Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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14. Aurora,
die Erscheinung am neuen Jahrhundert.»Aurora« sollte eine Zeitschrift heißen, die der Verfasser mit dem beginnenden neuen Jahrhundert herausgeben wollte. Die ernstere Adrastea verdrängte sie; sie nehme dafür die Erscheinung dieser Göttin auf und bewähre ihre Worte! – Anm. d. Herausg. – [Schon 1787, in der Vorrede zu seinen Gesprächen über Gott, hatte Herder einen ruhigen, heitern Sommer sich gewünscht für seine »Adrastea, oder von den Gesetzen der Natur, sofern sie auf Weisheit Macht und Güte als auf einer innern Nothwendigkeit ruhen«. – D.

Gespräche.


1.

»Deine nächtlich trüben Gedanken aufzuhellen, trete ich vor Dich,« sagte die Erscheinung und stand vor mir im Glanz der Aurora; es war ein milder Glanz, ihr Blick war erquickend und tröstend. »Dunkelheit ist die Mutter der Furcht, Dämmerung die Mutter des Irrthums. Rede!«

Ach, der entfloh'nen Hoffnungen! Welch Jahrhundert glaubte man, das mit der neuen Zahl aufgehen werde, aufgehen müsse! Das letzte Gut der Sterblichen in Pandorens Büchse ist also auch dahin!

»Wer glaubte, wer hoffte dies? Und warum hoffte man? und warum hofft man nicht mehr?«

Endlose Fragen! Jedermann hoffte. Wir Menschen sind so geneigt, uns über einen neuen Tag, über ein neues Jahr zu freuen, geschweige nach solchen Zubereitungen über ein neues Jahrhundert.

»Der Name klingt prächtig; Manchem mag er seiner vielumfassenden Dunkelheit wegen gar erhaben tönen: Jahrhundert! Der Veränderung wegen kann es Euch Kindern angenehm sein, der bösen Sieben, zuletzt der langgeschweiften 99 loszuwerden und nach einem Jahr mit 00 bezeichnet in einer geraden Zahl 4 + 4 neu und frisch aufzuzählen. Ich wünsche Euch, daß im Jahrhundert 1800 Alles das doppelt geschehen möge, was im Jahrhundert 1400 einfach geschah. Du weißt, was Alles darin erfunden ward, wie für Europa sich Alles darinnen neugestaltete und, wie Ihr sagt, wiedergebar. Ihr erwartet jetzt die reichste, vollständigste Ernte jener Aussaat.«

Nebst dem, was die Jahrhunderte 15, 16, 17 säten. Der menschliche Geist ist nicht stillgestanden, er ging fort –

»Und wird fortgehen. Warum trauerst Du also?«

Daß er noch immer nicht so glücklich ist, rein zu ernten, geschweige zu genießen, was er säte. Im Ablauf eines Jahrhunderts strengt er sich an, er glaubt zu Ende kommen zu müssen, mit beschleunigter Bewegung das Werk des Jahrhunderts zu vollenden. Seit 1789 geschahen Dinge, die sonst in Jahrhunderten nicht geschahen; in Worten, Tagen, Stunden geschahen Dings –

»Man war also sehr in Eil'. Wolan denn! alle diese in Eil' geschehenen Dinge sind geschehen, auf der Tafel der Zeit stehen sie unauslöschlich, unwiederbringlich gezeichnet; die Früchte davon werdet Ihr und Eure Nachkommen erleben. Was trauerst Du also?«

Eben dieser Früchte wegen. Wir hofften und müssen jetzt um so mehr fürchten.

»Was fürchtet Ihr?«

Das Gegentheil von Allem, was wir hofften; so ganz sind unsre Erwartungen umgeschlagen. Ach, Erscheinung, wenn Du in der Brust der Sterblichen liesest –

»Ich lese darin und hörte Eure mißgebrauchten Worte.«

Welche? Freiheit und Gleichheit. Jedermann schämt sich ihrer. Niemand braucht sie mehr.

»Das ist Schade. Ich wollte, daß Du sagtest: »Niemand mißbraucht sie mehr«; denn brauchen müßt Ihr sie. Nicht blos dem Philosophen und Mathematiker, Euerm Geschlecht sind sie unentbehrlich; Ihr werdet sie auch wieder und besser gebrauchen.«

Sie sind nicht die einzigen; wie diese giebt es Hundert, ja tausend mißbrauchte Worte. Die ganze politische Sprache ward entweiht –

»Ward sie das nicht stets? wann sprach die politische Sprache genau, wahr, herzlich?«

Die ganze menschliche Sprache ist entweiht; die edelsten Worte darf man nicht nennen, die der Menschheit innigsten Gefühle nicht ausdrücken, weil jeder Ausdruck beschmutzt ist.

»So schafft Euch neue Worte! Hältst Du es für keinen Vortheil, dieser Irrthümer los, diesen Vorurtheilen und Mißbrauchen entkommen zu sein? Eine abgezahlte Schuld, ist sie nicht Reichthum? eine überwundne Gefahr, ist sie nicht lehrreich?«

Bitter lehrreich ist diese. Welche Gräuel!

»Sie gehören zum verflossenen Jahrhundert, sie sind vorüber.«

Aber ihre Folgen bleiben.

»Daß man auch sie hinwegthue und jede Schandsäule Ehrensäule werde. Das Rad, das hinunterging, geht aufwärts. Gute Düngung verspricht gute Ernte.«

Ernte für wen? Für die wilde Gesetzlosigkeit? oder für den eisernen Zwang und Despotismus? und in beiderlei Fall für eine Barbarei, die hinter uns ist, der wir kaum zu entkommen vermögen.

»Wie sehr irrst Du Dich! Indem Du Contraste genannt hast, siehst Du nicht, daß diese Gegensätze sich einander selbst einschränken und aufheben? Bemerkst Du nicht, daß das Resultat dieses Streits durchaus nicht Unwissenheit und Barbarei, d. i. weder ewige Verwirrung noch ein bloßes Null sein kann?«

Wie lange aber wird der Streit währen?

»Was ist lang und kurz im Buch der Zeiten? Geschehen muß immer etwas; je langsamer es geschieht, desto besser: da übereilt man sich nicht, wie Du vorhin sagtest. Alles, was geschehen kann, geschieht; für Sterbliche ist's aufmunternder Trost, daß Alles, was und wie es geschieht, nicht anders als also geschehen konnte, also geschehen mußte.«

Aufmunternder Trost?

»Es giebt keinen andern, es giebt keinen größern. Nur durch Einsicht und Ueberzeugung seiner lernen sie recht handeln und jede Unordnung, jede Verwirrung recht gebrauchen. Durch Gegensätze zweier und mehrerer Seiten wird eine Gestalt; mittelst aus- und einspringender Winkel wälzt sich der Strom fort. Eine gerade Linie giebt keine Fläche, keinen Körper.«

Aber wer wird's erleben?

»So sagte jener Lügenprophet auch, dessen Eselin scharfsichtiger als er war, und der an Fluches Statt segnen mußte.4. Mos. 23. – D. Leben und streben sollt Ihr Menschen, nicht aber erleben, erstreben wollen, was nie ganz erlebt, erstrebt werden kann. Im Streben ist Genuß; im Nicht-Erleben liegt Deines Geschlechts Art, auf ihm beruht seine edelste Wirkung. Soll ich Dich morgen dessen weiter belehren? Aber meine Zeit ist vorüber, die Sonne geht auf. Geh zu Deinem Geschäft, und statt zu grübeln, arbeite!«


Sie war auch in dem, was sie sprach, Aurora. Sie gab mir Schimmer und giebt mir, vielleicht schon morgen, erfreuendes Licht.


2.

Mich dünkte, Dich heut in der Mitternacht zu sehen, Aurora!

»In der Mitternacht, mich?«

Ja Dich, die Morgenröthe des kommenden Jahrhunderts, unsre nordische Aurora. Ein röthliches Licht erschien; Spieße flammten gegen einander; es war ein fürchterlicher Anblick, der mir nothwendig den fürchterlichen Streit der Meinungen in den jetzt so erregten menschlichen Gemüthern vor Augen stellte. Er wird sich so bald noch nicht legen, dieser Streit, und was wird er nachlassen, was hervorbringen? Was das Nordlicht hinter sich läßt: Dunkelheit, und was es hervorbringt: man sagt, harte Kälte.

»Du hast mich übel gesehen, Mitternächtiger. Ist mein Rosenlicht der Schimmer jenes Meteors? Worüber streiten denn Eure Meinungen mit Spießen, die Du so sehr fürchtest?«

Ueber Alles, über die drei wichtigsten Punkte, von denen Glück und Unglück der Völker abhangt, über Religion, Staatsverfassung und über Stände, ja, über den gesammten Zustand der Menschheit.

»Ueber Religion? Darüber ist nie gestritten worden, darüber sollte man nie streiten. Religion ist innere Gewissenhaftigkeit; Gewissen in Alledem, was man für recht, wahr und gut erkennt, ist jedes Menschen heiligstes Eigenthum. Er kann und darf es nicht veräußern, man kann und darf es ihm nicht nehmen, wohl aber dies Heiligthum in ihm aufhellen, befestigen, läutern. Eben dies ist mein Amt; ich werde es in der Zeit, die mir angewiesen ward, mit meinem ruhigen Strahl erleuchten und damit wecken, beruhigen, es Gott und allen Wesen befreunden.«

Bei Gemüthern, die dieses Strahls empfängig sind, magst Du es thun, wie Du es bisher gethan hast; aber bei jenen Streitern, Zänkern, wo ist bei ihnen ein religiöses Gemüth, das Dein Strahl anzuglänzen vermöge?

»So mißbrauche man bei ihnen auch nicht den Namen der Religion; sie streiten über ganz andere Dinge, über Rang und Einkünfte, über politische Macht und Einfluß, über das, was sie Rechtgläubigkeit und Gottesdienst nennen, oder gar, das Elendeste von Allen, über Worte. Ordne diese Dinge recht, bemerke jedesmal, wer und worüber er unter dem Namen der Religion streite, und Du wirst dies innere Heiligthum jeder bessern Menschenseele durch sich selbst sehr gesichert finden. Ich will fortfahren, es zu sichern, doch nicht durch schneidende Waffen und spitzige Lanzen.«

Wodurch denn?

»Durch frühe Gemüthsbildung. Ihr kann nichts widerstreben, sie ist unaufhaltbar, unauslöschbar. Dünkt Dich nicht, daß das scheidende Jahrhundert viele, viele Streitigkeiten in einer Maße zu Ende gebracht habe, daß sie nie wieder aufzuleben vermögen? In mir wenigstens sollen sie nicht wieder aufleben; ich will fortfahren, zu reinigen, zu scheiden.«

Daß vielleicht nichts übrig bleibe, indem bei diesen Scheidungen der Geist verraucht, verfliegt.

»Ungläubiger, wie sprichst Du? Gegen Dein eigen Herz und Gewissen. Kein wahrer Geist der Religion verfliegt; wo er verrauchen konnte, war's ein falscher Geist, sein Nachbleibendes ein Todtenkopf (caput mortuum), Schlacken und Hefen. Danke dem Himmel, daß er verraucht ist, und ziehe aus den Schlacken, was sich daraus ziehen läßt! Das Gemüth der Menschen, diese heilige, ruhige Stätte, hat sich die Gottheit vorbehalten zu ihrer Einwohnung, zu ihrem Spruch. Der Vorhof ist den Heiden gegeben, sie mögen ihn zertreten; mein Geschäft, meine stille Wohnung unter den Menschen dauert fort.«

Glück zu Deinem Geschäft! alle Lieblinge des Guten, des Rein-Wahren und Schönen mögen Dir Werkzeuge werden; aber die bittern Streitigkeiten über Staatsverfassung und Wohl der Völker, über Volksglück und Völkereinrichtung, wie willst Du die versöhnen? Dein sanfter Strahl über so empörten Meereswellen und Wogen –

»Ist doch dem Schiffer eine freundliche Aurora, auf die er hofft und wartet. Kann mein Licht nicht sofort das empörte Meer zur Ruhe bringen, so zeigt es ihm doch, wo er sei, was er zu thun habe, und vielleicht gar ein freundlich nahes helfendes Segel. Ist dieser Aufruhr von Meinungen in Deinem Vaterlande entstanden, Freund?

Gottlob, nein! ein nachbarliches Meer führte ihn an unsre Küsten.

»So laß ihn auch da, wo er entstand, verbrausen! Die Nachbarin, an die Du gedenkst, ist an Charakter und innerer Art von Deiner Nation vor allen in Europa verschieden; es giebt keine natürlich und künstlich verschiedneren Völker, wie ihre beiderlei Sprachen, Sitten und Verfassungen zeigen. Die höchste Thorheit war's, wenn anderthalb Jahrhunderte hindurch Deutsche den Galliern nachäffen wollten.«

Nennst Du Deutsche? Es waren ja die trödelhaft-müssigsten, die leersten, die versunkensten –

»Rede sanfter! Auch Du bist also noch nicht ganz zurückgekommen, noch nicht von aller Gemüthswallung frei. Diese Nachäffer ernten und werden ernten, was ihre Schwachheit und Hinlässigkeit oder ihr frecher Verrath säte; Schande über ihre zertheilte Ohnmacht, über ihre nachsprechende Kriecherei haben sie bereits gnug geerntet. Länger als ein Jahrhundert übten sie sich in der Sprache und Denkweise der Herren, die sie von je her als Lakaien behandelt haben, um doch verstehen und nachsprechen zu können, wie man sie behandelt; laß sie! Die deutsche Nation ist an ihnen gerächt.«

Gerächt? gerade das Gegentheil fürchte ich. Das tiefe Mißtrauen, der Haß und Groll, den die zehn letzten Jahre in ihnen erregt haben, ist ein gepflanzter Giftbaum auch für die nächstzukünftigen Zeiten. Freundschaften sind zerrissen, Gesellschaften zerstört, jeder zwanglosen Aeußerung im Umgange, die auf gutem Zutrauen beruhte, sind Ketten und Fesseln angelegt. Die Verfolgung der Unschuldigen endlich, der Hohn, mit welchem sich gegen eigne Ueberzeugung die freche Dummheit gegen den übersehenden Verstand, die dumme Frechheit gegen jede Aeußerung, gegen jede leutselige Mäßigung erhob, werden lange noch fortdauern und böse gähren.

»Nichts von dem Allen. Die freche Dummheit ist gestraft, wie sie gestraft werden mußte; die gutherzige Schwachheit ebenso sehr. Keiner hat erlebt, was er zu erleben gewiß war, und – – auch in meinem Jahrhundert wird's Keiner erleben. Die Zeit tilgt und versöhnt Alles; bald wird man von diesen Scenen des mißtrauenden Hasses, der grollenden Abneigung und Verfolgung wie von bösen Fieberträumen reden; Denen, die sich dadurch am Meisten versündigt haben, wird am Unwohlsten zu Muthe sein. Nichts rächt sich härter und ernster als das Unrecht, das man ohne, ja gegen alle Vernunft und Veranlassung dem Gemüth eines Schuldfreien anthat. Der helle Verstand endlich, die rechnende Vernunft edler, weiser, gütiger Menschen hat mit diesem Katzen- und Hundestreit nichts zu thun; hinweg über sie schwebt er wie ein Genius und schwingt die Fackel weiter. In seinen Augen ist mein Licht, in seiner Seele meine Ruhe und Klarheit.«

Du giebst mir die meinige wieder, Aurora. Mit aller Menschen- und Völkerfreundschaft lasse ich fremde Nationen vollenden, was sie angefangen haben. Von je her war unsre Nachbarin ein Ferment, zu Deutsch ein Sauerteig für andre Nationen. In ihr war der Hauptsitz des fürchterlichen, weit und weit verbreiteten Druiden-Dienstes; während der Griechen- und Römerzeiten, wie weit haben die Gallier Colonien gesandt und geraubt und geplündert! Gerade tausend Jahre sind's, da ihr Karl der Große (denn gegen Deutschland verfuhr er hart und hat mit seinen Anlagen uns ein Jahrtausend hindurch als ein bitterer Feind geschadet), tausend Jahre sind's, da er Rom einen Papst gab und zum Vertheidiger desselben als Kaiser sich bestellte; die Folgen einer römisch-fränkischen Hierarchie haben sich seitdem nicht über Europa allein verbreitet. Von Frankreich gingen die Kreuz- und Ritterzüge nach Orient aus, an denen Deutschland grob und seelenlos, d. i. für und wider nichts, Theil nahm, von Frankreich der Inquisitions- Kriegsgeist aus, der Ketzer und Unbekehrte als Wilde und Sarazenen bis zur Ausrottung bekämpfte. Von Frankreich aus kam der Hochgeist sowol als die Spiegelfechterei des Scholasticismus, der Geist Philipp's des Schönen, der Ludwige, der – Doch ich sehe, Du verschwindest, Aurora! – Sie ist verschwunden.


3.

»Ich verließ Dich gestern im Hererzählen der Gährungen, die Eure gefährliche Nachbarin Europa und Euch gebracht hat. Gewann sie dabei?«

Selten. Die meisten Störungen, die sie andern Nationen machte, wirkten zu ihrem Nachtheil zurück. Was hat sie in allen vorigen Jahrhunderten aus Italien, aus Holland und den Niederlanden, was aus Deutschland für sich erbeutet? Für sich; denn der Zuwachs einiger Provinzen nutzte der Nation nicht.

»Ihr Gewinn war, daß sie ihre Kräfte übte. Das Ferment erreicht seinen Zweck, indem es sich mittheilt, indem es durchsäuert. So auch dies acidum universale. Jeder Masse, der es sich nähert, kommt es zu, seine Einwirkung auf sich zu modificiren, oder sie von sich entfernt zu halten. Wer dies am Besten, am Verständigsten thut, hält sich selbst werth und liebt sich würdig. Hat Frankreich je dem Geist Italiens gebieten können?«

Nie, und ich zweifle, daß es ihm je gebieten werde. Es kann Italien berauben, es mag ihm flüchtige Modelle aufheften: bald aber werden mit seiner Flucht diese Modelle verfliegen, und der ihm entrissene Raub bleibt Raub, fortan ein Gepräng' auf einer fremden, unheiligen Stätte. O, hätte Deutschlands Geist dem französischen immer wie der Geist Italiens widerstanden!

»Er hat's, und kräftiger als jener. In den Provinzen selbst, die längst französisch waren, ist der deutsche Geist nicht ausgetilgt; durch Gesetze, Manieren und Sprache läßt sich der französische Geist nicht lernen. Bleibt Euch also treu, Ihr Deutsche, und äfft nicht nach! An ihnen, nicht von ihnen dürft und sollt Ihr lernen. Seit den letzten zehn Jahren haben sie Euch so viel an ihnen zu lernen gegeben, daß, was Ihr von ihnen ungeschickt gelernt hattet, Ihr wohl vergessen mögt.«

Die große Nation gab ein großes Schauspiel. Sie hat eine Probe an sich gemacht –

»Die sie trotz aller erlebten Unfälle wol nutzen wird; denn ungeheuer viele sonst schlafende Kräfte hat sie geweckt und Gedankenverbindungen gewagt, die nicht sofort ausgelöscht werden mögen. Der Strom der Zeit rollt fort, nichts in ihm darf sich seinem Lauf entziehen; was nicht mit will, wird abgesetzt oder sinkt zu Boden. Es gab Zeiten, da viele Verfassungen Deutschlands anerkannt die ersten in Europa waren. Mit freudigem Antlitz begrüßte ich täglich die Municipalitäten, die durch Einrichtung und Ordnung, durch Fleiß und Treue hoch über jenen des alten Roms oder des neuen Italiens standen; ich übergüldete sie wie prächtige Linden, in deren Walde von Gerüchen und Blüthen zahllose Schwärme Honig suchten und fanden. Manche derselben hat ein fremder üppiger Epheu abgezehrt, vertrocknet stehen sie da; andre sind zu Hausgeräth, zu Bänken und Lusthäusern zerhackt und zersägt. Einige stehen noch da, und an mir soll es nicht fehlen, daß die fleiß- und treuvollen Völker Deutschlands, wo sie vom Gewinn ihres Fleißes verdrängt sind, auf ihre Bahn wieder eintreten mögen. Am Po und am Jordan, am Oby und Ohio, in allen Welttheilen floß ihr Blut, nicht für sich, sondern für andre Nationen; ich will die Zeit befördern, daß Deutschland an sich denke, für sich arbeite in allen Ständen und sich seiner Kraft, seines Charakters und Landes erfreue in allen Ständen.«

Du nennst ein großes Wort, heilige Göttin, und hast ein weites Ziel vor Augen. Eben die Verwirrung, das gegenseitige Mißtrauen zwischen Ständen und Ständen –

»Soll bald durch mein Licht verscheucht sein. Was sind Stände? Zustände sind sie oder Aemter. Wer der Vortheile, mit denen er geboren ward, sich nicht werth macht, sinkt um so tiefer unter seinen Stand hinunter; wer seinen Stand als Amt betrachtet, vergißt oder verachtet den Namen des Standes. Nicht stehen soll man in seinem Stande, sondern wirken; wem repräsentiren oder repräsentirt werden der Inhalt seiner Disputen, der höchste Zweck seiner Bestrebungen ist, disputirt und strebt noch fernab vom Ziel der politischen Glückseligkeit, der Realität und Wahrheit. Mein Strahl beglänzt die Ceder wie den Ysop, das Veilchen wie die Rose; alle Kinder und Bürger der Natur wachsen, blühen und fruchten in ihrer Art, ohne zu fragen, wie ein Kataster sie stelle und classificire. Menschen machen und bekleiden Stände, nicht Stände Menschen. In jedem Stande ist der Fleißige fleißig, der Weise weise, der Thor ein Thor. – Aber da kommt die Sonne und weckt Alles, was lebt, zur Munterkeit und zum Fleiß auf; ich berge mich und verschwebe im letzten Streif der purpurnen Wolke.«

Lebe wohl, Aurora!Den Schluß bildete »Ossian's letzter Gesang« in Knebel's Uebersetzung. Vgl. Knebel's Nachlaß, II. 393 f.; »Zur deutschen Literatur und Geschichte. Ungedruckte Briefe aus Knebel's Nachlaß«, II. 49. – D.


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