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Die Lampe war noch nicht angezündet, auch warf der breite Rand ihres Strohhutes einen Schatten über ihr Gesicht. Dennoch fiel es den Dreien auf, ohne daß Einer sich's merken ließ, daß die Züge der jungen Frau sonderbar starr und leblos waren, wie das Gesicht eines Menschen, der arge Dinge ausgestanden hat und nun mit einer gewissen wilden Gleichgültigkeit auf das Aergste gefaßt ist.
Sie nickte dem Reginchen zu, bat mit ihrer gewöhnlichen Stimme, sich nicht stören zu lassen, und setzte sich, den Stuhl, den der Alte ihr an den Tisch trug, verschmähend, halb abgewandt in die Fensternische. Auf die Frage nach ihren Kopfschmerzen antwortete sie, die seien ganz vergangen. Sie habe geschlafen, dann gegessen, ihr sei nie wohler gewesen, als jetzt. Daher habe sie sich auch Papa Feyertag's Vorschlag noch einmal überlegt und beschlossen, darauf einzugehen.
Welchen Vorschlag? fragte Reginchen. – Der Alte selbst wäre in diesem Augenblick in Verlegenheit 248 gekommen, wenn er auf die Frage hätte antworten sollen. Aber Lea that es statt seiner.
Es ist wahr, sagte sie, die Worte hastig herausstoßend, was könnte ich Besseres thun? Mein Vater ist alt und reis't nicht mehr gern. Edwin – kommt vor Ende der Woche nicht zurück; – zu versäumen hab' ich hier Nichts – und wer weiß, wann ich wieder eine so gute Gelegenheit finde? Wie lange dauert's noch, bis der Zug abgeht? Noch eine ganze Stunde? Nun, so lange werdet ihr mich hier dulden müssen. Zu Hause – es ist lächerlich – ich glaube, wäre ich zu Hause geblieben, es wäre mir wieder leid geworden. Man ist so schwach – so unselbständig, wenn man ganz allein ist – und doch – es kann nichts Vernünftigeres geben, als diesen Plan. – Edwin selbst, wenn er da wäre – aber nein, dann wäre ich freilich nicht allein. Sie sagen Nichts, Herr Feyertag? Reut es Sie, daß Sie sich zu meinem Ritter erboten haben? Sie sollen gar keine Last von mir haben, rauchen und schlafen können, so viel Sie wollen – ich – ich gehe in ein Damencoupé – auch ich werde hoffentlich schlafen – nach so einem Migränetag pflege ich ohnehin zur Conversation nicht sehr brauchbar zu sein.
Wie können Sie glauben, Frauchen –! sagte der alte Mann. Dann schwiegen alle eine gute Weile. Man hörte nur das Klirren einer kleinen Scheere, die Lea von Reginchens Nähtisch genommen hatte und auf- und zumachte.
Eh ich es vergesse, warf Lea nachlässig hin, da es 249 immer möglich ist, daß Edwin dennoch einige Tage früher zurückkommt – hier habe ich ihm ein paar Zeilen geschrieben. Sollte inzwischen ein Brief von ihm ankommen, mit seiner Adresse von unterwegs – oder er selbst – jedenfalls thut ihr mir wohl den Gefallen, das Billet in seine Hände gelangen zu lassen.
Geben Sie es nur mir, liebe Lea, versetzte Reinhold, indem er aufstand. Papa, noch ein Glas Wein? Aber Sie essen ja gar nicht.
Es ist noch nicht meine Stunde. Und euer famoses Mittagessen – Na, so will ich denn auch nach meiner Bagage sehen. Ich brauche mein Kofferchen bloß noch zuzumachen.
Er erhob sich hastig – offenbar war ihm die ganze Sache nicht geheuer – und verließ das Zimmer.
Auch Reinhold war aufgestanden. Er hatte den kleinen Brief, den Lea ihm gegeben, zu sich gesteckt und sagte jetzt: Ich gehe natürlich mit auf die Bahn. Vorher will ich nur noch unten im Geschäft nachsehen, bin aber gleich wieder da.
Er wechselte mit seiner Frau einen kurzen, bedeutsamen Blick und ging hinaus.
Die beiden Frauen waren allein, Reginchen auf dem Sopha in der dunkeln Ecke, Lea am Fenster, mit dem Rücken gegen das Zimmer gekehrt.
Hast du mir gar nichts mehr aufzutragen, liebste Lea? fragte nach einer Weile die kleine Hausfrau.
Nichts, Ginchen. Was sollte ich auch haben? Kinder lass' ich ja nicht zurück, und seine Bücher brauchen 250 nicht gepflegt zu werden. Die Blumen begießt die Köchin. Aber du – an deine Mutter – horch! schlug es da nicht schon acht?
Sieben. Es ist noch eine volle Stunde. – Lea –
Was ist, Kind?
Hast du dir's auch recht überlegt?
Wie sonderbar du fragst! Was ist da groß zu überlegen? Eine Spazierfahrt – zu meinen Eltern – man schläft hier ein, und wenn man aufwacht, ist man zu Hause.
Zu Hause, Lea?
Es kam keine Antwort vom Fenster her. Wer das Gesicht, das hinausstarrte, auch nur von der Seite sah, hätte auch nicht erwartet, daß diese zusammengepreßten Lippen, die mit Gewalt ein Aufstöhnen zurückzudrängen schienen, sich zu einer verständlichen Rede öffnen würden.
Plötzlich umschlangen zwei Arme die regungslose Gestalt, und ein blonder Kopf in einem schlichten Häubchen neigte sich dicht an die marmorblasse Wange der stummen Freundin. Lea, flüsterte Reginchens Stimme dicht an ihrem Ohr, wenn du mich lieb hast, thu es nicht, geh nicht fort – es kann nicht das Rechte sein, oder sprich dich erst aus! – Was – um Gotteswillen – was hast du erlebt, – was ist dir begegnet, das dich so plötzlich forttreibt, als – als wärst du nicht hier »zu Hause«?
Sie bedeckte die Augen und Wangen des starren Gesichts mit den zärtlichsten Küssen. Im nächsten Augenblick hatte Lea sich sanft von ihr losgemacht.
Ich weiß nicht, was du willst, sagte sie kalt. Du 251 bist ein Kind mit deiner Sorge um mich. Was soll mir geschehen sein? Laß mich los, Närrchen. Ich weiß nur zu gut, was ich thue – daß es so das Beste ist – das Einzige, was jetzt, da ich ganz allein bin –
Sie haben Recht, liebe Lea, hörte man plötzlich Reinhold's Stimme, der wieder in das Zimmer zurückgekehrt war. Hören Sie nicht auf die unvernünftige Frau, die sich gar nicht denken kann, daß man auch nur einmal zum Vergnügen – sie meint zum Vergnügen erst recht nicht, – sich von Haus und Herd losreißen kann. Aber da wir gerade noch eine halbe Stunde Zeit haben – ich hätte etwas mit Ihnen zu besprechen – einen kleinen Auftrag für Berlin, mit dem ich dem Papa nicht lästig werden wollte.
Sehr gern, lieber Reinhold.
Ich muß Sie aber bitten, sich in mein Dachstübchen hinaufzubemühen – hier kann ich es Ihnen nicht sagen, theils – weil wir alle Augenblicke gestört werden können, theils – weil ich oben das aufbewahre, was dazu nöthig ist. – Zünde das Laternchen an, Kind! – Ich glaube gar, Sie waren noch nie droben unter unserm Dach – es ist freilich ein altes Rattennest, aber da ich sonst zum stillen Arbeiten, oder wenn ich etwas reif denken möchte, keinen Winkel im ganzen Hause habe, wo ich vor Kindern und Kegeln meines Lebens sicher bin, habe ich mir da so eine stille Kammer eingerichtet –
Das Reginchen hatte eine messingne Laterne aus dem Schrank genommen und das Licht darin angezündet. Als sie die jetzt ihrem Manne reichte, wagten die drei 252 Menschen, die sich so lieb hatten, zum ersten Male nicht, einander ins Gesicht zu sehen. Die kleine Frau schlug die Augen nieder, ohne eine Silbe zu sprechen. Lea war aufgestanden, noch immer im Hut und Reisemäntelchen, wie sie gekommen war, das treuherzige Gesicht Reinhold's schaute fremd und düster aus seinem schwarzen Haar- und Bartgestrüpp hervor.
Er nahm dem Reginchen schweigend die Laterne ab und ging voran, die schmale, vom Alter geschwärzte Treppe hinauf, die zu den Speicherräumen führte. Er sprach kein Wort mit Lea, die ihm dicht auf den Fersen folgte. Erst als sie einen beträchtlichen Theil des dunklen, mit Sparrenwerk überbauten Bodenraums durchschritten hatten und er nun den Schlüssel in einer niedrigen Kammerthür umdrehte, hielt er einen Augenblick inne und sagte: Ich führe Sie da in mein Allerheiligstes, liebe Lea.
Dann schloß er auf, trat mit dem Licht über die Schwelle und ließ sie gleichfalls eintreten.
Es war auf den ersten Blick eine Dachkammer, wie hundert andere, vielleicht nur etwas höher, dafür aber die Decke desto schiefer, als wollten die altersmüden Balken, die sie hielten, nicht mehr lange ihren Dienst thun. Wie Franzelius aber jetzt die Laterne auf den kleinen schwarzen Ofen setzte und noch ein Lämpchen anzündete, sah Lea, daß die Wände mit einer sauberen grauen Tapete beklebt und von den wenigen Möbeln aller Staub fern gehalten war. Hinten am Fenster war die ganze Breite der Kammer von Etwas ausgefüllt, das 253 sie nicht sogleich erkannte. Erst als der Lampenschein bis nach dem Fenster hin drang, sah sie, daß es nichts Anderes war, als eine Drechselbank, und wußte auf der Stelle, warum dieses plumpe Geräth in Reinhold's »Allerheiligstem« stand. Es schien ihm als Schreibtisch zu dienen; eine Mappe lag darauf, Bücher, ein Schreibzeug, Alles in sorgfältiger Ordnung. Rechts und links neben der einzigen tiefen Fensternische, so daß über Tag kaum ein Lichtstrahl hinfallen konnte, waren zwei breite geschnitzte Consolen an den Wänden befestigt. Die zur Linken trug die Maske des gefangenen Sklaven von Michelangelo, die andere etwas Verdecktes, Viereckiges, wie ein mit einem Tuch verhangenes Kästchen. Sonst Nichts in der Kammer, als ein schmales Büchergestell und zwei einfache Rohrsessel.
Wollen Sie sich nicht setzen, liebe Lea? fragte der Schweigsame, nachdem er die Lampe neben die Laterne auf den Ofen gestellt hatte. Er sah sie dabei nicht an; sie aber bemerkte wohl, daß die Hand zitterte, die das Lämpchen in die Höhe hob.
Ich danke, erwiederte sie; ich bin nicht müde. Lassen Sie nur hören, was Sie mir für einen Auftrag geben wollen.
Einen Auftrag? Ich habe keinen für Sie; verzeihen Sie mir, liebe Freundin, es war nur ein armseliger Vorwand; haben Sie's nicht gleich durchschaut? Und übrigens – wenn ich etwas in Berlin zu besorgen hätte – Ihnen könnt' ich es doch nicht auftragen – denn Sie werden ja selbst nicht hinreisen. 254
Warum wollen Sie es mir ausreden? Geben Sie sich keine Mühe. Ich hab' es einmal beschlossen; ich denke, ich weiß, was ich thue.
Sie setzte sich, trotz ihrer Weigerung, wie in Gedanken auf den Stuhl, den er ihr hingestellt hatte. Die Spitze ihres Sonnenschirms bohrte sie in ein Loch im Fußboden und schien einen Augenblick Alles um sich her zu vergessen.
Sie haben es beschlossen? sagte er mit sehr traurigem Gesicht. Sie sind freilich Herrin Ihres Willens. Aber dann muß ich Ihnen sagen, daß auch ich beschlossen habe, den Brief an Edwin nicht abzugeben.
Sie haben ihn gelesen? O Reinhold –!
Ein rascher, erzürnter Blick aus ihren Augen streifte die seinigen. Gleich darauf sah sie beschämt zu Boden.
Ich habe ihn nicht gelesen, sagte er ernst. Hier ist er; überzeugen Sie sich, daß das Siegel unversehrt ist. Aber es ist dennoch so gut, als ob ich ihn gelesen hätte.
Sie fuhr in die Höhe und machte eine Bewegung nach der Thür, blieb aber plötzlich auf halbem Wege stehen.
Gehen Sie nicht, bat er. Dazu ist immer noch Zeit genug, wenn Sie mich gehört haben. Sagen Sie aufrichtig: können Sie es mir zumuthen, wenn Edwin wiederkommt, ihm einen Brief zu geben, in welchem seine Frau ihm mittheilt, daß sie von ihm gegangen ist, weil sie nicht mehr an seiner Seite leben kann? 255
Das hätte ich gesagt? So hätt' ich's gesagt? Nun verlang' ich, daß Sie den Brief öffnen, Reinhold, daß Sie lesen, was ich ihm habe sagen wollen.
Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, liebe Freundin; aber ich will diesen Brief nicht lesen, den geschrieben zu haben Sie doch sehr bald sich selbst zum Vorwurf machen werden. Auch weiß ich ohnedies, was Sie etwa gesagt haben können, um, was Sie thun wollen, vor ihm – vor sich selbst zu beschönigen.
Beschönigen? Was ich thue – ist zu seinem Besten; was es mich kostet – das weiß Niemand!
Sie war auf den Stuhl zurückgesunken, die Stirn gegen die Lehne gedrückt; ein Krampf schien die schlanke Gestalt der unglücklichen jungen Frau zu durchzucken.
Warum wollen Sie mir nicht so viel Vertrauen schenken, wie er mir geschenkt hat? hörte sie ihn nach einer Weile fragen. Seine Freundschaft für mich ist freilich von älterem Datum, aber als Sie seine Frau wurden, war mir's, als hätt' ich auch Sie schon von klein auf wie meine Schwester lieb gehabt. Liebe Lea, er hat mir Alles gesagt, Alles, was er Ihnen gesagt hat. Und Sie meinen, es könne Ihnen ein so alter Freund nicht nachfühlen, wie viel diese schmerzliche Prüfung Ihnen zu schaffen macht?
Da sah sie ihm auf einmal voll ins Gesicht, ihre Züge waren von keiner Leidenschaft mehr verstört, aber ein so hoffnungsloser Gram lag auf dieser Stirn und diesen Lippen, daß er erschrak.
Er hätte Ihnen Alles gesagt? Ja wohl, Alles 256 was er wußte, von seinem eigenen Herzen. Von dem meinigen – was hätte er Ihnen von dem sagen können? Was weiß er von dem? Es ist freilich nicht seine Schuld. Ich habe mich immer geschämt, ihm Alles zu gestehen, wie ich ihn vergöttere, wie wahnsinnig ich ihn liebe. Es möchte ihm unheimlich dabei werden, dacht' ich, weil er selbst – nun, Sie wissen es ja, da Sie sein Freund sind – es klang so hübsch, was er damals von seiner »intellectualen Liebe« sagte, recht hübsch für einen Philosophen und auch für dessen Frau, wenn sie so viel Philosophie im Kopf gehabt hätte, wie er ihr zutraute, und nicht ein so unbändiges, fassungsloses Herz, das gar keine Vernunft annimmt. Wenn er merkt, dacht' ich, daß ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, heißes, alttestamentarisches Blut – vielleicht kommt er dahinter, daß er sich sehr verrechnet hat, als er mit einem solchen Wesen eine »Vernunftehe« schließen zu können glaubte, zum Trost für eine verlorene Liebe. Und dann dacht' ich auch: wer weiß, was noch wird. Vielleicht kommt der Tag, wo ich ihm Alles sagen darf, weil er selbst nicht mehr genug hat an einem bescheidenen Lebensglück, wo er etwas Stolzeres, Uebermüthigeres, Ueberschwänglicheres verlangt – und dann kann ich ihm sagen: du hast nicht weit zu suchen, die stillen Wasser sind tief; denn deine eigene Frau sollst du erst noch kennen lernen und hast so ahnungslos neben ihr hingelebt! Ich wollt' es ihm gerade jetzt sagen, wenn er wiederkäme – aus seinen Briefen schien mir's, als wäre die alte Flamme bis auf den letzten Funken 257 in ihm ausgebrannt, nun sehne er sich wieder nach neuer Leidenschaft. nach einer Glut, die ihm über Kopf und Herzen zusammenschlüge, und mich, mich selbst liebe er nun nach vier Jahren wie zum ersten Mal mit einer ganz neuen, sehnsüchtigen verliebten Liebe. Das ist mir schön bekommen! Aber es geschah mir auch Recht. Schwäche oder Verblendung, was es damals auch gewesen sein mag – es mußte sich bestrafen. Warum habe ich ihm nicht gleich gestanden, daß ich unglücklich werden müßte, wenn er mich nur so um meiner paar Eigenschaften willen zu seiner Frau wählte? Daß auch ich Alles oder Nichts haben müsse und schlechter zu einer Vernunftehe taugte, als manches ganz unvernünftige Ding? Nun hat mich mein Schicksal erreicht – und ihn das seine – und Sie wollen mit ein paar freundschaftlichen Vernunftgründen den Riß heilen, der wieder auseinandersprengt, was nie hätte zusammenkommen sollen?
Sie war aufgesprungen und ging aufgeregt durch die enge Kammer hin und her, während er still auf einer Ecke der Drechselbank saß und den Kopf auf die Brust gesenkt hatte.
Sie lästern, Lea! sagte er dumpf. Sie lästern sein Herz.
Sein Herz? entgegnete sie leidenschaftlich. Hat er denn ein Herz, das er sein nennen darf? O glauben Sie nicht, daß ich es ihm vorwerfe. Gestern vielleicht noch, gestern dacht' ich manchmal: soll das Alles wie weggeweht, wie ausgelöscht sein, was wir in diesen vier 258 Jahren Ernstes und Trauliches, Mühseliges und Holdseliges miteinander getheilt haben? War sein Herz nicht auch durch meines belebt und erwärmt und fühlte, daß es mit dem meinigen in allen großen und kleinen Lebensfragen denselben Schlag hatte? Sehen Sie, so dacht' ich noch gestern; heute – denk' ich nicht mehr so, sondern finde Alles ganz natürlich.
Heute? – Und was ist heute geschehen, das so plötzlich –
Sie trat dicht an ihn heran, doch ohne die Augen zu ihm aufzuschlagen. Mit halblauter Stimme flüsterte sie: Weil ich sie heute kennen gelernt habe!
Wie? also doch? die Dame im Schleier –
Sie hat ihn aufgesucht – und nur mich gefunden. Meinen Sie nicht auch, Reinhold, daß es unter diesen Umständen doch Zeit ist, die Frau entfernt sich, damit der Mann hübsch zu Hause bleiben kann, wenn so angenehmer Besuch kommt?
Lea! was reden Sie! Sie wissen nicht, wie Sie ihm Unrecht thun. Er – was wußte er von ihrem tollen Plan? Und wenn er davon gewußt hätte, wäre er dann nicht erst recht fortgegangen, um ihn zu vereiteln?
Ja wohl, nickte sie mit einem bitteren Ausdruck, geflohen wäre er vor seinem Schicksal, heute – und morgen noch – bis es ihn endlich doch eingeholt hätte. Nein, mein Freund, ich thue ihm gar nicht Unrecht; ich weiß, wie er leidet, und weiß jetzt auch, daß es keine Schande ist, wenn er unterliegt. Ich habe nie so eine Frau gesehen; werden Sie glauben, daß ich, die doch guten 259 Grund hätte, sie zu hassen, – mich nicht enthalten konnte, sie zu lieben – nicht bloß, sie reizend zu finden, reizender, als ich je Eine meines Geschlechts gefunden habe, nein, sie lieb zu haben, sie zu lieben! oder nein, ich will mir nicht zu viel thun: nur zu begreifen, daß man sich nothwendig in sie verlieben muß, – wenn man nicht so dringende Gründe hat, sie zu hassen.
Sie hat sich Ihnen zu erkennen gegeben?
Mit keiner Silbe. Aber sobald sie nur zur Thür hereintrat, noch ehe sie den Schleier zurückgeschlagen hatte, wußte ich: das ist sie! Sie warf einen raschen Blick durch das Zimmer, einen Blick, der ihn suchte. Wäre ich nicht von ihrer Erscheinung wie geblendet und verzaubert gewesen, so hätte ich ihr gleich gesagt: Er ist nicht hier, Frau Gräfin; Sie kommen umsonst. So aber schwieg ich und ließ ihr das erste Wort – und dann, wie ich ihre Stimme gehört hatte, war's zu spät. Sie fragte nach mir, sie mochte nach einem Vorwand suchen, dazubleiben, bis er zurückkäme, und ich bewunderte heimlich ihre Geistesgegenwart. Sie habe in Berlin bei einer Dame ihrer Bekanntschaft Einiges von meinen Malereien gesehen und so viel Gefallen daran gefunden, daß sie bei der Durchreise eigens hier in der Stadt angehalten habe, mich kennen zu lernen, um zu erfahren, ob sie hoffen dürfe, auch Etwas von mir zu besitzen, es sei ihr ganz gleich, was, – einen Fruchtteller, eine Vase, oder ein Blumenstück in Oel.
Zuerst zitterte ihr die Stimme, dann wurde sie ruhiger und schlug den Schleier zurück. O ich verstand 260 sie wohl. Sie überzeugte sich nun, daß sie von mir nichts zu fürchten habe, daß das unbedeutende Geschöpf ihr gegenüber keinen Anspruch machen könne, dem Manne, dem sie sich hingeben wolle, Ersatz zu bieten für alles tugendhaft verschmähte Glück. Und sie hatte Recht, das sagte ich mir auf der Stelle. Muß man, wenn man unglücklich ist, auch noch so albern sein, sich selbst zu belügen? Und gerade weil ich mich gleich verloren gab, fand ich die Ruhe und Klarheit, die ich sicher nicht bewahrt hätte, wenn noch Hoffnung oder Trotz in mir wach gewesen wäre. Ich antwortete ihr ganz unbefangen, ich zeigte ihr meine Mappen und sagte ihr, daß ich jetzt nur noch zu meinem Vergnügen male und meine Sachen an Freunde verschenke. – Dann habe ich freilich keine Hoffnung, etwas von Ihnen zu erwerben! sagte sie. Ich antwortete Nichts darauf. Ihr mit einer höflichen Redensart ins Gesicht lügen, daß es mir eine Freude sein würde, ihr etwas Freundliches zu erweisen –? Und sie erwartete es auch nicht. Sie saß still auf dem Sopha, und das Gespräch kam zwischen uns ins Stocken. Ihre Augen – was für einzig schöne Augen sie hat!– gingen langsam und wie mit abwesenden Gedanken im Zimmer herum. Da arbeitet Ihr Mann! sagte sie. Und Sie haben Ihren Platz drüben, dicht neben ihm, und es stört ihn nicht? – Sie seufzte unwillkürlich. Es schien ihr doch wohl einen Augenblick, als zerstöre sie da Etwas, was schön und gut und der Mühe werth gewesen war. Ich konnte sie genau betrachten, ich weiß jetzt nicht mehr, wie ich das Herz dazu hatte. Aber sie war 261 so reizend! Diese Augen, dacht' ich, das sind sie nun also, die dir dein Glück stehlen; dieser rothe, volle Mund – der hat ihn geküßt, der hat von seinen Lippen alle Kraft weggesogen, mit einem andern Weibe glücklich zu werden. Seltsam, wie ich so neben ihr saß, wünschte ich, ich läge hundert Klafter tief unter der Erde, und Edwin säße an meinem Platz. Dann nahm ich mir's in demselben Moment wieder übel, daß ich so unparteiisch, so furchtbar gerecht sein konnte, nicht mit eifersüchtigem Groll und Haß sie ansehen – wozu ich doch wahrlich ein gutes Recht hatte. Sie ist gekommen, um über dich zu triumphiren, rief es in mir. Dich überglänzen will sie, vor deinen Augen ihn an sich reißen, und nun sitzest du neben ihr, und Alles, was du fühlst, ist nur unsägliche Trauer! Mich selbst fing ich zu hassen an, daß ich diesem Zauber nicht besser widerstehen konnte! – Da brach sie plötzlich ein Gespräch vom Zaun über meinen Mann. Sie fragte nach ihm, wie eine ganz Unbekannte, die ihn nur flüchtig gesehen und dies und das, mehr über ihn, als von ihm, gelesen hätte. Ich weiß nicht, wie es kam – ich hätte zu stolz sein müssen, um von ihm zu reden, am wenigsten so wie ich es that, so wie man nur einer besten Freundin das Herz ausschüttet über einen Menschen, den man liebt. Aber ich dachte auch wohl, ich sei es mir selber schuldig, zu zeigen, ich wisse sehr wohl, was ich an ihm besessen habe und nun verlieren soll. Und so sprach ich, was mir auf die Zunge kam, und sie, immer still vor sich hin dazu nickend, sie sagte keine Silbe. Bis ich mich ganz heiß 262 gesprochen hatte und abbrach, mit einer banalen Entschuldigung. Und das Herz pochte mir zum Zerspringen. Der ganze ungeheure Schmerz, daß es so mit uns stand, bäumte sich plötzlich in mir auf, Gott weiß, was ich zu sagen im Begriff war, da stand sie auf, zog ihren Handschuh aus und reichte mir ihre Hand, die ich in der Verwirrung wirklich nahm. Ich danke Ihnen, sagte sie. Wie gern bliebe ich noch länger bei Ihnen, denn ich sehe, wir verstehen uns in vielen Dingen. Aber ich muß fort, ich werde sonst vermißt. – Leben Sie wohl, liebe Frau, seien Sie glücklich! Denken Sie manchmal –
Sie wollte noch etwas hinzusetzen, aber die Stimme schien ihr zu versagen. Auf einmal fühlte ich ihre Arme um mich geschlungen und mich dreimal lebhaft von ihren schönen Lippen geküßt, und eh' ich völlig wieder zur Besinnung kommen konnte, war sie aus dem Zimmer geeilt und ich mit meiner Scham und Bestürzung allein.
Nein! gerade weil sie besser ist, als ich sie geglaubt, gerade darum muß ich ihr Platz machen. Ich weiß es jetzt, ich hab' es an mir selbst erfahren: wer sie einmal gesehen, kann sie nicht wieder vergessen; wen sie einmal geküßt hat, der ist ihr Sklave. – Aber ihr Sklave zu sein, thut nicht weh, während andere Ketten – Nein, nein, er soll diese Last nicht tragen. Ich will beiseite gehen, die traurige, unwürdige Rolle nicht spielen, die so ein Drittes im Bunde zu spielen pflegt, ein Geduldetes, ein heimlich tausendmal Todtgewünschtes. Was ist es denn auch? Hab' ich es nicht vier Jahre gehabt, 263 was nun in die rechtmäßigen Hände zurückkommen soll? Bin ich denn die Erste oder werde die Letzte sein, in der ein guter, großer, herrlicher Mensch sich geirrt hat, daß sie sein Herz ausfüllen könnte, und der er nun seine Pflicht, bis an das Ende seines Lebens seine heldenmüthig entsagende Pflicht zu Füßen legen will? Pfui, wer ein solches Opfer annehmen kann! Ich nicht – ich nicht – bei dem Blute meiner Mutter, das in mir lebt – ich nicht!
Während der letzten Reden hatte sie sich der Thür genähert. Jetzt hob sie die Hand nach der Klinke und wollte nur noch sagen: Adieu! es ist Zeit – da war er plötzlich dicht neben ihr, legte seine Hand ruhig auf ihren Arm und sagte, sie fest anblickend:
Und Sie werden doch nicht gehen, Lea!
Nicht? Nach Allem, was Sie eben gehört haben?
Nein, Lea; auch jetzt nicht.
Sie machte sich mit einer raschen Geberde von ihm los und blitzte ihn mit ihren dunklen Augen an. – Ich verstehe Sie nicht, Reinhold, sagte sie. Mit welchem Recht –
Mit welchem Recht ich dazwischen trete, wenn Sie sich in einen Abgrund stürzen wollen und Edwin mit hinabziehen? Das fragen Sie noch, Lea? Darüber muß ich Ihnen noch Rede stehen, wie ein wildfremder Mensch? Nun wohl, so will ich Sie an das erinnern, was Sie vergessen haben, an Den erinnern, der mir das Recht giebt, Bruderstelle bei Ihnen und Edwin zu vertreten, weil ich es ihm gelobt habe, weil es sein Vermächtniß 264 an mich war, ein Vermächtniß, das ich heilig halte und erfüllen will bis an meinen letzten Athemzug. Wenn Sie der Lebende nicht überreden kann, Ihre Pflicht zu thun, einzusehen, was Ihre Pflicht ist – vielleicht gelingt es dem Todten!
Er war bei diesen Worten nach dem Fenster zurückgetreten und hatte rasch von der Console rechts die Decke abgenommen. Unter einem viereckigen Glassturz lag auf einem schwarzen Kissen die Todtenmaske Balder's, von dem Lampenschein so warm beleuchtet, daß die reinen Züge des schönen stillen Gesichts noch Leben zu athmen schienen.
Sie sank auf den Stuhl zurück und verstummte. In der ersten Bestürzung wagte sie die Augen nicht aufzuschlagen.
Fassen Sie sich nur ein Herz, ihn recht anzusehen, liebe Freundin, sagte Reinhold nach einer langen Pause; wenn Sie den ersten unheimlichen Eindruck überwunden haben, wird Ihnen diesem Gesicht gegenüber wohl und immer wohler werden. Finden Sie nicht auch, so von der Seite gesehen, die Aehnlichkeit? Nur wie Edwin's Schwester, möchte man sagen. So haben Sie ihn zuerst und zuletzt gesehen, diesen herrlichen Menschen – seine Stimme haben Sie nie gehört, sein Auge, sein Lächeln – dazu sind Sie zu spät gekommen. Aber glauben Sie mir: wenn er jetzt noch auf Erden wandelte – er hätte nicht so viel Worte gebraucht, wie ich; er hätte Sie nur angesehen, und es wäre Ihnen unmöglich erschienen, Edwin zu verlassen! 265
Sie sagte noch immer kein Wort, sie saß auf dem Stuhl mitten in der Kammer, beide Hände fest im Schooß gefaltet, die Augen, die ihr mehr und mehr übergingen, jetzt unverwandt auf die bleiche Maske geheftet. Ob sie hörte, was er sprach, wußte er nicht. Sein Herz aber war voll und floß noch eine Weile über.
Nein, meine Freundin, sagte er, es war eine Verirrung Ihres Gefühls, eine menschliche Schwäche, die Angesichts des Endes aller menschlichen Freuden und Leiden nicht bestehen kann. Wie? in dieser schwersten Prüfung seines Lebens haben Sie ihn allein lassen wollen? Können Sie sich im Ernst darüber täuschen, daß er dann erst unglücklich ist, wenn er Sie verliert? Wie eine Krankheit hat es ihn wieder befallen, aber hätte er sich sogleich in Ihre Pflege gegeben, wenn er selbst nicht fühlte, daß er nur genesen kann mit Hülfe und unter dem Schutz der alten, heiligen, ewigen Mächte inniger Liebe und Treue? Und nun soll er ein leeres Haus finden, einen kalten Herd, die einsame Nacht um ihn und die Schwelle, an der feindselige Gespenster sonst zurückschrecken, nicht mehr bewacht von den guten Hausgeistern? Und Die, die ihm das anthun möchte, will sich selbst und ihm vorspiegeln, sie bringe ein Opfer, ihm zu Liebe? Sich selbst zu Liebe, sollte sie sagen, ihrem Stolz, ihrem eifersüchtig leidenden, beleidigten Herzen zu Liebe, das den Gedanken nicht ertragen kann, diesen geliebten Menschen nicht Alles außer ihr vergessen zu machen.
Verzeihen Sie mir diese harte Rede, liebe Lea, bat 266 er, indem er zu ihr hintrat und ihre Hand zu ergreifen suchte. Wenn Sie nicht die Frau wären, die ich ihm so von Herzen gegönnt habe, ein so hochherziges, tapferes Weib, wie er ein Mann ist, – wenn Sie beide gewöhnliche Menschen wären – vielleicht hätten Sie Recht. Einer Frau gewöhnlichen Schlages dürfte man kaum abrathen, den Versuch zu machen, ob sie ihren Mann zu sich zurückführen möchte, wenn sie sich auf eine Zeit lang von ihm trennte. Aber Sie, liebe Lea, Sie dürfen keine kleinen Künste, kein empfindliches Schmollen und Zurückziehen zwischen sich und ihn treten lassen. Wenn er Ihnen weh gethan hat, hat er nicht am schwersten dabei gelitten? Wäre er jetzt wieder von Ihnen gegangen, wenn er nicht gefühlt hätte, wie es Ihnen qualvoll ist, seinen Zustand mit anzusehen? Er – das weiß ich – er fühlt, daß er nirgends rascher genesen könnte, als in Ihrer Nähe. Wenn Sie gehört hätten, wie er gegen mich davon sprach – o liebe Lea, kein Mensch hat je redlicher gegen dunkle Mächte gekämpft, die sein Leben verwirren wollten, und die natürliche Mitkämpferin, aus deren Nähe er neue Kraft schöpfen möchte – die wollte fahnenflüchtig werden?
Kommen Sie! Fassen Sie sich! Wenden Sie die Augen ab von diesem verklärten Bilde – es regt Sie zu sehr auf. O liebste Lea, Sie sind nicht die Erste, die von diesem Todten lernt, was wir dem Leben schuldig sind. Auf diesem nämlichen Stuhl habe ich in manchem bitteren Sturm und Drang gesessen, wenn ich mir nicht Raths wußte, und wenn es einmal kam, daß 267 wir Zwei uns nicht verstanden, mein gutes Weib und ich, sind wir ganz still hier heraufgegangen, erst ich, und dann nach einer Weile sie, und nicht lange, so waren wir darüber klar, was wir zu thun hatten. Sie wissen es ja selbst, liebe Freundin: nicht Alles im Leben geht so reinlich auf, wie ein Rechenexempel, daß man den Bruch, der etwa übrig bleibt, nur gerade daneben zu schreiben braucht. Dann müssen wir unsere Todten befragen, unsere Unsterblichen, und sie werden uns die Antwort nicht schuldig bleiben.
Er hatte jetzt ihre beiden Hände ergriffen und sah mit seinem liebevollsten Blick zu ihr hinab. Plötzlich erhob sie sich und stürzte an seinen Hals. Lieber – treuer – einziger Freund! – war Alles, was sie unter Schluchzen hervorbringen konnte. – –
Nach einer Weile wurde sacht an die Thür geklopft. Reginchens Stimme ließ sich draußen hören, die meldete, der Vater wolle fort und von Reinhold Abschied nehmen. Als es noch immer still blieb in der Dachkammer, öffnete die kleine Frau die Thür und trat schüchtern herein.
Reinhold machte sich sanft aus Lea's Armen los, die noch immer in heftiger Erschütterung sich an ihn lehnte. Nimm du sie nun in Pflege, sagte er zu Reginchen, wir behalten sie.
Ich habe es wohl gewußt, Reinhold, sagte die kleine Frau durch Thränen lächelnd: du sprichst nicht oft, aber wenn du es einmal thust, kannst du Berge versetzen. Hat er dir das Herz umgewendet, du Böse, da du von 268 meinen besten Worten dich nicht hast rühren lassen? Nun finde ich sie hier im zärtlichsten Einverständniß mit meinem eigenen Mann und muß auf meine alten Tage noch eifersüchtig werden auf meine einzige Freundin! –
Reinhold war längst aus dem Hause und mit dem Schwiegerpapa, der von der ganzen Sache nichts begriff, unterwegs nach dem Bahnhof, als die beiden Freundinnen sich noch in den Armen hielten, Lea auf Reginchens Schooß sitzend, die sie zuweilen mit einer fast mütterlichen Innigkeit an sich drückte. Sie sprachen nichts, sie lehnten sanft die Wangen an einander und blickten beide nach der Console hinauf, von wo das sanfte Gesicht des Todten in stiller, unschuldiger Hoheit auf sie herniedersah. 269