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Es ist also richtig! Rinaldo wieder in den alten Ketten! rief Edwin, als er in das Zimmer trat, wo Balder sich einsam am Fenster sonnte.
Er schien unbeschäftigt. Das Heft, in das er Verse geschrieben, hatte er rasch wieder verschlossen, als er Edwin's Schritt unten im Hofe hörte. Auf seinen Augen lag aber noch der Nachglanz seiner dichterischen Träume.
Du hast sie gefunden? sagte er. Und wie war sie gegen dich?
Ganz unverändert, nicht für, nicht gegen mich. O Kind, wenn du mir dies Problem lösen könntest, wie einem nach Trauben gelüsten kann, die nicht nur zu hoch hangen, sondern gar nur gemalt sind! Wenn es auf dem Monde menschenartige Wesen giebt, die in einem besonderen Aether athmen und einen ganz anderen Lebenssaft statt unseres Blutes in den Adern haben, mögen sie sich ungefähr so ausnehmen, wie dieses Mädchen. Es fehlt ihr etwas zum richtigen Weibe, und doch hat sie wieder Alles, was hundert Anderen fehlt, um so recht im vollen Sinne Frauenzimmer zu sein. 31 Es sprengt mir noch das Gehirn, mir darüber einen Vers zu machen.
Er warf sich in einen Stuhl vor dem gedeckten Tisch und stürzte ein Glas Wasser hinunter.
Und du wirst wieder, wie früher, täglich zu ihr gehen? fragte Balder mit trauriger Stimme.
So lang ich's aushalte. So lang es überhaupt dauert. Denn ich fürchte, sie wird sich selbst auf die Länge so unheimlich, daß sie einmal etwas ganz Tolles unternimmt. Ich habe ihr vorgeschlagen, sie in die Cur zu nehmen, ihr das Leben lieb zu machen, ein umgekehrter Mephisto: »ich muß sie nun vor allen Dingen in bessere Gesellschaft bringen.« Aber ich bilde mir nicht ein, daß es glückt, einen Lebenszweck für sie zu finden, einen Gedanken, der sie wirklich innerlich erwärmte, eine Arbeit, die ihr den Tag ausfüllte und von der sie Nachts träumen könnte. Ja wenn sie einen Kopf hätte, wie meine kleine Zaunprinzessin, die Lea! Aber das ist das Wundersame: sie ist gescheidt und ganz ohne Wißbegier; ohne Vorurtheile und eben so gleichgültig gegen Urtheile, ihre eigenen und die anderer Menschen; gutherzig, ohne Interesse am Menschlichen; heiter ohne vergnügt, hell ohne warm zu sein – und ich Aermster bin zur Strafe meiner Sünden dazu verurtheilt, an eine solche Spielart des Geschlechts so viel Herzblut zu verschwenden, als gelte es eine moralische Transfusion, wie man es jetzt mit der physischen versucht. Du sollst sehen, Kind: habe ich's endlich erreicht und die Mondlymphe in ihrem Herzen durch warmes irdisches Menschenblut ersetzt, so 32 kommt der erste beste Laffe und zieht seinen Vortheil daraus, und ich habe das Nachsehen. Uebrigens wirst du vielleicht klüger aus dem Räthsel, als ich, du mit deinen Hellseher-Augen.
Ich? wie sollte ich –?
Ich habe ihr versprochen, sie morgen zu einer Landpartie abzuholen und dich mitzubringen. Sie freut sich außerordentlich auf deine Bekanntschaft.
Du scherzest, Edwin.
Durchaus nicht. Ich möchte endlich wissen, was sie auf andere, unbefangene Menschen für einen Eindruck macht. Daß du dich nicht in sie verliebst, bin ich trotz meiner eigenen Narrheit überzeugt. Wenn du ihr gefährlich wirst, um so besser, so mag sie auch einmal erleben, wie es thut, und ich werde dann das Unvermeidliche mit Würde tragen. Im Ernst, Kind, ich möchte sehen, was sie »unter Brüdern« werth ist. Du darfst mir's um so weniger abschlagen, als Marquard der Meinung ist, eine Ausfahrt in dieser Luft würde dir sehr heilsam sein.
Eine Pause entstand. Balder sah still vor sich hin und schien nicht gleich mit seiner Antwort ins Reine kommen zu können.
Endlich sagte er: Du mußt mir's nicht übel nehmen, Edwin, aber ich kann nicht mitgehen; du weißt ja, es ist besser, wenn ich zu Hause bleibe.
Besser? Für wen?
Für Alle. Ich würde euch nur eine Last sein, wenn ich so mühsam überall mit herumhinkte – und 33 dann – ich bin so selten in Damengesellschaft gekommen. Ich würde entweder sehr stumm sein, oder etwas Ungeschicktes sagen, was dich in Verlegenheit brächte.
Edwin war aufgestanden und vor ihn hingetreten. Kannst du mir gerade in die Augen sehen, du verschlagener Heuchler? rief er. Als ob du je etwas Ungeschicktes sagen oder thun könntest! Ich weiß genau, warum du nicht willst: du denkst, ich nähme dich nur aus brüderlicher Lieb' und Höflichkeit mit, und eigentlich wäre mir weit mehr damit gedient, mit meinem kalten Schätzchen unter vier Augen zu sein. Aber diesmal, theurer Herzenskündiger, hast du sehr falsch gesehen. Ich versichere dir bei Allem, was einem Privatdocenten heilig ist: mir geschieht ein Gefallen, wenn du mit von der Partie bist. Ich bin ohnedies mit meinem Latein zu Ende und fürchte, unter vier Augen kommt sie dahinter und giebt ihrem hofmeisternden Courmacher in allem Ernst den Abschied.
Er wußte, welchen Trumpf er damit ausspielte, wenn er es als ein Opfer darstellte, das Balder ihm bringen sollte. Dieser blieb aber wider Erwarten fest auf seiner Weigerung, und da er seine kaum genesene Brust vorschützte, mußte Edwin endlich ablassen, in ihn zu dringen.
Von dem eigentlichen Grunde: daß er den Tag ersehnte, wo er einmal ganz ungestört seinem Liebestraum nachhängen und auch das Reginchen unter vier Augen sehen könnte, gestand er Edwin freilich nichts, vielleicht nicht einmal sich selbst. – 34
Der andere Morgen brach ganz so klar und herbstgoldig an, wie man es zu einer sonntäglichen Fahrt nur wünschen konnte. Punkt zehn Uhr trat Edwin in Toinettens Zimmer.
Sie kam ihm mit unverstellter Herzlichkeit entgegen, in einem so einfachen Anzuge, wie er sie noch nicht gesehen hatte, und lachte, da sie seine verwunderte Miene bemerkte. Ist es so recht? sagte sie. Sehen Sie, in diesem Kostüm ging Herzogin Toinette in ihrer Vaterstadt herum, als sie noch keinen Hofphilosophen, keinen Hofzwerg und gar nichts Hoffährtiges hatte. Ich hoffe, Sie sind nicht Höfling oder gar geschmacklos genug, dieses spießbürgerliche Fähnchen hübsch zu finden. Selbst meine Wirthin, die mich sonst gern recht bescheiden haben möchte, war entsetzt, daß ich so mit meinem Cousin – denn das sind Sie nun einmal – über Land fahren wollte. Aber ich habe mir vorgenommen, Sie ebenso zu curiren, wie Sie es mit mir vorhaben. Sie sollen bekennen, daß das Schöne schön und das Garstige garstig ist, und daß man aus der Noth zwar eine Tugend machen kann oder allenfalls einen Spaß, aber nimmermehr ein Glück oder eine Freude.
Ich fürchte, lachte er, Ihre Cur mißlingt Ihnen. Sie könnten sich in ein Schildkrötengehäuse stecken und würden mir dennoch gefallen, wenn nur Kopf und Hände herausguckten.
Also doch ein unverbesserlicher Hofmann! sagte sie, ihm mit ihrem weißen Fingerchen drohend. Aber wo haben Sie denn Ihren Bruder gelassen? 35
Er erzählte ihr, wie er sich umsonst bemüht, ihn zum Mitkommen zu bewegen.
Sie haben mich ihm wahrscheinlich recht abscheulich geschildert, versetzte sie nachdenklich, recht nach dem Leben, wie ich Ihnen vorkomme, als ein herz- und kopfloses, putzsüchtiges Ding. Nun, vielleicht bekommt er noch eine bessere Meinung von mir, wenn er mich mit seinen Augen sieht; denn kennen lernen muß ich ihn, das steht fest. Aber nun kommen Sie. Ich freue mich kindisch auf die Fahrt. Wir wollen den Wagen nicht warten lassen.
Den Wagen? Bürgerliche Landpartieen fahren erst vom Thore ab, in einem Kremser. Bis dahin müssen Sie sich auf Ihren durchlauchtigen Füßchen fortbewegen.
Auch gut. Sie sollen nicht über mich zu klagen haben.
Sie band die Schleifen eines alten, etwas abgetragenen Sammethütchens, das aber ihr junges Gesicht sehr kleidsam umrahmte, unter dem Kinn zu und rief ihrem Jean, ihr das Mäntelchen zu bringen. Der Kleine kam und begrüßte Edwin mit derselben gravitätischen Steifheit, wie sonst. Er war in gewöhnlichem schwarzem Anzug, nur die hohen Vatermörder erinnerten an die Livree. Als das Fräulein ihm sagte, daß er bis Abends sechs Uhr frei habe und zu seinen Eltern gehen dürfe, verzog sich der offene Mund zu einem fröhlichen Grinsen, legte sich aber gleich wieder in die ernsthaften Respectfalten.
Dann gingen sie, und sie hing sich leicht an seinen Arm. Die Straßen waren voll sonntäglich geputzter Menschen, elegante Equipagen rollten an ihnen vorbei. die Luft war still und blau, und als sie über die Brücke 36 kamen, blitzten alle Fenster des alten Schlosses in der Herbstsonne.
Bei einer Hökerin, die in einer Obstbude saß, stand sie still.
Es ist unschicklich, auf der Straße zu essen, flüsterte sie Edwin zu. Aber gerade darum müssen Sie mir einen von den schönen Aepfeln kaufen. Ich komme mir vor wie auf einer Maskerade. Warum soll man sich nicht seine Maskenfreiheit zu Nutze machen? Oder muß man Hunger leiden bei bürgerlichen Landpartieen?
Behüte! sagte er. Das Essen ist dabei die Hauptsache. Und was die Schicklichkeit betrifft – Sie sehen, ich habe auch heute keine Handschuhe.
Aber leider einen schrecklich philiströsen Hut. Wenn heute nicht die Läden geschlossen wären, müßten Sie mir den Gefallen thun, sich gleich einen neuen zu kaufen. Sie haben mir früher viel besser gefallen; aber nun hilft es nichts. Wir beide müssen als Vogelscheuchen unter all den hübschen Sonntagstoiletten einhergehen.
So werden die Vögel wenigstens von diesen Weintrauben wegbleiben, erwiederte er lachend, indem er ihr eine große Düte voll überreichte. Die Aepfel will ich in meine Tasche stecken. Himmel! da sind noch die Apfelsinen, die ich gestern Balder mitbringen wollte. Was fangen wir jetzt mit all dem Gottessegen an? Zum Glück kommt hier eine Droschke. Wir wollen es uns nun doch zu unserem Frühstück bequemer machen.
Er winkte die Droschke heran und hob seine Begleiterin hinein. Wie er eben im Begriff war, 37 nachzusteigen, sah er Lea mit ihrem Vater daherkommen. Der alte Herr hatte sein heiteres Gesicht behalten, die Tochter schien etwas bleicher, aber zum ersten Mal überraschte ihn der dunkle Glanz ihrer großen Augen und die Anmuth ihres Ganges. Auch sie hatten ihn erkannt, das Mädchen mit einem raschen Erröthen, der Vater, nach einer unwillkürlichen Bewegung, als ob er auf ihn zueilen wollte, sich wieder zurückhaltend. Er zog den Hut, und Edwin grüßte die Beiden mit unbefangener Freundlichkeit. Dann nahm sie der Strom der Fußgänger mit fort, während Edwin in die Droschke stieg und dem Kutscher zurief: Nach Charlottenburg!
Wer war das schöne Mädchen, das Sie gegrüßt haben? sagte Toinette, sich noch einmal umwendend.
Eine ehemalige Schülerin. Finden Sie sie schön? Ich gestehe, sie ist mir selbst heute aufgefallen. So lange ich sie noch unterrichtete – bis vor drei Wochen – fand ich an ihrem Gesicht nichts Besonderes, als daß sie sehr kluge, ernsthafte Augen hat.
Toinette erwiederte nichts und schien in Gedanken verloren. Nach einer Weile erst sagte sie: Und worin haben Sie ihr Unterricht gegeben?
Wenn Sie es nicht weitersagen wollen, um dem Ruf des guten Kindes nicht zu schaden: in Philosophie. Freilich, lange hat es nicht gedauert.
In Philosophie? Ist das auch für unsereins? Ich dachte, es wäre nur für Männer.
So denken auch die meisten Männer, und darum würde meine kleine Philosophin schwerlich einen Mann 38 bekommen, wenn es herumkäme, daß sie bei mir in die Schule gegangen.
Diese Gefahr würde mich, wie Sie mich kennen, wahrhaftig nicht abschrecken, wenn Sie mich zur Schülerin haben wollten. Aber ich fürchte, ich mache Ihnen Schande. Ich habe zu wenig gelernt und zu viele Romane gelesen.
Romane sind nicht die schlechtesten Vorstudien für die Weltweisheit. Glauben Sie nicht, daß der Père Goriot mehr zu denken giebt, als manches Compendium, das in höheren Töchterschulen gerade darum eingeführt ist, weil von dem, was Leben heißt, auch nicht eine Silbe darin geschrieben steht?
Es kommt darauf an, wer ihn lies't. Zwar auch ich habe mir Manches dabei gedacht. Es war aber so traurig, daß es die rechte Philosophie nicht gewesen sein kann, wenigstens nicht die Ihre; denn ich sehe Sie immer heiter. Ihrer Weisheit muß die Welt also anders vorkommen, als meinen dummen Gedanken.
Wohl möglich, sagte er lächelnd. Aber das müssen wir erst constatiren. Sie müssen mir Ihre Gedanken sagen, und ich sage Ihnen meine. Hernach sehen wir, gegen welche sich am wenigsten einwenden läßt.
Und weiter hätte es Nichts auf sich mit der Philosophie? Weiter haben Sie auch in den Stunden mit jenem Fräulein nichts vorgenommen?
O nein, mit der habe ich beim A-be-ce angefangen. Ich habe ihr erzählt, wie sich von den ältesten Zeiten an nachdenkliche Menschen den Zusammenhang der Welt 39 vorgestellt und was für seltsame Träume über Entstehen und Vergehen, Seele und Leib, Götter und Geister sie sich haben träumen lassen. Ich wette, wenn Sie zugehört hätten, Sie hätten sich nicht gelangweilt; denn auch Sie haben einen Hang zur Melancholie, und mit dem Philosophiren ist's wie mit der Laterna magica: nur auf einem dunklen Hintergrunde erscheinen die reinen Umrisse des Weltbildes, das sie hervorzaubert. Dann aber kommt die wahre Helle und das Licht, das heiter und still macht, während der gewöhnliche Alltagssonnenschein eben nur wie der gemeine Menschenverstand zum alltäglichen, zerstreuten, rastlosen Hindämmern ausreicht.
Sie schwieg und sah mit einem lieblich tiefsinnigen Ausdruck vor sich hin.
Nach einer Weile sagte sie: Und man kommt dabei bis an irgend ein Ziel? Man weiß hernach, wenn man sich so recht durch Alles durchgedacht hat, etwas Gewisses, was einem nicht wieder in Frage kommt?
Ja und nein. Es kommt darauf an, was man zu wissen verlangt, ob es nicht Geheimnisse sind, von denen unser kleines Gehirn ewig nur eine ferne Ahnung haben wird, obwohl gewisse Philosophieen, die ihre Hirngespinnste für Offenbarungen allwissender Wahrheit halten, auch darüber Bescheid zu geben wagen. Aber ist nicht schon das ein Gewinn, daß wir erfahren, wie viel wir überhaupt zu wissen fähig sind, und wo die ewig dunklen Abgründe liegen? Und der Weg an diesen entlang – können Sie sich nicht vorstellen, daß er so erquickend und genußreich wäre, wie eine Wanderung im Hochgebirge, 40 an Gletschern und Eisfeldern, Felsschluchten und Gießbächen vorbei, die uns unnahbar bleiben?
Ja wohl, nickte sie, wenn man gut zu Fuß ist und nicht am Schwindel leidet.
Die Kräfte wachsen unterwegs, wenn einer nicht von Hause aus ein Krüppel ist. Und dann, außer dem Vergnügen, sich umzusehen, die Welt kennen zu lernen und einen freien Athemzug zu thun – wissen Sie, was noch dabei herauskommt?
Sie sah ihn fragend an.
Das nämlich, daß man so viel unnützen und beschwerlichen Kram, mit dem man sich unten im flachen, gedankenlosen Dasein schleppt, von sich wirft, um nur hinaufzukommen, und wenn man oben ist, dem Himmel und seinen Sternen um so viel näher, all jenen Plunder gern entbehren und verachten lernt. Es ist eine feine Luft da oben, und das Irdische schrumpft, so aus der Höhe gesehen, unglaublich zusammen, daß man, wenn man wieder herunterkommt, sein Nächstes und seine Nächsten mit ganz andern Augen betrachtet.
Wobei sie schwerlich gewinnen werden. Und dann wäre man unglücklicher als vorher.
Nein, sagte er mit einem stillfrohen Ausdruck und dachte an Balder und ihre Jugendjahre und all das armuthselige Leben in ihrer kahlen Tonne: das Echte und Gute, so gering es von den Thoren geachtet werden mag, erscheint dann erst recht in seiner vollen Schönheit und all jenem Großen verwandt, das man hoch über der Alltagsebene erlebt und erfahren hat. Sie 41 sollten nur einmal den Versuch machen, ich glaube, Sie würden ihn nicht bereuen. Uebrigens, fügte er lächelnd hinzu, stehn Ihnen mein Bergstock und meine Steigeisen immer zu Dienst.
Sie sah ihm ernsthaft ins Gesicht. Sie denken, ich merkte nicht, worauf Sie hinauswollen, sagte sie. Sie wollen mir das abdisputiren oder verleiden, was Sie meine Eitelkeiten nennen, und was eigentlich doch eben so zu mir gehört, wie mein braunes Haar, meine weißen Zähne und meine schwarzen Augen. Gut, wir wollen die Probe machen. Fangen Sie nur gleich an mit der Lection; natürlich müssen Sie mir erst Ihre Gedanken sagen, dann bekommen Sie die meinen zu hören. Also: im Anfang schuf Gott Himmel und Erde –
Er lachte und nahm aus der Düte, die gegenüber auf dem Wagensitz lag, eine Traube heraus. Wo denken Sie hin! scherzte er. Heut ist Sonntag, und wir machen eine Landpartie. Was würden Sie von einem Banquier sagen, der eine Dame nach Charlottenburg begleitete und sie unterwegs von Fonds und Actien unterhielte? Morgen, wenn Sie dann noch Lust dazu haben, will ich Ihnen Colleg lesen, so viel Sie wünschen. Bei Ihnen wenigstens laufe ich nicht Gefahr, wie bei meiner anderen Schülerin, von einem altgläubigen Vater und einer theologischen Tante wegen gefährlicher Tendenzen verabschiedet zu werden. Und Sie zu langweilen, fürchte ich auch nicht. Denn erstens bilde ich mir ein, kein Roman könne so spannend sein, wie die Lebensgeschichte der Wahrheit, und zweitens kennen Sie ja meine Schwäche, 42 daß ich Sie nicht lange ansehen kann, ohne dummes Zeug zu schwatzen.
Sie drohte ihm wieder mit dem Finger. Lassen Sie mich nicht bereuen, sagte sie, daß ich nicht als Gardedame den kleinen Jean mitgenommen habe, weil ich Sie für einen Ritter ohne Furcht, aber auch ohne Tadel hielt. Und nun wollen wir frühstücken.
Die Droschke fuhr indessen in jenem beschaulichen Trabe, der die Berliner Droschkenpferde vor allen anderen ihres Geschlechts und Berufes auszeichnet, auf der breiten Chaussee dahin, auf welche die Bäume des Thiergartens in den letzten Wochen all ihr Herbstlaub gestreut hatten. Es war trotz des schönen Sonntagswetters noch menschenleer auf den Fußpfaden zu beiden Seiten, denn der eigentliche Strom der Vergnüglinge ergießt sich erst Nachmittags aus den Thoren der Stadt. Nur einzelne Pärchen überholten sie, die so eifrig mit sich selbst beschäftigt waren, daß sie die Zwei, die Trauben essend vorbeifuhren, nicht beachteten. Dann und wann kam ein Wagen ihnen nach und saus'te an ihrem phlegmatischen Droschkengaul vornehm vorbei. So oft dies geschah, sah Edwin, daß Toinette eine ungeduldige Bewegung machte und sich fester in ihr Mäntelchen wickelte. Es war eine gelinde, ganz windstille Herbstluft; aber ihr herzogliches Blut schien bei dem schläfrigen Tempo einfrieren zu wollen. Er lachte und sagte:
Ich merke wohl, das Fahren auf der goldenen Mittelstraße macht Sie ungeduldig bei Ihren 43 vierspännigen Gewohnheiten. Wollen wir unsere Equipage abdanken und uns auf unsere eigenen Füße stellen?
Sofort war sie damit einverstanden, rief dem Kutscher, zu halten, und sprang leicht wie eine Feder hinaus, ohne seine Hülfe abzuwarten. Sie nahm auch nicht seinen Arm, sondern ging rasch neben ihm her, die Düte noch in der Hand haltend, aus der sie die letzten Beeren naschte.
Warum darf ich Sie nicht führen? fragte er.
Sehen Sie doch nur die anderen Pärchen an, erwiederte sie muthwillig. Giebt es etwas Geschmackloseres, als die sentimentale Gewohnheit, miteinander Schritt zu halten? Entweder muß der Herr so kleine trippelnde Schrittchen machen, wie die Dame, oder sie bequemt sich, so mächtig auszuschreiten, wie er, was noch viel häßlicher ist. Und das Alles, weil sie sich lieben! Wir zwei haben nicht einmal die Entschuldigung, also gehe Jeder, wie es ihm bequem ist. Daß ich Ihnen nicht abhanden komme, dafür ist gesorgt. Denken Sie, ich habe nicht einen Groschen Geld bei mir. Wenn ich Ihnen davonliefe, müßte ich verhungern.
Er lachte und sagte, das sei nicht die gewöhnliche Todesart der Herzoginnen, zumal mit so schwarzen Augen; worauf sie erwiederte, ihr Herzogthum hinge zu Hause im Schrank; wenn sie es verkaufte, würde sie kaum vierzehn Tage davon leben können, und auch dann nicht standesgemäß. Mit so harmlosen Späßen unterhielten sie sich, während sie weitergingen; sie war so lustig, wie er sie noch nie gesehen, er nach der langen Entbehrung 44 in beständigem Glück darüber, daß er neben ihr gehen und sie alle Augenblicke betrachten durfte. Es sah gar zu hübsch aus, wie sie die Weintrauben aß und, als die Düte leer war, mit den kleinen weißen Zähnen in einen Apfel einbiß. Dabei hatte sie die Handschuhe ausgezogen und den Hut aufgebunden, und die Sonnenblitze durch die kahlen Zweige spielten über ihr reizendes Gesicht.
An den ersten Häusern des langhingestreckten Landhäuserdorfs blieb sie stehen, um ein wenig Toilette zu machen. Es war aber auch hier noch menschenleer, die meisten Villen wegen des frühen Herbstes schon verlassen, in den Gärten der Vergnügungsörter, dem türkischen Zelt und anderen, standen Tische und Bänke noch schief gegeneinander gelehnt, wie sie die Regenzeit überdauert hatten, und die gelben Blätter waren nicht beiseite gekehrt. Aber all die Oede und Ungastlichkeit konnte die lustige Laune unseres Paars nicht niederdrücken. Sie – und insbesondere er – waren froh, auch den schönen Schloßgarten noch ganz für sich allein zu haben.
Es ist eigen, sagte sie, als sie durch die schweigsamen Alleen gingen und endlich an dem berühmten Karpfenteich still standen, wo heute die breiten, bemoos'ten Fischköpfe kaum einmal unter der dicken gelben Blätterdecke zum Vorschein kamen – mir ist immer am wohlsten und lebenslustigsten, wenn es ringsum recht grau und schauerlich aussieht. Wenn in meinem Geburtsnest etwas los war, ein Ball oder ein Vogelschießen oder irgend eine 45 Festivität, bin ich mitten unter den vergnügten, kuchenessenden Menschen zum Sterben traurig geworden. Und in unserm Schloßpark, der fast so alt und ehrwürdig, wie dieser, ist und viele Stellen hat, wo es nicht geheuer sein soll, hab' ich halbe Tage, schon als ganz kleiner Wildfang, mich herumtreiben können, und mir war wie zu Hause. Sehen Sie nun, daß ich mir aus dem Hofstaat nichts mache, daß es gar keine Gefallsucht ist, wenn ich lieber in Sammet gehe, als in Kattun? Hier zum Beispiel, auch ohne Sie, finde ich mich für diese königlichen Alleen zu mesquin und armselig angethan. Sie lächeln. Sagen Sie, was Sie wollen, es mag eitel und thöricht und gemüthlos sein, es ist mir aber natürlich, und ich kann mir nicht helfen, ich werde es mit ins Grab nehmen.
Indessen waren sie an das Mausoleum Friedrich Wilhelm's III. und seiner schönen Königin gekommen. Der Invalide, der es hütete, schlief auf einer Bank und war über den frühen Besuch verwundert, aber da Edwin ihm im Voraus ein ansehnliches Trinkgeld gab, schloß er die stille Todtenhalle ohne Widerrede auf. Edwin betrat sie nicht zum ersten Male; aber die magische Feierlichkeit des helldunklen Raumes hatte ihn nie so tief gerührt, da er bei früheren Besuchen mit einem Schwarm fremder Menschen eingelassen worden war. Nun floß das Licht durch die blaue Kuppel und über die stillen Marmorbilder und das junge lebenathmende Gesicht an seiner Seite, das dem Zauber des Orts nicht widerstehen konnte und stumm, mit einer seltsam gespannten Miene, als sollte sich noch etwas besonders 46 Feierliches ereignen, lange Zeit das verklärte Bild der schlafenden königlichen Frau betrachtete.
Edwin näherte sich ihr endlich und flüsterte ihr zu, ob sie nicht gehen wollten. Sie überhörte es und blieb noch in der Verzauberung, bis der Thürhüter mit seinem Schlüssel klirrte und an den Aufbruch mahnte. Dann ergriff sie, als sehne sie sich nach einer freundlichen Hand, die sie aus Todtengefilden ins Leben zurückführte, Edwin's Arm und ging auch unterm Sonnenschein des Parkes noch eine Weile stumm und in sich versunken neben ihm.
Auch er schwieg lange, obwohl sein Herz brannte. Nie war sie ihm so liebenswerth, so hoch über allen andern Weibern, die er je gekannt, erschienen, als während ihrer stillen Andacht in der blauen Dämmerung. Er mußte sich Gewalt anthun, um überhaupt wieder zu reden, von Anderem, als seiner Leidenschaft.
Ich danke Ihnen, sagte er, daß Ihnen diese Todtenfeier auch so zu Herzen gegangen ist. Mich wenigstens hat kaum eine andere Stätte, die von Kunst und Erinnerung geweiht ist, so tief gerührt. Und freilich ist es auch das Geschick dieser beiden Menschen, was dabei im Stillen mitwirkt, der Gedanke an so viel Würde im Unglück, so viel bescheidene Menschlichkeit auf dem Thron, so viel Leidenschaft in der schlichtesten Form. Sie waren beide nicht geistreich noch tiefgebildet. Aber ihr angeborener Adel gab ihnen in den entscheidenden Momenten das entscheidende Wort und die rechte That ins Herz, und gerade ein ganz bürgerliches Pflichtgefühl ließ sie 47 auf der hohen Stelle, wo sie standen, immer echt fürstlich und vornehm erscheinen. Und dann – ist es nicht rührend, wie dieser prosaisch angelegte, nüchterne, fast linkische Monarch sich mit einer idealen Andacht, die den Tod überdauert, an die schöne Frau hingiebt, und während er Kasernen baut und im prunklosesten Palast seiner Residenz ohne Glanz und Aufwand lebt, immer darauf sinnt, dieses Todtenhaus hier draußen von dem größten Meister noch reicher schmücken zu lassen, weil es das Herz seines Weibes und damit die Poesie seines ganzen Lebens umschließt? Zuletzt hat er sein eigenes Bildniß neben das ihre stellen lassen, steif und schlicht in einen Soldatenmantel gehüllt, den er lieber als den Purpurmantel getragen, um so noch im Tode sich selbst und ihr treu zu bleiben. Ist nicht auch Größe in so viel Demuth und mehr wahre Fürstlichkeit in dieser unscheinbaren Gestalt, als in allem prahlerischen Kaiserprunk seines großen Besiegers?
Sie antwortete nicht sogleich. Erst als sie sich dem Ausgang des Parks näherten, sagte sie, indem sie zugleich ihren Arm leicht wieder aus dem seinigen zog, um ihre Handschuhe anzuziehen: Sie haben ganz Recht. Es giebt nur Eine wahre Vornehmheit: sich selber treu zu bleiben. Gemeine Menschen kehren sich an das, was die Leute sagen, und bitten Andere um Auskunft darüber, wie sie selbst eigentlich sein sollen. Wer Adel in sich hat, lebt und stirbt von seinen eigenen Gnaden und ist also souverän. Alles Andere sind armselige Quälereien, die böse, 48 alltägliche Menschen, denen in ihrer Haut nicht wohl ist, erfunden haben, um auch ihren gutmüthigen Nebenmenschen das Leben möglichst sauer zu machen. Wer sich's gefallen läßt, dem geschieht Recht. Man kann steinalt dabei werden und hat eigentlich nie gelebt. 49