Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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4. Lehrgedichte.

Eine Sammlung von Bemerkungen und Lehrsprüchen, in ein Silbenmaß gebunden, pflegt man ein Lehrgedicht zu nennen. Glücklich, wenn ihm auch die innere Anordnung und Fortleitung der Gedanken nicht fehlt! Sonst werden die gereimten Sentenzen eine Heerde, die in Gruppen weidet, ihre Glocken klingen durch einander, und meistens springen Böckchen hie und da hervor; denn in die meisten Lehrgedichte mischt sich Satire.

Boileau und Pope waren zu Anfange des verflossenen Jahrhunderts die großen Lehrdichter des Auslandes; ihre Namen sind noch als solche berühmt. Beiden war Horaz Vorbild, dem sie auch, Jeder in seiner Weise, fast in jeder Art seiner Werke nachfolgten; denn wie Horaz schrieben Boileau und Pope moralische Briefe, Satiren, Oden, eine Dichtkunst in Versen und thaten Beide noch ein komisches Heldengedicht dazu. Schwerlich aber hat weder der Brite noch der Franzose des Römers moralische Grazie, seine leichte Manier, seine hohe Urbanität erreicht. Beide also, so schätzbar sie sind, machen uns Horaz nicht entbehrlich.

Beide indeß sind Gesetzgeber ihrer Nation in Vernunftreimen über Geschmack und Sitten worden. Wer von der alten ächten französischen Schule wußte nicht Boileau' s »Dichtkunst« und einen großen Theil seiner andern Verse auswendig? Wer von der alten englischen Schule lernte Pope's Essay on Criticism, seinen »Versuch über den Menschen« und viele seiner moralischen Sentenzen nicht ebenso? Sie galten für die sprechende Vernunft und Moral in Reimen.

Und sie sind's wirklich, Pope in seiner gedrängten Kürze, Boileau in seiner wasserhellen Klarheit. Dieser überladet Niemanden; Verse, wie er schrieb, konnte jeder Höfling verstehen, lernte jeder Mann von Geschmack recitiren. Dazu sind sie eingerichtet; in der Stellung und Wahl der Worte, im Accent, oft im Reim liegt das Scharfe oder das Gefällige des Stachels, der Pointe. Uebersetzt in andre Sprachen, wie Boileau denn oft und früh in unsre Sprache übersetzt ist, liest man großentheils nichts als sehr wahre und sehr gemeine Gedanken. Daß Boileau sie in seiner Sprache so scharf bestimmt, so gewählt und zweckmäßig sagte, dies macht sein Verdienst, worin er sogar dem Briten vorgeht. Dieser hingegen übertrifft ihn weit an Tiefe des Sinnes und in Gedrungenheit der Sentenzen. Auf Zuneigung unsers Herzens macht wol Keiner von Beiden Anspruch; man liebt und haßt sie wechselsweise. Indem man ihren lehrreichen Verstand hochschätzt, wird man oft unwillig über ihre ungerechte oder hämische Satire. Ueber Boileau ist der Ausspruch des nie aufgebrachten, gleichmütigen Fontenelle bekannt: »Mit Lorbeer bekränzt schicke man ihn auf die Galeere!«

Die Werke beider Dichter indeß, insonderheit mit ihrem historischen Commentar, sind ein Parnaß der damaligen Zeit, der Sprach- und Gedankenschätze beider Nationen. An welch Heiligthum könnte sich die Poesie fester und sicherer schließen, als an Vernunft und Moral? Boileau's »Dichtkunst«, Pope's »Criticism>« werden gelesen werden, so lange beide Sprachen dauern.


Nebst der Dichtkunst wagte sich das Lehrgedicht auch an andre Künste, die Zeichnung, Malerei, Gartenkunst, den Feldbau u. s. w. Des Dufresnoi, Rapin's, Vanier's und Andrer lateinische GedichteDu Fresnoi, De arte graphica, Par. 1637; Rapini hortorum libri IV. Par. 1666; Vanierii praedium rusticum, Tolos. 1706. Marsy, Watelet u. s. w. gehören in spätere Jahre. – H. über diese Künste sind bekannt, die, weil sie alle mittelmäßig sind, mit der Zeit übertroffen wurden. Bei Engländern und Franzosen werden wir in der Mitte und am Ende des Jahrhunderts Kunstgedichte finden, die an Virgil's Bücher vom Landbau näher als PhilipsJohn Philips, »The cyder«, Lond. 1708. – D. oder die Vorgenannten reichen.

Auch wissenschaftlicher Systeme bemächtigte sich die Verskunst. Von Bayle's Zweifeln geärgert, versificirte der Cardinal Polignac seinen Anti-Lucrez,Melchioris de Polignac Anti-Lucretius, libri IX. Par. 1747. Der Cardinal hatte das Werk auf seiner Rückreise aus Polen 1697 angefangen; es erschien erst nach seinem Tode durch den Abt Charles d'Orléans de Rothelin, der es dem Papst Benedict XIV. dedicirte. Eine deutsche prosaische Übersetzung erschien (Breslau 1760) von Schäfer mit Vorreden und Einleitungen der Pariser Ausgabe. Lobreden über den Cardinal haben De Boze in der Akademie der Inscriptionen, Mairan in der Akademie der Wissenschaften gehalten. Ein Nachdruck des lateinischen Werks mit Gottsched's Vorrede erschien Leipzig 1748. Auch ins Italienische ist der »Anti-Lucrez« übersetzt worden. – H. ein beredtes Werk, dem es aber an Lucrezischem, d. i. ächtem poetischen Geist fehlt. So hart und schmerzend Epikur's System beim Römer in vielen Stellen ist, so erschüttert uns doch von Grund aus des Dichters Stärke, seine innige Freude über das, was er Klarheit der Seele, Erhabenheit über alle Schrecken nennt; und in dem, wo seine Verse wirklich die Natur der Dinge, Wahrheit enthalten, wie eindringend sind sie in ihrer rauhen Größe! den Heldenbildern Griechenlandes im sogenannt heiligen Stil ähnlich. Mit allem Reichthum neuerer Entdeckungen dagegen, mit der ganzen Philosophie Descartes', Keppler's, Newton's und Anderer ausgerüstet, ja, ob er gleich Gott und die Wahrheit selbst zu vertheidigen anstrebt, ist des Cardinals Gedicht größtenteils doch nur eine schöne Declamation in lateinischen Versen. Es ist unvollendet; hätte er aber auch seine drei Gesänge hinzugethan, der fehlende poetische Geist konnte durch sie nicht ersetzt werden. Fontenelle's »Gespräche von mehr als einer Welt« enthalten mehr Poesie über einen Theil des Cartesianismus als Polignac's neun Bücher, denen überhaupt auch der widersprechende, streitende Ton, in dem sie abgefaßt sind, schadet. Wer uns ein System oder die Moral dichterisch lehren will, trage sie uns rein, als eine Offenbarung der Musen vor, nicht streitend.

So schöne und schönere Darstellungen philosophischer Systeme wir mit dem Fortgange des Jahrhunderts auffinden werden, woher kommt's, daß noch kein System neuerer Philosophen (einzelne Theile und Hypothesen ausgenommen) eine Darstellung gefunden hat, auf welche, wie auf Lucrez, die Zeit das Siegel der Vollständigkeit, der unübertrefflichen Schönheit gedrückt hat? Nicht an den Dichtern, dünkt mich, lag es, sondern an den Philosophen, weil ihre Systeme selten so vollständig überdacht, so rein ausgedrückt waren als die vielleicht mangelhaftern Systeme der Alten. Erscheint einst ein solches System, sind die Wahrnehmungen der Astronomie und gesammten Naturlehre, der Chemie und gesammten Naturgeschichte, sowie die Geschichte des Menschen von innen und außen so gebunden und geordnet, daß in allen die höchste Reinheit und Einheit, ein Unendliches an Folgen in jedem Punkt erscheint: kein Zweifel, ein solches System ist selbst die reinste und höchste Poesie an Würde und Klarheit. Wie die Natur und Wahrheit, wie ein Genius wird es erscheinen: reizend in seiner Einfalt, keines fremden Schmuckes bedürftig. Die Disputircabale wird unter seinem Blick, wie unter dem Fuß des Engels von Guido gemalt der Drache erliegen.

Wie aber? Fügen sich auch Wissenschaft und Dichtkunst? Ist zwischen Wahrheit und Dichtung, wie zwischen Wasser und Feuer, nicht ein ewiger Streit? Nach der neuern Chemie giebt es keine durchaus streitenden Elemente; alle nehmen an einander Theil, sie verjagen und ersetzen einander. Ist Dichtkunst die reinste, vollste Darstellung der Wahrheit, so muß sie jede Wahrheit darstellen können, nicht nur in den kräftigsten Worten, sondern auch in ihrem tiefsten Grunde, mit inniger Zusammenstimmung und Wirkung. Glaubt Ihr, daß Orpheus' Gesang eine Fabel sei? Der Orpheus der Natur wird, wenn die Wissenschaft reif ist, seine Leyer rühren. Das Schnittgericht (haché) Eurer Paragraphen haltet Ihr für die einzig beste Methode der Wissenschaft? Für Eure Lehrlinge mag es solche sein, der Ueberblick des Ganzen wird von selbst eine andre Darstellung fordern. Schon das ist ein gutes Vorurtheil für die philosophische Dichtkunst, daß die Griechen sie in so hohem Maß liebten! Mit welcher Felsenstärke kündigten Parmenides, Epimenides und mehrere ihrer Weisen die Wahrheiten ihres Systems als Aussprüche der Muse an! Nicht Gesetzgeber und Gnomologen allein, eigentliche Systematiker kleideten ihre Lehrsätze in Silbenmaße, deren überbliebne Fragmente uns den Verlust so mancher Geistesschätze bedauern machen. Die stärkste, reinste Aussprache der Wahrheit wird ihrer Natur nach allenthalben Dichtkunst; jedes System ist selbst ein Poem, sofern es mit sich bestehend, ganz und rein ist.

Bis zur lyrischen Poesie erhebt sich die philosophische Wahrheit. Den Schatz der Griechen hierin haben wir, außer Pindar und kleinen Bruchstücken, verloren; Horaz aber, der die Griechen so schön bestahl, vielleicht der schätzbarste Dieb aller Zeiten, in wie trefflichen Strophen singt er uns Weisheit in die Seele! So fein sind seine Worte zusammengesetzt, daß man sie nicht vergessen kann, wenn man gleich wollte.

In der neueren Dichtkunst, seit Dante und Petrarca, sind die schönsten Canzonen der Italiener und Spanier Lehroden. Von Lehre fing allenthalben die bildende Poesie an; die älteste orientalische, griechische, italienische, castellanische, deutsche Poesie ist voll Sprüche, oft Sprichwörtern ähnlich.

Und was sind die sogenannten französischen Oden, die seit Malherbe in Gang kamen, anders als sonore Lehrgedichte, höher tönende Declamationen? La Motte Houdar, J. B. Rousseau u. A. versificirten eine gute Anzahl derselben, deren Form auch in Deutschland lange nachgeahmt und oft übertroffen ward. Meistens betrafen sie geistige oder sittliche Gegenstände, über die Mancherlei gesagt werden konnte; und viel Gutes ward darüber gesagt. Eine lyrische Strophe, die, wie der Alexandriner, uns jetzt lang dünkt, galt damals für eine schöne poetische Periode.

Und wären diese sonoren Lehroden nicht Poesie? Wäre z. B., wie unsre Neulinge wollen, Uz kein lyrischer Dichter? Wenn nach griechischer Weise einem Verstorbenen sein Ehrenzeichen, eine bekränzte Lyra, aufs Grab gesetzt werden sollte, so gebührte sie ihm! eine Lyra mit dreifachem Kranz, der Dichtkunst, der Weisheit und des thätigen Verdienstes, umwunden. Eben er traf den Ton, in dem die Lehre, Jedermann verständlich, in feurigen oder sanften Silbenmaßen unser Gemüth durchdringt und es in süßer Begeisterung mit sich fortzieht oder fortreißt. Seine besten OdenUz' poetische Werke. Leipzig 1772: »Die Zufriedenheit«, »Das bedrängte Deutschland«, »Der Weise auf dem Lande«, »An das Glück«, »Die deutschen Sitten« »Ermunterung zum Vergnügen«, »Die Wollust«, »Die fröhliche Dichtkunst«, »Die Wissenschaft zu leben«, »Der standhafte Weise«, »Die Freude«, »Die wahre Größe«, »Die Glückseligkeit«, »Die ruhige Unschuld«, »Theodicee«, »Der wahre Muth«, »An die Freiheit«, »Horaz«, »Laura«, »Das Schicksal«, »An den Frieden«, »Der Patriot«, »An die Freude« u. s. w. – H. sind ein Lehrbuch der liebenswürdigsten Moral in süßen Gesangweisen. Wenngleich er Horazens Silbenmaße nicht gebraucht hat, so spricht doch Horazens Geist durch ihn, im Inhalt sowol als im Schwung und in der Anordnung seiner Oden. Kehre der Klang derselben, die ein bizarrer Geschmack verdrängt hat, ins Ohr der Jünglinge wieder!

Unsrer seligen poetischen Zeit wäre ein Pope, ein Boileau wohl zu wünschen. Nicht etwa nur des Fleißes in der Sprache und Verskunst halben, der mit dem abgekommenen Reim hie und da selten worden ist, sondern des Inhalts ihrer Werke selbst wegen, zu welchem reife Beobachtungen, Grundsätze, überhaupt eine Welt- und Menschenkenntniß nöthig ist, die ein Klingklang an Werth schwerlich ersetzen möchte. In unsern Zeiten bearbeitet, würden die Themata jener Dichter neue und merkwürdige Productionen geben! Ueber Kritik und Dichtkunst würden sie nach Veranlassungen unsers Lustrums andere Vorschriften machen, im Laufe der großen und kleinen Welt würden sie andre Thoren zu belehren finden. Und ein Versuch über den Menschen zu unsrer Zeit (mit aller Bescheidenheit gegen den verdienstreichen, glänzenden Namen Pope sei es gesagt), wie größer, kühner, richtiger könnte er werden! In der Haushaltung der Natur, in der der Mensch sichtbarer Haushälter ist, sind seitdem von den Sternsystemen hinab in die Tiefen der Erde, in die Elemente der Wesen so weite und scharfe Blicke gethan; die Frucht, an der das Menschengeschlecht hangt, auf der es sein Wesen treibt, ist seitdem so um- und durchgangen, seine Haushaltung auf ihr im Guten und Bösen so licht worden, die Gesetze seiner Natur, sein Zweck, seine Bestimmung nebst den Wegen und Abwegen, die er bisher genommen hat, sind so helle ans Licht getreten, daß ein »Versuch vom Menschen«, in der Zeit des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben, in der Pope den seinigen im achtzehnten schrieb, ein neues, unvergeßliches Lehrgedicht werden könnte. Käme dies Blatt einem jungen Genius in die Hand und weckte ihn, über die Haushaltung der Natur und ihren Haushalter, den Menschen, haushälterisch selbst ein Werk anzulegen, in dem der Geist und das Herz der ganzen Menschheit ewig wohnte!Hier folgte das Gedicht: »Die Gärten der Hesperiden. Eine Unterredung«. (Herder's Werke, I. S. 225-229). – D.


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