Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Er zündete rasch eine Kerze an, nahm aus seiner Wandertasche eine kleine Schreibmappe und warf ein paar Zeilen aufs Papier, um Mohr zu benachrichtigen, wo er zu finden wäre, für den Fall, daß der Freund es nicht vorzöge, seine hoffentlich baldige Rückkehr hier im Gasthof abzuwarten. Das Beste wäre, schloß er, du kämest gleich nach und holtest mich aus dem Schlosse ab, wo mich sonst vielleicht Freundschaftspflichten und vergebliche Hoffnung, etwas zu nützen, länger festhalten, als mir lieb sein kann.
Eben hatte er das Billet gefaltet, um es unten im Hause zurückzulassen, und betrachtete den Brief an Lea, unschlüssig, ob er ihn noch einmal öffnen und eine Nachschrift hinzufügen sollte, als er Schritte auf der Treppe hörte und gleich darauf Marquard mit dem Grafen eintreten sah.
Seine erste Empfindung war die Ueberraschung, genau dasselbe Gesicht sich jetzt gegenüber zu sehen, das er sich vorgestellt hatte, so oft er an seinen Rivalen dachte: diese nüchterne Regelmäßigkeit der Züge, die 51 vornehme Haltung des Kopfes, das Haar schon dünn und grau angeflogen, während ein wohlgepflegter dichter Bart sich um Kinn und Wangen zog, die ganze Erscheinung den Sprößling alten Geschlechts und den Erben großer Güter ankündigend. Der volle Lichtschein aber, der das Gesicht von unten beleuchtete, ließ ihn auch die Spuren eines heimlichen Leidens erkennen, das die schlaffen Augenlider drückte und den Mund seltsam zusammenpreßte. Die peinliche Spannung, mit der Edwin den lange Gemiedenen erwartet hatte, wich im Augenblick von ihm. Es kostete ihn keine Ueberwindung, die Hand, die der alte Gegner ihm ohne alle Förmlichkeit entgegenstreckte, zu ergreifen und ihren Druck ohne Groll zu erwiedern.
Wir beide wissen genug von einander, um gleich bei dem ersten Zusammentreffen uns wie alte Bekannte zu begrüßen, sagte der Graf. Unser Freund, der Herr Medicinalrath, hat Sie in die traurigen Umstände eingeweiht, die mich bewogen haben, seinen Rath zu erbitten. Leider hat er mir meine Ahnung bestätigen müssen, daß seine Wissenschaft keine Mittel hat, diesem hartnäckigen Uebel beizukommen. In solchen Fällen pflegt man zu allerlei Sympathieen seine Zuflucht zu nehmen, und ich gestehe, ich bin nicht frei genug von Aberglauben, um nicht, wenn es sein müßte, einen alten Schäfer oder ein Kräuterweib zu consultiren. Ehe es aber zu diesem Aeußersten kommt, möcht' ich es noch mit einer besseren Sympathie versuchen. Ich weiß, Sie haben der Gräfin nahe gestanden, ehe sie meine Frau wurde. Sie hat mir damals gesagt, daß sie für keinen Mann mehr Achtung, ja Verehrung 52 fühle, als für Sie; vielleicht würde ein Anderer jeden Andern lieber, als gerade Sie, in sein häusliches Unglück einweihen. Ich halte Sie aber für einen Ehrenmann, Herr Doctor, und daher für unfähig, mit egoistischer Schadenfreude mein Haus zu betreten und der Frau wieder zu begegnen, die Ihr alter Nebenbuhler nicht glücklich gemacht hat. Meine Stimmung ist auch derart, daß es mir auf mich selbst nicht mehr viel ankommt, daß ich Alles daransetzen möchte, um nur das schwerste Unglück, das meine Frau noch bedroht, womöglich abzuwenden. Ich werde es Ihnen als einen großen Freundschaftsbeweis anrechnen, wenn Sie mich begleiten und nach einiger Zeit, während deren Sie die Kranke beobachtet haben, mir Ihre Ansicht mittheilen wollen. Wenn es Ihnen gelingen sollte –
Er stockte und wandte sich ab. Indessen, setzte er in plötzlich viel gemessnerem Tone hinzu, habe ich durchaus keinen Anspruch auf irgend eine Gefälligkeit Ihrerseits, und falls Ihre Zeit es nicht erlauben sollte –
Ich bin gern bereit, Herr Graf, mit Ihnen zu gehen, erwiederte Edwin. Doch wiederhole ich Ihnen, was ich schon meinem Freunde gesagt habe: ich gehe ohne jede Illusion, als ob ich irgend einen Einfluß auf den Gemüthszustand der Frau Gräfin auszuüben vermöchte. Wie sie mir damals trotz ihres großen Vertrauens vielfach räthselhaft blieb, so wird, fürchte ich, auch jetzt wieder all meine Seelenkunde an dieser Aufgabe scheitern. Aber gerade weil ich Ihnen in einem so eigenthümlichen 53 Verhältniß gegenüberstehe, sollen Sie wenigstens an meinem guten Willen nicht zweifeln dürfen.
Er ergriff Hut und Stock, hing sich die Tasche um und öffnete die Thür. Die drei Männer gingen schweigend neben einander die Treppe hinab.
Vor der Thür des Gasthofs stand ein eleganter zweisitziger Jagdwagen, ein langaufgeschossener junger Bursch in grüner, mit Silber gestickter Livree hielt die Zügel des feurigen Gespanns, das lebhaft den Boden scharrte, und heftete mit verlegener Freude seine runden blauen Augen auf den alten Bekannten, der im Heraustreten ihm freundlich zunickte. Marquard hatte Recht; nur der Rumpf des kleinen Jean war in die Höhe gewachsen, der rosige, bartlose Kindskopf war völlig geblieben, wie er war. Edwin übergab dem Wirth den Brief an Lea zur Besorgung auf die Post, sagte ihm wegen des Billets an Mohr das Nöthige, drückte Marquard noch einmal die Hand und sprang in den Wagen. Der Graf folgte ihm, ließ sich von Jean, der hinten aufstieg, die Zügel reichen, und indem er die Peitsche gegen die Zurückbleibenden neigte, trieb er mit einem kurzen Zuruf die Pferde an, die ungeduldig mit dem leichten Gefährt davonstürmten.
Sie werden unterwegs Nachsicht mit mir haben und es entschuldigen müssen, wenn ich einsilbig oder zerstreut erscheine, sagte der Graf, sobald sie von dem rasselnden Steindamm auf die weichere Waldstraße einlenkten. Ich habe da zwei neue Pferde, die ich zum ersten Mal probire und scharf in der Hand halten 54 muß. Es sind Vollblut-Trakehner, aber noch ein bischen jung und unerzogen. Haben Sie Interesse an Pferden?
Ein so laienhaftes, daß ich damit von allen Kennern ausgelacht werde. Das Pferd des großen Kurfürsten auf der langen Brücke ist für mich die Krone seines Geschlechts, und nur dann und wann finde ich unter Brauerpferden einmal ein Exemplar, das von fern an dieses Ideal erinnert.
Von diesem Schlag ist man, außer für gewisse Zwecke, ganz abgekommen, versetzte der Graf ernsthaft. Es ist auch ein Vorurtheil, als ob die Muskelkraft mit der Plumpheit in einem nothwendigen Verhältniß stände. Die Fähigkeit, seine Kraft anzuwenden – auf die kommt es an, und der sind die dicken Fesseln und der enorme Brustkasten gar nicht immer förderlich. Ho! ho! – machte er, da das Pferd zur Rechten sich vor Uebermuth nicht zu lassen wußte. Er ließ die schönen Thiere eine Strecke weit im Schritt gehen und lenkte sie, aufrecht stehend, indem er mit Kennerblick ihre Führung beobachtete. Erst als sie sich ein wenig beruhigt und in seine feste Lenkung ergeben hatten, nahm er seinen Sitz neben Edwin wieder ein und ließ sie austraben.
Felder auf Felder, Forst auf Forst, kleine Dörfer und einsame Hütten flogen an ihnen vorbei; die Erde wurde dunkler, der Himmel heller. Noch aber wollte die Luft sich nicht verkühlen. Wie sie so schweigend dahinsaus'ten, ringsum die große Stille der Sommernacht, über den schwarzen Waldwipfeln die zarte Mondsichel und 55 dann und wann ein Aufblitzen des Firmaments wie von fernen Gewittern, kam eine traumhaft ruhige Stimmung über unsern Freund, jene gedämpfte Heiterkeit einer halbwachen Seele, in der man es mit Freuden und Leiden nicht so recht ernst nimmt und sich über das Märchenhafteste kaum noch verwundert. Jahrelang hatte er ihren Namen nicht ausgesprochen; ihr Bild war ihm so entfremdet, wie wenn er überhaupt nur von ihr gelesen hätte, etwa in einem Roman; und jetzt fuhr er ihr entgegen, die gewiß so ahnungslos war, wie er selbst noch vor einer Stunde, und sollte sie so verwandelt finden, und man hoffte, er würde Wunder an ihr thun, er, der alle Fäden, die ihn an sie geknüpft, so völlig durchschnitten fühlte.
In der That wunderte er sich, daß er ohne jede Unruhe dem Augenblick entgegensah, wo er ihr wieder gegenübertreten sollte. Er freute sich dieser Ruhe. Wenn es eine elementare Macht gewesen wäre, der ich damals erlag, dachte er bei sich selbst, so würde das Unheil jetzt in meinem Blute wieder aufzucken. Man mag das Eisen hundert Jahre vom Magnet trennen, es spürt doch gleich wieder seine Nähe. Freilich, ich habe seitdem durch das Glück mich selbst verändert, – so viel der Mensch sein Wesen überhaupt ändern kann, – mich wenigstens beruhigt und befestigt. – Was Lea nur sagen wird, wenn ich es ihr erzähle!
Er mußte über die wundersame Veranstaltung des Zufalls nachsinnen, daß gerade der unbetheiligtste Zeuge jener vergangenen Schicksale dazu berufen war, ihn zu 56 erkennen und dadurch seiner Herrin den alten Freund wieder zuzuführen. Das weltalte Räthsel vom Zusammenhang der irdischen Geschicke stand wieder vor seinem Geist. Ist dies nun eine zweckmäßige Fügung geistiger Gewalten, die unsere Seelen beherrschen und lenken, oder trennen wir uns und finden uns wieder zusammen wie die Wellen des Meeres, die nur der Flut und Ebbe gehorchen? Oder sind wir die Künstler, die dem zwecklosen Zufall unsere Absichten unterschieben, ihn gestalten und unser Licht in seine Blindheit leuchten lassen?
Er ließ diese Fragen wieder in ihrer alten unnahbaren Höhe stehen und versenkte sich ganz in den Genuß des Augenblicks. Sein Begleiter störte ihn nicht. Die Pflichten des Wagenlenkers nahmen ihn mehr und mehr in Anspruch, da der Mond heller wurde und die jungen, hitzigen Thiere oft vor etwas Unheimlichem scheuten und zurückbäumten. Edwin schloß eine Weile die Augen und genoß die laue Nachtluft wie ein Bad, das ihn nach der beschwerlichen Wanderung dieses Tages wohlig umspülte. Als er endlich, bei einem Ruck des Wagens, wieder aufsah, staunte er über die zauberhafte Schönheit des Bildes, das sich ihm darbot. Vor ihm, wohl noch eine Viertelstunde entfernt, auf einer freien Anhöhe tauchten die Zinnen und Thürmchen eines Schlosses auf, zu dem eine breite helle Straße durch dunklen Hochwald hinanführte. Im Mondlicht glänzten die Dächer weit ins Land hinein wie versilbert, und wenn der Wind die Wetterfahnen bewegte, fuhren Lichtblitze von ihren Zacken aus wie fallende Sterne. Die Fenster schienen alle 57 dunkel zu sein, überhaupt wie in einem verzauberten Schlosse nichts Lebendiges sich zu regen. Als aber der leichte Wagen trotz der ansteigenden Bahn die Straße durch den Wald in vollem Trabe zurückgelegt hatte und jetzt durch ein hohes, von zwei wappentragenden Greifen flankirtes Portal in den Schloßhof einfuhr, wurde es rings von Menschenstimmen und bellenden Hunden laut, Lakaien mit Windlichtern sprangen aus dem hohen, hellerleuchteten Treppenflur dem Herrn entgegen, ein dicker Haushofmeister in schwarzem Frack und hoher weißer Cravatte erschien am Wagenschlag und half dem Fremden aussteigen, während der Graf einem Stallknecht die Zügel zuwarf und dem Stallmeister einige Worte in gutem Englisch sagte, die auf die erste Probefahrt der Neulinge Bezug hatten. Dann sprang auch er aus dem Wagen und holte seinen Gast noch auf den oberen Stufen der Freitreppe ein.
Lieber Herr Doctor, sagte er, ihn mit herablassender Vertraulichkeit unter den Arm fassend, ich begrüße Sie an der Schwelle meines Hauses. Ich hoffe, Sie lassen es sich hier recht lange gefallen, und bedaure nur – fuhr er leiser fort – Sie nicht heute schon der Gräfin vorstellen zu können. Sie hat sich ein für alle Mal von unseren abendlichen Zusammenkünften zurückgezogen und erscheint auch zur Mittagstafel nur ausnahmsweise. Der Besuch eines alten Freundes wird sie hoffentlich bewegen, von morgen an diese Ausnahme zu machen. Für heut müssen Sie unter uns Junggesellen vorlieb nehmen. Die Herren sind schon beisammen? wandte er sich an 58 den Haushofmeister, der, einen silbernen Armleuchter in der Hand, die ohnehin taghell erleuchtete Marmortreppe halb nach den Herren zurückgewendet voranging.
Seit fünf Minuten, Erlaucht.
So haben wir nicht warten lassen. Vielleicht aber wünschen Sie, lieber Herr Doctor, ehe wir uns zum Souper setzen, sich einen Augenblick auf Ihr Zimmer zurückzuziehen.
Edwin lächelte. Ich bin nicht in der Lage, Toilette machen zu können, sagte er mit einem Blick auf seine Wandertasche, die ein Bedienter ihm nachtrug. Sie müssen es vor Ihren Gästen schon verantworten, Herr Graf, daß Sie einen simplen Fußreisenden von der Straße aufgelesen und unter Ihr glänzendes Dach entführt haben.
Keine Umstände unter Freunden, erwiederte der Graf, immer mit demselben unbeweglich höflichen Gesicht. Sie finden auch uns ganz sans gêne, einige meiner Nachbarn sind im Jagdrock herübergeritten, da wir morgen früh auf Hochwild jagen; Sie werden uns hoffentlich das Vergnügen machen, dabei zu sein.
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern schritt auf die große Flügelthür zu, die, von zwei Lakaien rasch geöffnet, auf den breiten, teppichbelegten Vorplatz des ersten Stocks hinausging. Mit einer leichten, freundlichen Geberde lud er Edwin ein, ihm voranzugehen. So traten sie in den hohen Speisesaal. 59