebe. Als ob es damit nicht sehr natürlich zuginge, so sehr, daß man mit Recht die Gewalt, die hier dem Willen geschieht, mit chemischen Processen verglichen hat. Von Zauber kann nur die Rede sein, wo das Unnatürliche, das Uebernatürliche sich ereignet. Wenn Sie Ihren Neigungen, Ihrem Blute, Ihrer Natur folgen, und wäre es auf die schlimmsten Wege, zu Ihrem und Anderer größtem Schaden – geht da nicht Alles mit rechten Dingen zu? Irrthum, Schwachheit, Verkehrtheit – ich wiederhole es – sind sehr menschliche Uebel und führen nicht zu Gott. Aber hingerissen zu werden zu dem, was Ihrer Natur das Fremdeste, das Feindlichste ist, mit Angst und Grausen thun müssen, was Sie verabscheuen, dem Liebsten, was Sie haben, sich selbst, abtrünnig zu werden – sehen 200 Sie, mein Fräulein, das geschieht nur durch einen übermächtigen Zauber, den einzigen, der in dieser aufgeklärten Welt noch sein Wesen treibt, und den zu vernichten oder doch seine Folgen auszutilgen, Gott seine erlösende Gnade sendet: den Zauber der Sünde. – – Ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie so lange belästigt habe. Vielleicht habe ich noch öfter das Vergnügen, mich mit Ihnen über diese Mysterien zu unterhalten.

Er verneigte sich mit einem Blick und Lächeln, wie ein Thierbändiger, der eine Löwin gezähmt hat und sie nun in ihrem Käfich allein läßt. Sie stand sprachlos und machte keine Bewegung, ihn hinauszubegleiten. Die Arme hingen ihr schlaff herab, das Kinn war auf die Brust gesunken, ihre Augen geschlossen, wie wenn sie den trostlosesten Gedanken nachhinge.

Draußen im Flur stiegen eben, als Lorinser die Thür Christianens hinter sich zuzog, Mohr und Franzelius zusammen die schmale Treppe herauf.

Sie waren sich, von verschiedenen Seiten kommend, vor der Hausthür begegnet, und so unlieb Beiden dieses Zusammentreffen war – auch Mohr, der sein Lustspiel in der Tasche trug, wäre gern mit den Brüdern allein gewesen – so war doch Jeder zu unbeholfen oder zu stolz, um dem Andern zu weichen.

Sie hatten sich stumm gegrüßt und Mohr dem Buchdrucker den Vortritt gelassen. Wie sie jetzt mit dem Candidaten auf der Treppe zusammenstießen, trat Franzelius beiseit, wie Jemand, der an nichts Arges denkend plötzlich auf eine Kröte tritt. Er vergaß darüber sogar 201 sein gespanntes Verhältniß mit dem ewigen Spötter, und auf dem Treppenabsatz stehen bleibend und dem rasch Vorbeigleitenden nachblickend, sagte er mit dem Tone des heftigsten Abscheues:

Hast du dir diesen Menschen angesehen, Mohr?

Er kam aus der Wohnung des Fräuleins. »Furchtbare Gunst dem Knaben!« Wer ist es? Woher kennst du ihn, Gracchus?

Es ist derselbe tückische Gleißner, der neulich in unserm Arbeiterverein jene Rede gehalten hat. Schade, daß es mir zu spät einfiel, ich hätte mich bei ihm für die Denunciation bei der Polizei bedanken können.

Oder ihm behülflich sein, rascher die Treppe hinunterzukommen; diesen esprit de l'escalier scheint er gewittert zu haben! versuchte Mohr zu witzeln, setzte aber gleich mit finstrer Miene hinzu: Was hat der bleiche Schuft da drinnen zu suchen? Hat sie ihn nicht auch an der Thür abfertigen können, wie bessere Leute?

Eine Wanze drängt sich überall ein.

Hast Recht, Franzel! versetzte Mohr mit einem grimmigen Auflachen. Dann, die Unterlippe verziehend: Ihr Urewigen! murmelte er vor sich hin; ich hätte nicht geglaubt, daß ein Mensch so tief sinken könnte, eine Wanze zu beneiden! 202

 


 


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