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Nikolaus Ludwig, Graf und Herr von Zinzendorf, Pottendorf u. s. w., geboren 1700, ging im Jahr 1760 als ein Erobrer aus der Welt, desgleichen es wenige, und im verflossenen Jahrhundert keinen wie ihn gegeben. Er konnte rühmen, daß er »in Herrnhut und Herrnhag, Herrndick und Pilgerruh, Ebersdorf, Jena, Amsterdam, Rotterdam, London, Oxford, Berlin, in Grönland, St. Cruz, St. Thomas, St. Jean, Barbesieu, Palästina, Surinam, Savannah, in Georgien, Carolina, Pennsilvanien, Guinea, unter Ungarn, Wilden und Hottentotten, desgleichen in Lett-, Liv-, Esthland, Litthauen, Rußland, am Weißen Meer, in Lappland, Norwegen, in der Schweiz, auf der Insel Man, in Aethiopien, Persien, bei den Boten der Heiden zu Land und See«, Gemeinen oder Anhänger habe. »Ruhig und gelassen«, sagt sein Lebensbeschreiber, »sah er umher, blickte und sprach die Seinigen liebevoll an, freute sich seines vollbrachten Lebens und des Segens, der ihm zu Theil geworden war, und starb an einem Tage, dessen Losung bei seiner Gemeine war: Er wird seine Ernte fröhlich einbringen mit Lob und Dank.« Acht Tage darauf ward er unter einem Gefolge von 2100 Leichenbegleitern und 2000 Fremden in größter Ordnung und Stille mit Ehrerbietung beerdigt. Zweiunddreißig Prediger und Missionare, deren einige aus Holland, England, Irland, Nordamerika und Grönland in Herrnhut eben anwesend waren, trugen wechselnd den Sarg, unter Begleitung der ganzen Gemeine, mit Musik und Gesang, unter Andern des Liedes:
»Ei, wie so selig schläfest Du
Und träumest süßen Traum!«
»Ueber ganz Herrnhut«, heißt es, »waltete in dieser Stunde ein allgemeiner, herzrührender, stiller Friede.«
Solche Wirkungen hervorzubringen, wurden Kräfte erfordert; entschieden weckte diese im Grafen Zinzendorf ein unablässiger Eifer, wie er's nannte, für seines Heilands Sache von Kindheit und Jugend auf. Nichts konnte ihn abwendig machen oder ermüden, Seelen für ihn zu sammeln und zu verbinden; so drohende als überstandne Gefahren lockten ihn dazu an. Widerspruch machte ihn behutsamer, aber auch fröhlicher und kühner. Die unglaubliche Leichtigkeit, mit der er sein Werk trieb, tausenderlei gefällige Eingänge, die ihm dabei zu Gebot standen, eine Kühnheit mit Klugheit und Vorsicht, eine Heiterkeit, bei der er die Gegenwart des Geistes nie verlor, eine Popularität, die sich bisweilen zum Gemeinen herabließ, vor Allem aber Lust und Liebe zu seinem Werk charakterisiren ihn in Handlungen und Schriften, in Predigten und Liedern. Naturell, wie er es nennt, und herzlich zu sein, ist allenthalben, oft nicht ohne einige Anstellung, sein Bestreben; dazu stand ihm die Sprache sehr biegsam zu Dienst; über Alles, über Glaubensartikel und Sittenlehren, über Geheimnisse und Offenbarung spricht er seine Conversationssprache, oft französisch-deutsch, aber frei und frank, ohne Scheu, was man davon sagen werde. Er gab seiner Gemeine also, ohne daß er's eben wollte, eine eigne vertraute Hof- und Herzenssprache, mit ihrem Mann und dessen Mutter, dem Geist, zu reden, so wie mit Brüdern und Schwestern unter einander.
Nicht leicht läßt sich eine biegsamere Anstelligkeit denken, als dem Grafen zu Theil geworden war. Ob er gleich, sobald er den geistlichen Beruf wählte, seinen Stand und dessen Vorzüge aufgegeben, so wußte er diese doch in jeder kleinen und großen Beziehung so unübertreffbar zu nutzen, daß man unschuldigerweise sagen könnte, er spielte wie mit seinem angebornen, so auch mit seinem angenommenen Stande. Hofmeister, Graf, Prediger, mährischer Bischof, Herr von Thurnstein, von Kochao, Bruder Ludwig, Pastor und Inspector, Ordinarius seiner Gemeinen, ihr Gesetzgeber und Bruder, ihr Vorsteher und Diener, wußte er nach Ländern und Klimaten, nach Zeitumständen und Situationen Allen Allerlei zu werden, damit er nirgend und nie seinen Zweck verfehle. Nachreden und Gerüchte waren ihm für die Person gleichgiltig; er wußte sie aber auch zum Besten seiner Sache zu lenken, wenigstens die Nachtheile, die daher entsprießen möchten, zu mindern; worin ihm dann mehrere seiner Mitbrüder, insonderheit sein treuer, kluger, erfahrner Spangenberg beistand. Zinzendorf erreichte, was er erreichen wollte, nicht eine Reformation der Welt, sondern, wie er's nannte, »eine Conservation der Seelen des Heilandes und deren Sammlung auf seine näher herannahende Zukunft«. Diese Seelensammlung hat er bewirkt.
»Aus welchem Triebe?« fragt man. Hierüber ist nur Gott Richter. Wer sein Leben liest (wir haben von ihm mehr als eine ausführliche Lebensbeschreibung, größtenteils aus des Grafen eignen Bekenntnissen, aus Zeugnissen der Brüder und aus Thatsachen der Geschichte,»Leben des Grafen von Zinzendorf, beschrieben von Spangenberg«, acht Theile [Barby 1772–1775]. Nicht minder J. G. Müller's »Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst«. Winterthur 1795. Band 3. S. 1–302. Eine schätzbare Sammlung. [Vgl. Herder's Werke, XIII. S. 235 ff. – D.] Zinzendorf's Leben ist darin ebenso unparteiisch als herzlich dargestellt, in einem milden Lichte. – H. [Mit großer Feinheit hat Varnhagen von Ense 1830 das »Leben des Grafen von Zinzendorf« beschrieben. – D.]), bemerkt die Umstände leicht, die von Kindheit auf ihn zu diesem Beruf vorbereiteten und zu ihrer Zeit weckten. Seine Erziehung, die Denkart seiner Eltern und Verwandten, an die sich von Spener an der Kreis der Frommen schloß, die Lage seiner Wohnorte, nachbarlich Halle, Dresden, Schlesien, Böhmen, wo allenthalben theils Erweckte, theils Verfolgte waren; der Streit dieser Erweckten selbst unter einander, vorzüglich aber die Eindrücke, die er in seiner Kindheit von der Leidensgeschichte empfangen hatte, nebst vielen zusammentreffenden Fügungen weckten ihn zum Bekenntniß dieses leidenden Heilandes, wo möglich zur Vereinigung dieser Secten und, wie er sich ausdrückt, zu dem Geschäft, »das Lamm Gottes zu inthronisiren als eigentlichen Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Heiligmacher der ganzen Welt und die Katholicität seiner Leidenslehre als eine Universaltheologie in Theorie und praxi einzuführen«. Von diesem Punkt, einem Jugendeindruck Zinzendorf's, ging Alles aus; um ihn formte sich die Ansicht der Schrift, die Sprache des Vortrages und die Einrichtung der Gemeinen. Was sie damit gewonnen? Einmüthig sagen die Brüder: »Friede! Ruhe der Seele.« Ist dem also, wohl! Giebt's ein größeres Gut? ein schätzbareres Kleinod?
Daß indessen die Orthodoxen gegen manche Mittel nicht gleichgiltig waren, die der Stifter sowol als die Genossen der Gemeine hie und dort anwandten, war ihnen auch nicht zu verargen; denn lassen sich alle auch noch so unschuldig gebrauchte Ausdrücke und Familiaritäten Zinzendorf's rechtfertigen? Wer des ernsten und ebenso gewissenhaften als gelehrten Bengel's »Abriß der sogenannten Brudergemeine« liest,Sein ganzer Titel heißt: »Abriß der sogenannten Brudergemeine, in welchem die Lehre und die ganze Sache geprüft, das Gute und Böse dabei unterschieden und insonderheit die Spangenberg'sche Deklaration erläutert wird, durch J. A. Bengel« Stuttgart 1751. – H. muß ihm in jedem seiner Sätze beipflichten; und wie ehrwürdig schonend hat er die Sache behandelt! Zinzendorf's Gemeine selbst hat den größten Theil der Eigenheiten ihres Stifters in Worten, sogar in einigen Anstalten fallen lassen; wie behutsame Dienste dabei haben Spangenberg, Lairiz, Lorez, Cranz u. A. geleistet! Welch ein Sprung ist's von der Theologie des Grafen, wie er sie hie und da in seinen Reden und Gesängen entwirft, zu Spangenberg's Idea fidei fratrum!
Und wird die Zeit nicht noch Manches ändern? Sie, die große Sichterin der Dinge, läßt unvermerkt fallen, was sich nicht halten läßt; sie bewahrt nur die reine Frucht, das Beste. In Manchem hat sich seitdem der Gesichtskreis so erweitert und entnebelt; durch Kenntniß der Sprachen, der Gegenden und Zeiten hat die Auslegung und Ansicht der Schrift eine so wahrere und (in der Sprache des Grafen zu reden) naturellere Gestalt gewonnen, daß man oft in Verwunderung geräth, wie man über so etwas so etwas sagen und das Ding an sich, die Wahrheit, wie sie ist und war, übersehen konnte. Da dieser allgemein ankommende Tag des Herrn alle Ritzen und Spalten durchscheint, und kein Winkel sich dafür schützen oder verbergen läßt, so geht auch in der Brudergemeine die Zeit mit stillem, aber festem Tritt fort, nicht nur fortpflanzend, sondern auch läuternd.
Da Zinzendorf kein Sectenstifter sein wollte, sondern sich, so viel er konnte, namentlich zurückzog, so gaben zuerst die böhmischen Brüder, dann die Augsburgische Confession, dann in doppelter Bedeutung die Gemeine zu Philadelphia seinen Versammlungen das Abzeichen; zuletzt blieb ihnen der Name Brudergemeine. Und die bleibe sie fortan! Graf Zinzendorf's und seiner Mitarbeiter Verdienst sind seine Einrichtungen, Einrichtungen des Fleißes, der Ordnung und brüderlicher Gemeinschaft, eine Wohlthat für seine Zeit und für mehrere Zeiten. Sich aus dem kalten Dorngebiet der orthodoxen Streiter, sowie aus den heißen Gruben der Mystiker, der Pietisten und Separatisten in Ruhestätten zu ziehen, die Zinzendorf ihnen bereitete, that damals Mehreren wohl, die unter dem Panier des Fleißes und der Ordnung an Liebessymbolen sich beruhigten oder erquickten. Das Wesen der Theologie haben diese Symbole zwar nicht gefördert; hat nicht aber der Herrnhutianismus auch im Lutherthum manche Härten gebrochen? manche Pedantereien zerstört und auf den Zweck der Religion, der in brüderlicher und geselliger Eintracht thätige Liebe sein soll, durch seine Thatanstalten wenigstens gewiesen? Durch die Anlagen endlich, die die Gemeine von Grönland aus bis zu den Negern, Hottentotten und amerikanischen Wilden gemacht hat, wie viel Gutes kann und wird für die Nachwelt erwachsen, da sie diese Völker nicht zu Sclaven macht, vielmehr ihre Sitten zu brüderlicher Menschlichkeit bildet! Schon verdanken wir Europäer ihr manche treffliche Nachrichten aus diesen Ländern, in der schlichten Sprache geschrieben, die, möchte man sagen, die Gemeine sich eigen gemacht hat; die Nachwelt wird ihr für ein Mehreres danken.
Noch ein Wort von ihren Litaneien, Gesängen und Liedern. Sie reden auch, wie Alles bei ihnen, nur die Conversationssprache, oft zu gemein und vertraulich; daher viele derselben den Gegnern zum Spott wurden, bis man aus der großen Menge eine kleine Sammlung kurzer Lieder und Verse zog. Auch ist in dieser Sammlung Vieles, was außer der Brudergemeine schwerlich gesungen werden möchte. Wer mag indessen auch den hingeworfensten Liedern des Grafen eine Biegsamkeit der Sprache, einen Reichthum an kühnen Wendungen und Herzensausdrücken absprechen, der oft überrascht, oft betäubt? Und in den erleseneren Gesängen, zumal wenn sie die Gemeine und ihre entfernten Brüder betreffen, hier welche stille Ruhe! dort welche zarte Innigkeit und Demuth! Wenn Töne die unmittelbare Herzenssprache zu sein scheinen, wo viele und alle sich in einer Harmonie schwingen und bewegen, so ist mit Recht der Gesang die Losung einer Gemeine, die »eine Sammlung von Seelen« sein soll; auch hat gewiß dies Mittel der Einigung viel, wo nicht das Meiste zu der Seligkeit beigetragen, die die Gemeine Frieden des Himmels nannte.
Beilagen.
Drei GesprächeDie Überschrift: Beilagen. Drei Gespräche, ist Zusatz des Herausgebers. – D.
Erstes Gespräch.
Ueber Nationalreligionen
Theodorich oder Dietrich. Winfried.
Dietrich. Du liesest so ernst, Winfried.
Winfried. Ein Gespräch zwischen dem bejahrten Ossian und St. Patrik, oder deutlicher zwischen der verdrängten galischen und der mönchischen Religion. Lies es mit mir!Aus dem Englischen übersetzt. S. »Spiele des Witzes und der Phantasie«. Berlin 1793. – H. [Von Fr. L. W. Meyer. Vgl. auch die Beilage Volkssagen über Ossian am Schlusse des Abschnittes VII. – D.]
Ossian.
Laß, Schriftgelehrter, mich hören,
Wie lauten geschriebene Bücher?
Ist über die Reiche des Himmels
Der mächtige Fingal nicht Herr?
St. Patrik.
Die Bücher sagen Dir Wahrheit,
Du Held und Sänger der Thaten!
Es herrscht nicht im Himmel Dein Vater,
Es herrschen nicht Oskar und Gaul.Unten steht Caol; diese ältere Form erfordert dort der Vers. – D.
Ossian.
Du giebst mir traurige Kunde
Von meinen Freunden, o Priester.
Wenn Fingal im Himmel nicht waltet,
Was soll Deine Lehre mir dann?
St. Patrik.
Wach auf aus jährigem Schlummer,
Wach auf zu frommem Gesange!
Erloschen ist Deine Stärke,
Nie ständest Du mehr in der Schlacht.
Ossian.
Erloschen ist meine Stärke,
Erloschen Fingal's Gefährten;
Doch acht' ich darum keinen Priester
Und keines Priesters Gesang.
St. Patrik.
Der Gesang des Priesters ist süßer
Als einer, den je Du vernahmest.
Du warst ein Held auf den Hügeln,
Jetzt bist Du thöricht und schwach.
Ossian.
Ich war ein Held auf den Hügeln,
Du weißt es, tückische Zunge.
Ich war ein rüstiger Kämpfer,
Und thöricht spottest Du mein.
Zwölf Hunde spielten um Fingal,
Sie spielten im Thale von Smail;
Mehr liebt' ich das Bellen der Hunde
Als, Priester, Dein Glockengeläut.
St. Patrik.
Du liebtest das Bellen der Hunde,
Du liebtest der Waffen Getümmel
Viel mehr als Beten und Beichten;
In Banden liegt Fingal dafür.
Ossian.
Du täuschest mit trüglichen Worten,
Dich täuschen geschriebene Bücher;
Kein Gott und kein König hat Bande,
In denen Fingal erliegt.
St. Patrik.
Gebunden umschließet die Hölle
Den stolzen Spender des Goldes:
Er gab meinem Gott nicht die Ehre,
Drum lechzt er im Hause der Qual.
Ossian.
O, lebten die Streiter von Bosga!
Die muthigen Streiter von Moran!
Wir brächen die Pforten der Hölle,
Und unser würde das Haus.
St. Patrik.
Ob alle Krieger vom Hochland
Auf Deinen Zuruf erständen,
Nie brächt Ihr die Pforten der Hölle,
Nie würde Euer das Haus.
Ossian.
Wie lauten geschriebene Bücher?
Was sagen sie Dir von der Hölle?
Ist sie nicht so gut wie der Himmel?
Gebricht's ihr an Hunden und Wild?
St. Patrik.
Es flattert die Mücke des Abends,
Es birgt sich die kleinliche Motte
Nicht unter dem Schilde des Himmels,
Bevor es sein König erfährt.
Ossian.
So lerne sein König von Fingal!
In Fingal's freundlicher Halle
Fand Obdach und Labung der Wandrer,
Und Niemand fragt' ihn: »Woher?«
St. Patrik.
Vergleiche nicht Menschen dem Gotte,
Den Du, o Alter, nicht kennest!
Vorlängst begann seine Herrschaft,
Und ewig richtet sein Stuhl.
Ossian.
Ich sollte nicht Fingal vergleichen
Dem Gott – – – – – – –Hier fehlen Zeilen, die wahrscheinlich zu kühn waren, um übersetzt zu werden. – H.
St. Patrik.
Dies, dies war Euer Verderben,
An Gott, den Herrn, nicht zu glauben;
Drum fielen Brüder und Söhne,
Und Ossian trauert allein.
Ossian.
Nicht dies war unser Verderben;
Es fielen Brüder und Söhne,
Weil Fingal ferne von ihnen
Sich zweimal wandte nach Rom.
Einst wohnten Caol und Oskar
Und Fingal auf hohen Gebirgen.
Laut war das Bellen der Hunde,
Wüthig ihr Treiben im Thal.
Der mächtige Fingal war König,
Wir freuten uns seiner Befehle;
Niemand, krummstäbiger Priester,
Und Niemand fragte nach Gott.
St. Patrik.
Halt ein mit lästernden Reden!
Sie führen und dulden, ist Sünde.
Mein Gott ist höher und größer
Als Hochlands Fürsten und Du.
Ossian.
Die minder gepriesne der Schlachten,
Die Fingal, mein Vater, gefochten,
Gilt mehr mir als Der, dem Du dienest,
Und, Schriftgelehrter, als Du.
St. Patrik.
Laß, bitt' ich, Dich weisen und retten,
Befolge die Lehre der Demuth!
Du sinkst in der Last Deiner Jahre;
O, sink ohne Frevel ins Grab!
Ossian.
Ich will den zwölf heil'gen Aposteln
In ihren Schutz mich empfehlen;
Und hab' ich Sünde begangen,
So decke die Sünde mein Grab!
D. Und dies erdichtete Gespräch machte Dich traurig?
W. Nichts, was die Menschheit angeht, ist mir gleichgiltig. Das erdichtete Gespräch spricht die Empfindung aller Nationen aus, denen die Religion ihrer Väter entrissen ward; mit ihr verloren sie ihren Geist und Charakter, ja, ich möchte sagen, ihre Sprache, ihr Herz, ihr Band, ihre Geschichte. Daher die stummen und lauten Klagen der Galen und Iren, der Kuren, Esthen, Letten, Liven u. s. w.; daher ihr unauslöschlicher, unversöhnlicher Haß gegen die Fremden, die ihnen eine fremde Religion aufdrangen und dagegen ihr Land, ihre Väter ihnen nahmen. Ja, nicht nur nahmen; sie stießen diese, ihre geliebten, verehrten Väter, deren Andenken ihnen Sieg und Freude gewesen war, in die Qualen der Hölle hinunter. Sollte dies sie nicht schmerzen? Erinnere Dich, wie unsre Stammesväter, Germanen und Gothen, auf den Gräbern ihrer Väter für ihre Ehre und Religion fochten! Erinnre Dich, mit welcher Treue andre Nationen die Gebräuche der Väter, die man Aberglauben nannte, ungeachtet aller Verbote und Strafen, ein Jahrtausend durch bewahrt haben! Erinnre Dich –
D. Wollten wir uns nicht unter diese Linde setzen, Winfried? Die Sonne geht so schön unter.
W. Und läßt alle Gewächse in ihren Farben und theilt allen ihren milden Glanz mit.
D. Eben daran erfreue ich mich. Vor der Abendsonne läßt sich von untergegangnen Nationalreligionen, auf die Du so viel zu halten scheinst, sanft und vertraulich reden. Wirst Du es mir verübeln, Winfried, wenn ich dennoch das Christenthum für die Religion aller Religionen, aller Völker halte? Ein Hirt und eine Heerde ist seine stille Losung. Du kennst dies Bild. Es ist ein beliebtes Symbol des Christenthums auf seinen ältesten Kunstdenkmalen.
W. Der Fischzug Petri wol auch? Sage mir, Dietrich, was unterscheidet, was sondert Nationen? Etwa Flüsse und Ströme?
D. Die überschifft man; Berge und Mauern übersteigt man. Was Völker genetisch unterscheidet, ist – Bildung und Sprache. Unter Bildung verstehe ich nicht sowol Cultivation, sondern Physiognomie der Seele und des Körpers.
W. Und was verstehst Du unter Religion?
D. Ich nehme das Wort in römischem Sinn. Scheu vor den Göttern, heilige Verpflichtung.
W. Wolan nun! in welcher Sprache wird das Herz sich den Göttern am Liebsten und Innigsten verpflichten? Nicht wahr? in des Herzens eigenster, d. i. in unsrer Muttersprache. In welcher Sprache wir lieben, beten und träumen, das ist unsre eigenste, unsre Religionssprache.
D. Daran ist etwas. Selten wird uns zu jeder Art der Unterhaltung jede Sprache gleich recht sein.
W. Und zur Unterhaltung mit dem Urheber unsers Daseins, dem Forscher unsers Herzens, dem Kenner unsrer Gedanken, zu ihm wollten wir anders als aus der Tiefe unsers Herzens reden? Ihm wollten wir eine gelernte, fremde Hofsprache als Formular hersagen?
D. Wenn aber diese gelernte Sprache den Begriffen der Religion angemessener oder kräftiger wäre?
W. Ist sie meinen Begriffen nicht angemessen, entsprang sie nicht aus meinen eigensten Bedürfnissen und Gefühlen, so kräftig sie Andern sei, sie ist nicht meine Religionssprache. Heuchle nicht, Dietrich! Freundschaft und Liebe sowie das innigste Anerkennen der Wahrheit wollen die eigenste Herzenssprache.
D. Und der Cultus?
W. Was nennst Du Cultus? Ist's die Art, wie wir mit Gott und unserm Schutzgeist, mit allen Heiligen und Seelen umgehn, so kann er nicht herzlich und innig gnug werden. Jede erlernte fremde Hof- und Modesprache ist diesem Dienst Heuchelei, Gaukelei, Lüge. Und zwar die ärgste Lüge; denn wer mit Worten, die er spricht, mit Geberden, die seine Gesinnung bezeichnen sollen, Gott nicht treu ist, wie sollte er sich, wie Andern Treue erweisen? Sagen wir Formeln vor ihm, die wir nicht verstehen, spielen Gebräuche, die aus fremden Völkern und Zeiten entlehnt, unserm innern Sinn fremd sind: o, so verdammen wir uns lebendig und leibhaft zur Schattenwelt hinab, wälzend leere Fässer der Danaiden. Oder wir gehen in bleiernen Mänteln daher, wie in Dante's HölleInferno, Canto XXIII. 58–67. – D. die Heuchler. Unter ihnen lechzt unser Geist wie unser Herz, ohne Religion, d. i. ohne innere Gewissenhaftigkeit und thätige Wahrheit.
D. Mich dünkt, wir sprechen von einer individuellen Religion, da wir von Nationalreligionen sprechen wollten.
W. Aus jener werden diese. Aus Familien entspringt ein Volk, aus der Sprache verwandter Stämme eine Nationalsprache. So auch Nationalreligionen. Gehe die ältesten aller Welttheile durch; dem väterlichen Boden entsprossen, auf Stammessagen, auf Familienbedürfnisse und Aussichten, auf die zarteste Physiognomie des Volks, auf die tiefsten Züge seines Nationalcharakters waren und sind alle Nationalreligionen gegründet. Die Religion der Juden selbst, war sie nicht ganz eine Religion Palästina's?
D. Sie war's, nach Zeit- und Ortsumständen, unter denen sie errichtet ward. Als aber die Zeiten sich verändert hatten, taugte sie selbst für Palästina nicht mehr; deshalb eben erschien das Christenthum, um alle verlebten oder sich bald verlebenden Nationalreligionen –
W. Zu zerstören.
D. Halt, Freund! Wozu sandte der Stifter des Christenthums seine Boten unter die Völker? Zu zerstören oder zu lehren?
W. Indem sie lehrten, zerstörten sie, Götterbilder, Opfergefäße, Gebräuche, Tempel.
D. Mögen sie es zur Zeit und Unzeit gethan haben; doch aber lehrten sie. Und in welcher Sprache? Welch Symbol war das Zeichen des Tagesanbruchs, nachdem die Nacht alter Nationalreligionen vorüber war, gleichsam die Weihe des Christenthums? War's nicht eben der Geist der Nationalzungen und Sprachen? Parther und Meder, Elamiter u. s. w., in ihren Zungen hörten sie die großen Thaten Gottes reden.Apostelgeschichte 2, 8–11. – D Dies war des Christenthums Anklang und sollte seine Hauptbestimmung werden. In ihren Sprachen die Völker lehren oder, wie wir sagen, cultiviren, sie halten lehren, was Christus befohlen, die reinen Gesetze der Menschheit nämlich, und Gott im Geist und in der Wahrheit, d. i. in der wahrsten Geistes- und Herzenssprache, anzureden, das war des Christenthums Cultus. Nicht zerstören sollte es Nationalreligionen, sondern sie läutern, ihnen aufhelfen. Daß jede Nation Gott auf die ihr eigenste Weise liebe, dem Nächsten auf die ihm gefälligste Weise diene. »Den Juden bin ich worden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Schwachen ein Schwacher, damit ich Juden und Griechen, auch die Schwachen gewinne.«l. Kor. 9, 20 f. – D. Du weißt, Winfried, wer dieses sprach?
W. Derselbe, der in Athen seine Lehre selbst an den Altar des unbekannten Gottes zu knüpfen wußte.Apostelgeschichte 17, 23. – D.
D. Und der obigem Grundsatz allenthalben gemäß handelte. Jeder seiner Briefe ist für die Stadt, für das Völkchen, an welche er gerichtet ist, so idiosynkratisch geschrieben, als nur er es zu thun vermochte. Und was sagst Du dazu, daß keine der Urkunden des Christenthums, weder in der sogenannt heiligen, der alten ebräischen Sprache, noch in der Mundart, die der Stifter des Christenthums selbst gesprochen hatte, geschrieben ist? Kann wol ein kläreres Document sein, daß es im Christentum keine sogenannt heilige, den Völkern aber fremde Sprache gebe, daß keine sich unter solchem Vorwande als Gottes Hof- und Cabinetssprache sich den Nationen ausdrängen, ihren Sinn benebeln, ihren Verstand Jahrtausende lang gefangen halten sollte.
W. Und doch hat dies die lateinische, die römische gethan, ja, sie thut es noch, fesselnd also, so viel sie kann, die eigne Religion der Völker. Indem der Priester die fremden, vom Volk unverstandnen Formeln ausspricht, stellt er sich zwischen Gott und das Volk, Beide trennend, nicht Beide verbindend. Sprach Christus Latein?
D. Schwerlich verstand er die römische Hofsprache.
W. Und in dieser längst ausgestorbenen wälschen Vulgata müßte jetzt noch, jetzt unter allen Völkern, für alle Völker zu Gott gesprochen werden?
D. Damit das Heilige nicht gemein –
W. Und die Perlen – Ich verstehe. Sobald das Heiligthum aber, in einen Sarg eingeschlossen, wie eine Mumie behandelt wird, ist es auch eine Mumie, ein todtes Heiligthum, das sich vor der Verwesung kaum schützen mag, und das man immer begraben möchte. Wer wollte sich mit der Kapsel, mit dem Sarge, worin die Mumie liegt, lebenslang und täglich umhertragen? Die eigentliche lebendige Cultur der Völker, womit fing sie immer an, Dietrich?
D. Mit der Erweckung und Bildung ihrer Sprache.
W. Und diese hing an der Religion.
D. Gewiß! Und eben deshalb ereiferst Du Dich umsonst. Winfried. Erinnere Dich des trefflichen Ulfila! Durch eine Übersetzung der Evangelien, d. i. durch Cultur der Sprache seiner Gothen, bildete er diese. In den dunkeln Mittlern Zeiten, womit fing die Aufklärung des gesammten Europa an? Durch Übersetzung der Bibel in die limosinische und andre Nationalsprachen. Sobald dem Volk seine Sprache wiedergegeben war, waren ihm auch Verstand, Herz und Seele zurückgegeben; es fühlte, daß es denken könne, und dachte. Das that das Christentum; jeder verständige Missionar machte es also.
W. Nicht aber jene Heiligthümer der Kapsel; sie bewahrt eine fremde, todte Sprache.
D. Wir lassen sie stehen, wo sie steht. Umsonst ist alle Einsargung und Beschränkung. Vergraben läßt sich die Wahrheit auf eine Zeit lang, aber nicht begraben. Das Herz der Menschen will selbstgefühlte Religion, der Verstand der Menschen will selbstgedachte Wahrheit. Gewiß hast Du es oft schmerzhaft empfunden, wenn man die Wahrheit unwahr, das Lebendigste in todten Formeln sagte; ich wie Du. Mir war's, als ob man eine blühende Jungfrau mit Tüchern aus Grüften bekleidete und mit alten Masken bedeckte.
W. Das fühlt jedes Gewissen. Daher das Widerstreben der Völker, wenn man ihnen mit ihrer Sprache die Religion ihrer Väter entnahm. Daher, als nach langem Todesschlaf unter dem drückenden Joch fremder Worte und Gebräuche das Menschengefühl wieder erwachte, die sonderbare Freude. Kennst Du den Deutschen, Dietrich, der mit der ächten Sprache seines Volks ihm auch ächte Religion, d. i. Ueberzeugung, Glaube, Geist und Herz zurückrief? Protestantismus gegen alles Unbehörige, alles Fremde.
D. Du meinst Luther. Ach, daß der große Mann nicht erreichen konnte, was so sehr zu wünschen gewesen wäre, eine Kirche seiner Nation, eine deutsche Kirche!
W. Eine deutsche Kirche, Dietrich? Das wäre des großen Mannes unwerth. Bemerke, was aus Heinrich's VIII. englischer und sonst aus jeder abgeschlossenen Kirche ward! Sie verwesen bei lebendigem Leibe. Aber Religion, die reine, freie Religion der Gewissenhaftigkeit des Verstandes und Herzens wollte Luther seinen Deutschen geben. Und hat sie ihnen gegeben, wiefern seine Zeit es zuließ.
D. Leider also nicht allen Deutschen. Auch ist seine Sprache in Manchem selbst veraltet.
W. Verjünge man sie! Aber sie verjüngt sich, unaufgehalten, unwiderstreblich. Hältst Du es für nichts, daß, seitdem er schrieb, jeder Deutsche, wenn er vom bessern Theil der Nation gelesen sein will, evangelisch, protestantisch, Lutherisch schreiben muß, und wenn er es auch wider Willen thäte? Das Larvenfest, die Zeit der Nachäffung fremder Völker und Zeiten, ist vorüber. Protestantisch gegen Irrthümer und Aberglauben, zu Jedermanns eigner Ueberzeugung muß Jeder schreiben, oder man spottet seiner, und er wird nicht gelesen.
D. Wenn nun aber Keiner unsrer Großen Deutsch läse?
W. Desto schlimmer für sie. Wer sich seiner Nation und Sprache schämt, hat die Religion seines Volks, also das Band zerrissen, das ihn an die Nation knüpft. Ich fahre fort zu glauben, daß wer jetzt, worüber es sei, reine Gesinnungen, die Kraft seines Geistes und Herzens auf den Altar des Vaterlandes legt, das Werk Luther's fortsetze und Nationalreligion im engsten Sinne des Worts, d. i. Gewissenhaftigkeit und Ueberzeugung fördre.
D. Ein ächt protestantischer, Lutherischer Glaube. Und in diesem Verstande, Winfried, wünschtest Du Nationalreligionen aller Völker der Erde?
W. In diesem. Zum Frieden der Welt, zu Ausbildung jedes Volks auf seinem Stamm, in seinen Zweigen. Keine fremde Sprache oder Religion wird sodann die Sprache und das Gemüth einer andern Nation, welche es auch sei, despotisiren; an einen Oberhirten aller Menschenheerden, deren Sprache die Nation nicht versteht, deren innigste Bedürfnisse sie nicht kennt, wird man gar nicht denken. Jede Nation blüht wie ein Baum auf eigner Wurzel, und das Christentum, d. i. ächte Ueberzeugung gegen Gott und Menschen, ist sodann nichts als der reine Himmelsthau für alle Nationen, der übrigens keines Baumes Charakter und Fruchtart ändert, der kein menschliches Geschöpf exnaturalisirt. Friede wird sodann auf der Erde, Friede!
D. Und Wohlgefallen der Menschen an einander. Siehe, wie schön die Abendsonne sinkt! Und Wohlgefallen der Menschen an einander. Wie jener Soliman sein Reich übersah, eine Wiese voll mancherlei Blumen, einen Garten voll mancherlei Früchte, so würde das Menschengeschlecht eine Familie der verschiedensten Charaktere und Nationalreligionen, die es wirklich ist und nicht anders als sein kann, zu einem Zweck.
W. Und jede Religion, ihrer Stelle angemessen, strebte auf dieser Stelle die bessere, d. i. die beste ihrer Art zu werden, ohne sich mit andern zu messen und zu vergleichen. Unterscheiden sich Völker nicht in Allem, in Poesie und Lust, in Physiognomie und Geschmack, in Gebräuchen, Sitten und Sprachen? Muß Religion, die an diesem Allem Theil nimmt, sich also nicht auch national unterscheiden?
D. Selbst individuell; so daß am Ende Jeder seine Religion, wie sein Herz, seine Ueberzeugung und Sprache besäße –
W. Und kein Andrer über das Innerste im Herzen eines Andern richten dürfte. Wenn er bescheiden ist, wird er nicht einmal nach diesem Geheimniß fragen. Daß die sogenannte Fortpflanzung und Verbreitung des Christentums damit eine andre Art gewönne, darf ich Dir wol nicht sagen.
D. Daß manche nutzlose Mühe dadurch erspart würde, auch nicht. – Die Sonne sank. Sie war einige Secunden vorher untergegangen, als wir noch ihr Bild zu sehen glaubten. Sprechen wir uns morgen bei ihrem Aufgange wieder! Lebe wohl, alma mater! und bringe dort andern Nationen einen fröhlichen Morgen. Lebe wohl, Winfried!
Zweites Gespräch.
Bilder von Nationalreligionen.
Dietrich. So früh und fleißig bei Zimmermann's zoologischer Weltkarte?In E. A. Zimmermann's »Geographischer Geschichte des Menschen und der vierfüßigen Tiere«, 3 Bde. 1778-1783, nebst einer »Kurzen Erklärung« dieser Karte. – D.
Winfried. Eine lehrreiche Karte. Ich wünschte nur, daß sie zweimal größer wäre.
D. Und Breitenbauch's Karte der Völkerstämme und ReligionenIn G. A. von Breitenbauch's »Religionszustand der verschiedenen Länder der Welt in den älteren und neuern Zeiten«, Leipzig 1787. – D. daneben?
W. Als Karten kommen sie zusammen zu einem Spiel. Gestern Abend beim Rückgange fiel mir bei, daß, da die Thiergattungen klimatisch vertheilt sind, und in jenen Zeiten, als Nationalreligionen sich bildeten, die Menschen im Umgange mit Thieren als ihren Freunden und Feinden lebten, nothwendig auch ihre Religionen nicht nur ihre Thiere zu Symbolen ihrer Religionsbegriffe gewählt, sondern vielleicht auch in Manchem den Habitus dessen, was ihnen ein heiliges Thier war, angenommen haben mögen. Davon träumte ich, und so durchgehe ich jetzt die zoologische und Religionenkarte unsrer Erde mit einander.
D. Und fandest –?
W. Was man leicht findet, wenn man einen Traum sucht: ich fand meine Idee bewährt.
D. Wolan denn! Laß mich Deinen Traum, den Thierkreis menschlicher Religionen hören! Träume erzählt man gern; und Deine Lieblingsidee von Nationalreligionen wird mir dadurch sinnlich. Wir fangen von China an.
W. Die Religion des großen Reichs, nach Ständen abgetheilt, politisch-künstlich geordnet, erschien mir prächtig – die Religion des Kaisers in dem Sinnbilde, das er auf der Brust trägt, Symbol seines himmlischen Ursprungs und Amtes, nicht minder der Macht, des Reichthums und der unbegreiflichen höchsten Würde, kurz, des königlichen Drachen oder, wenn Du lieber willst, des Hang-Hoang, des Königes der Vögel. Ich könnte Dir es schön ausmalen, und doch bliebe es unter der Idee des Traumes.
D. Und die Religion der Mandarine?
W. Unter der Gestalt jenes Fabelthiers, das Glück bringt, des Kilin. Als Confucius geboren werden sollte, erschien es; vor seinem Tode erschien es wieder. Die Religion thätiger Weisen, wenn sie thun dürfen, was ihnen das Sittengesetz auflegt, bringt Glück der Erde. Im Traum sah ich das fabelhafte Geschöpf prächtig; sogar holte ich ihm einen glücklichen Stein aus seinem Munde.
D. Und schrittest sodann zu Deinen guten Hindus; was zeigte Dir von ihnen der Traum?
W. Höre, was Wischnu sprach, als er vor Arjun da stand:Aus der Bhagavad-Gîtâ, die Herder in der englischen Übersetzung von Wilkins kannte. (Vgl. Herder's Werke. VI. S. 25.) Wir können jetzt den Leser auf Boxberger's treffliche Uebersetzung (Berlin 1870), 10, 20 bis 11, 29 zur Vergleichung verweisen. Herder mußte sich, um verständlich zu sein und nicht einer großen Zahl erklärender Anmerkungen zu bedürfen, großer Freiheit bedienen. Schon im zweiten, 1792 erschienenen Stücke »Ueber Denkmäler der Vorwelt« (im folgenden Theile von Herder's Werken) war diese Stelle der Bhagavad-Gîtâ angeführt. – D.
»Ich bin der Schöpfung Geist, ihr Anfang, Mittel und Ende,
Aller Naturen das Edelste stets in allen Geschlechtern.
Unter den Himmlischen Wischnu, die Sonne unter den Sternen,
Unter den Lichtern der Mond, in den Elementen das Feuer,
Meru unter den Bergen, das Weltmeer unter den Wassern,
Unter den Lehrern der Lehrer der Geister, unter den Worten
Das geweihete Wort, einsilbig und unaussprechlich.
Unter den Seelenkräften Gemüth, Verstand in den Thieren,
Unter Gebeten das stille Gebet, das edelste aller.
Führer des himmlischen Heers und in allen Geschlechten der König,
Unter den Strömen der Ganga, Asvata unter den Bäumen,
Unter den Rossen das Roß, das aus den Wellen des Milchmeers
Sprang, und der Elephant, aus eben den Wellen geboren;
Unter den Heerden die Kuh des Ueberflusses, der Schwertfisch
Unter den Fischen, der himmlische Garur in dem Gefieder,
Unter den Schlangen bin ich die gekrönt-unsterbliche Schlange.«
D. Fahre fort!
W. Fast zittre ich, fortzufahren.
»Unter den Reinigern bin ich der Wind und unter den Helden
Ram, wie unter den Waffen der Schlacht der Blitz und der Donner.
Unter den Wissenschaften die Kunst, den Geist zu beherrschen,
In vergänglichen Dingen ihr Anfang, Mittel und Ende.
»Ich bin die Ehre, der Ruhm und das Glück, der Verstand, das Gedächtniß,
Tapferkeit und Geduld und der Harmonien die schönste.
Unter den Jahreszeiten der Frühling; unter Anschlägen
Bin ich Gewinn und in Kämpfen der Sieg und der Fleiß in Gewerben,
Bei dem Geheimniß Schweigen und unter Weisen die Weisheit.
Aus dem Kleinsten erschuf ich das All, sah an es und ruhte.
Millionen Formen von allen Geschlechtern und Arten,
Alle belebet und wiederbelebt in Gestalten und Farben:
Das ist meine Gestalt.Im Indischen zeigt Wischnu sich erst auf Ardschuna's dringenden Wunsch, und er macht ihn weitläufiger auf das aufmerksam, was er in ihm sehe. – D. Auf! sieh mit erhelletem Auge
Mich, wie ich bin!«
Arjun sah die hohe Gestalt in himmlischer Zierde,
Vielbewaffnet, mit Kränzen geschmückt und köstlichen Kleidern,
Duftend von Wohlgerüchen, bedeckt mit seltenen Wundern.
Allenthalben umher sein Haupt und Auge gerichtet,
Stand der Unendliche da; die Gestalt des obersten Gottes
Hielt die Welten in sich, geschieden in aller Verändrung.
Uebertäubt von den Wundern, das Haar vor Schrecken erhoben,
Sank der Anschauende nieder und betete staunend den Gott an:
»Ew'ger, ich seh' in Dir die Geister alle versammelt,
Alle Gestalten der Wesen. Ich seh' den schaffenden Brama.
Thronend auf dem Lotos, in Dir! Ich schaue Dich selbst an,
Deine zahllosen Waffen und Formen und Augen und Glieder,
Und doch seh' ich in Dir nicht Anfang, Mittel und Ende,
Geist der Dinge, Du Form des Alls! Ich schaue die Krone
Deines Haupts, eine strahlende Glorie, gießend in alle
Fernen unendliches Licht, die Welten alle Dein Abglanz.
Alle schauen Dich an und freu'n sich Deiner und zittern,
Zittern ob Deiner Riesengestalt mit unzähligen Augen,
Häuptern und Gliedern und Armen und Brüsten. Die Helden der Erde,
Reiche beherrschend, sie stürzen in Deinen verschlingenden Athem,
Wie ins wogige Meer die zerrollenden Ströme sich stürzen,
Wie in die Flamme des Lichts der Mücken eine verschwindet.«
So sah ich den Gott, und er entschwand. Denke, wie mir dabei im Traume war!
D. Einem solchen Bilde entspricht keine Thiergestalt; es ist der klarste Pantheismus.
W. Sieh indeß diese beiden Gemälde!Zwei Gemälde der Braminen, anderswo beschrieben. – H. [In dem Aufsatze: »Palingenesie«, in der sechsten Sammlung der »Zerstreuten Blätter«, im nächsten Theile von Herder's Werken, – D.] Hier den Elephanten, aus lauter lebendigen Thieren organisch zusammengesetzt, jedes an seiner Stelle bedeutend. Ruhig tritt er einher, und über ihm sitzt die erhabne Gestalt mit der heiligen Flamme: das Weltall in Ruhe.
Jetzt sieh hier das fliegende Roß, gleichergestalt aus lauter Lebendigem organisirt, und auf ihm sitzend den treibenden Genius, in dem Alles lebt und sich bewegt: das Weltall in Bewegung.
D. Fast möchte ich sagen: »Ich zittre, wie Arjun.« Weiter! Wie sahst Du die alte Religion Persiens im Traum?
W. Prächtig. Unter den Elementen war das Feuer, unter den Himmelskörpern die Sonne ihr Symbol; der alte König des Persepolitanischen Grabmals stand vor ihrem Altar, die heilige Gestalt über ihm schwebend. Und neben ihm stand der Hund, der Perser heiliges Symbol unter den Thieren.
D. Ich habe mich darüber gewundert.
W. Der Hund, der nach aller Wahrscheinlichkeit zuerst dort am Gebirge Asiens den Menschen dienend und nutzbar gemacht worden, schickte sich sehr wohl zur Religion Zerduscht'. Seine Wachsamkeit für das Haus, seine unterwürfige Treue gegen seinen Herrn und Wohlthäter sammt so viel andern Vorzügen der feinen Sinne, der Aufmerksamkeit, der Anhänglichkeit an Menschen drückte die Pflichten lebend aus, die Zerduscht' Religion in Gebräuchen und Worten jedem Perser auflegte. Es war eine häusliche, das Land bauende, ökonomische Religion, die Treue und Wachsamkeit in jeder Pflicht, in nacht- und täglichen Stunden, nach Jahres- und Tagszeiten, nach Ständen und Lebensaltern forderte. Konnte sie ein besseres Thier wählen? Ach, daß die wilden, die grausamen Araber diese Religion zerstörten!
D. Und diese Araber? wie erschienen sie Dir?
W. So lange sie in der Wüste lebten, war ihr Denkbild das lebendige Schiff der Wüste, das Kameel. Mit weniger Speise und fast keinem Trank gesättigt, ausdauernd und geduldig, dabei rachsüchtig, hart und wild in der Brunst, ist das Kameel ein lebendes Symbol des vielertragenden, stolzen, dürren, eifersüchtigen Arabers, dessen Haushalt sich ohnedies ans Kameel fügt. Seine altväterliche Religion war in eben dieser Weise, eine Religion Ismael's und der Wüste. Als nach Mohammed's Zeit dies Volk in reichere Länder kam, schwang es sich vom Kameel aufs Roß; muthig, stolz, kriegerisch und galant wie dieses. Auf mancher Vega in Spanien tummelten sich Reiter und Roß vor den Augen der Schönen in Lustkämpfen umher, stolz auf ihren goldnen, farbigen Schmuck, auf Pfänder der Ehre und Liebe. Mann und Roß hätten fast die Welt bezwungen; so glänzend sah ich sie im Traume.
D. Wachend zeigt Dir die zoologische Karte ein Anderes. So wenig das Kameel für kalte Gegenden geschaffen ist, so wenig ist's der Araber und sein Mohammedanismus. Dafür hat er sich wie die Kameele in den wärmeren Welttheilen weit verbreitet. Afrika hindurch, in Asien bis über die Gebirge, bis gen China, bis in die Inseln, so weit Kameele und Rosse ihn trugen; da reitet und trabt er noch. Aber erzähle weiter!
W. Des alten Aegyptens Sinnbilder sind bekannt. Apis dem Osiris, die Kuh der Isis geweiht. Kein Volk beweist so viel für meine Nationalreligionen als diese Völker, Aegypter und Hindus.
D. Und die Juden?
W. Es war ein Thier- und Zahlensymbol. Rathe!
D. Wer erräth einen Traum? Lieber zu meinen Griechen. Wie sahest Du sie?
W. Menschheit war die Gestalt ihrer Religion, eine edle, schöne Menschheit. Das Thier gaben sie dem Gotte nur bei. Seinen Körper trennten sie ab von aller Thierheit und suchten jeder Menschenform, jedem Menschenalter ihre Ideale. Diese sah ich im Traum. Ein Olymp der Wonne in allen Gestalten.
D. Treffliches Volk! Daher auch ihre Poesie und Philosophie in Formen und Begriffen so menschlich war. Ich wollte, daß Du mir sie wie jene der Indier darstelltest.
W. Und ich möchte wie ein gerufener Geist vor dem Zauberkreise sagen: »Entlaß mich!«
D. Und ich antworte wie Odin der weissagenden Vola:Im Wegtamsliede, 13 bei Simrock. – D.
»Nicht also, Jungfrau!
Ich frage weiter
Und lass' nicht ab,
Bis ich Alles weiß.«
Die Religionen der europäischen Völker, wie sahest Du sie?
W. Du weißt, zuletzt verwirrt sich der Traum. Ich sah Mancherlei, größtentheils wilde Gestalten; den Grönländer mit seinem weißen Bär, den Lappen mit seinem Rennthier, den Altpreußen mit seinem Elenn, den Altdeutschen mit seinem Ur. Fingal sah ich mit seinen Hunden, und Ossian's Harfe tönte darein. Dann verwirrte sich der Traum noch mehr. Ich sah Wölfe und Tiger, Adler, Klapperschlangen, Ynguams. Der Traum ward ängstlich.
Da schwebte eine Taube herab, umflossen mit himmlischem Glanz, und brachte den Oelzweig. Da sah ich ein Lamm gehen zum Altare; es brachte zum Opfer sich selbst dar. Nach und nach flohn vor dem Lamm alle jene schrecklichen Thiergestalten. Endlich schwebte ein Weib hernieder, eine Mutter; sie trug einen Knaben im Arm und setzte sich freundlich nieder. Ein andrer feuriger Knabe spielte mit dem Kinde, brüderlich, herzlich; die Mutter sah sanft auf sie nieder. Plötzlich ertönten um sie himmlische Töne; ihr Angesicht glänzte; um ihr Haupt leuchteten Sterne. Jetzt blickte sie mich an, wollte sprechen zu mir, und – ich erwachte.
D. Belehrt über Deine Nationalreligionen, als ob sie zu Dir gesprochen hätte. Bedarf's der Rede?
W. Und doch wünschte ich ein Wort aus ihrem Munde vernommen zu haben. Jetzt fehlt dem Traum etwas.
D. Wohl, Freund, ich will ihn fortsetzen, heut Abend unter den Sternen. An der Linde finden wir uns. Jetzt von Träumen zu Geschäften.
Drittes Gespräch.
Die Adrastea des Christenthums.
Dietrich. Ehe ich meinen Traum an den Deinigen knüpfe, Winfried, muß ich Dir seine Entstehung erklären. Du weißt, Träume kleiden sich am Liebsten in das Gewand von Jugendeindrücken, die zu jeder neuen Einkleidung fertig in unsrer Seele lagen.
In meiner Kindheit hatte ich einen aus dem Spanischen übersetzten geistlichen Roman gelesen, in welchem ein Verlangender, der Thorheit der Welt müde, die Liebe Gottes aufsuchte; zu einer andern Zeit kann ich Dir von ihm erzählen.Er ist unter dem Namen Schatz der Seele (Tesoro dell' anima) fast in allen Sprachen, aus dem Französischen von 1551 ins Deutsche übersetzt 1619 erschienen. – H. [Ueber die französische Übersetzung dieses Märchenbuches hatte Wieland, der es nur aus den Mélanges tirés d'une grande Bibliothèque kannte, bereits früher im Merkur (1780, Novemberbeft) berichtet. – D.] Auch hatte ich in manchen Büchern geistliche oder politische Sinnbilder (Empresas) mit Lust durchblättert. Aus Eindrücken der Art entstand mein Traum.
Ich war der Verlangende selbst, der, unbefriedigt mit sich, ich weiß nicht was, suchte. Da rief eine Stimme vor mir her: »Wandrer, wohin? Du suchest Frieden? Friede wohnt hier!« Sie zog mich hiehin und dorthin im Traum, unruhig, ängstig. Ich kam vor ein Kloster; die Stimme rief: »Du suchest Frieden!« – »Wohnet er hier?« fragte ich; die Stimme schwieg. Ich kam vor einen Lehrsaal, vor ein Concilium zankender Weisen, auf einen Markt, in einen Rath, vor eine geheime Gesellschaft; die Stimme ging immer vor, und wenn ich sehnend fragte: »Wohnet er hier?« schwieg sie. Zuletzt fand ich mich einsam in der Mitte eines Waldes, auf einem freien, ringsum dicht umschlossenen Platz, wie in einem heiligen Kreise. Es war dunkle Nacht, über mir leuchteten die Sterne. Abermals ließ sich die Stimme und glücklicherweise auch die Antwort hören:
»Du suchest Frieden;
Er wohnt in Dir!«
Melodisch, als ob alle Sterne zu mir herabsängen, ertönten die Worte; mein Innerstes erklang.Vgl. Herder's Gedicht »Friede« (Werke, I. S. 54 f.), dessen Fassung wol früher fällt. Herder führt hier Stellen desselben aus dem Gedächtnisse an. – D.
Auf sah ich, und vor mir schwebte ein Auge, das mich durchdrang. Ein so helles Auge, als ich nie in der Welt sah; der Glanz aller Geister und Seelen war in ihm. Ernst-freundlich blickte es mich an, unbeweglich. Ich konnte dem Blick nicht entweichen, der tief und tiefer mich ergriff; ich fühlte, daß er mir immer gegenwärtig sein und bleiben würde, der prüfende Blick des Weltalls. Es war, als sängen mir alle Sterne:
»Das Tiefverborgne wird offenbar;
Dies Auge siehet hell und klar.«
Ich erwachte in einer sonderbaren Empfindung; alle Zustände meines Lebens standen mir als Ursachen und Folgen auf einmal da, und vor mir stand das durchdringende Auge. Ich sehnte mich wieder nach meinem Traum.
Und fand mich in ihm auf derselben Stelle im dichten Hain. In der Mitte des Platzes stand jetzt ein Altar, auf ihm lag ein Buch, geschrieben in wunderbaren Charakteren. Ich blätterte darin, verstand nichts, sah aber, daß die Charaktere die Blätter durchdrangen und auf der andern Seite des Blatts eine ganz andre Gestalt sichtbar machten, als die Vorderseite darstellte. Die Rückseite klärte die Vorseite auf, und das ganze Buch war Fortgang. Das himmlische Auge blickte mich an, und ich sah mein eignes Leben in diesem Buch; aber verschwunden waren in diesem Augenblick Buch und Altar, und vom Pol herab schwebte zwischen Himmel und Erde eine allmächtige Wage. »Vergeltung!« rief eine Stimme; mir war's, als sängen alle Sonnen und Sterne das einzige, ewige Wort »Vergeltung!«Vgl. Herder's Gedicht »Die Wage« in den Werken, I. S. 190. – D. Durchdrungen vom Gefühl des großen Gleichgewichts, das in der Natur Alles hält und trägt, das das Bewegte zur Ruhe bringt und das Ruhende bewegt, in Stoß und Druck ebenso sichtbar als in der moralischen Welt, erwachte ich zum zweiten Mal und freute mich einer Welt, die, auf so feste Gesetze gegründet, Allem Maß und Ziel giebt, und zu der auch ich gehörte. Nichts, fühlte ich, verklinge in der Schöpfung, Alles wecke und halte seinen Ton. Nur das Nichtige gehe unter.
Der Traum umfing mich zum dritten Male. Auf einem viereckten Marmorfuß voll emblematischer Bilder stand eine Säule vor mir; so hoch und schön sah sie mein Auge nie. In schlanker Verjüngung hob sie sich zu den Sternen, oben bekränzt mit einem hellen Kranz. Nicht Lorbeer waren seine Blätter, sondern Myrten und Rosen. »Standhaftigkeit!« rief eine Stimme, und von allen Sternen erklangen Gesänge, von denen mir nur die letzten Worte blieben:
»Mißklang löset sich auf in Wohlklang.«
»Mißklang löset sich auf in Wohlklang!« hallte mein Innerstes zurück, und an der Säule ging hervor – wie nenne ich Dir, was jetzt mein Blick sah? die ewige Wage des Weltgerichtes. Auf der einen Schale lauter vorübergehende Scenen; jetzt Kronen, Scepter, Schwerter, Waffen, Ehrenstäbe: die Schale flog auf, zerbrochen und zerstreut fielen sie nieder. Jetzt Ungeheuer, Schlangen, Skorpionen; sie wütheten, verzehrten einander oder stürzten herab. Leer flog die Schale empor, voll Dampf und Rauch. Auf der andern niederschwebenden stand – heiliger Anblick! – der Christenkelch in seinem bescheidenen Glanz; über ihm lag das Brod der Barmherzigkeit und Milde. Und so liebreich blickte mich das Auge an! Ich fühlte in ihm das Sensorium der ganzen Schöpfung, das Alles sehe, Alles empfange, verzeichne und erstatte. Die Stimme sprach: »Was Ihr gethan habt der Geringsten Einem, thatet Ihr mir!«Matth. 25, 40. – D. Dampf und Nebel der zweiten Schale waren verschwunden; sie schwebte dieser gleich, und auf ihr, dem Kelch gegenüber, blühte die Lilie, wehte die Palme. Friede war in mir; ich erwachte.
Nun weißt Du, Winfried, was meine Religion aller Religionen sei. Eine Adrastea ist's, aber in einer weit höheren Gleichung, als ihr die Griechen je gaben. Diesen war sie zuerst eine neidige, dann eine warnende oder strafende Göttin; ihr höchster Sinnspruch war: »Nicht über das Maß!« Die Nemesis des Christenthums setzt in der moralischen wie in der physischen Welt Gleichgewicht und Vergeltung in Allem, dem Geringsten und Größten, als Naturgesetz zum Grunde, die Bestimmung des Menschen aber hebt sie zu Ueberwindung des Bösen durchs Gute, zur beharrlichen Großmuth wohlthätig empor. Menschlichkeit endlich macht sie zur Zunge der Wage und, als Compensation der Vorsehung, gleichsam zur entscheidenden Stimme des Weltrichters, des Richters, der immer kommt und da ist, der Alles empfängt und Alles vergütet.
Ist diese Religion nicht allgemein? ist sie nicht in jedes Menschen Herz geschrieben? oft aber unter einem Schleier, oft unter viel Hüllen verborgen. Wegzuthun sind diese Hüllen, damit die ewige Regel, das allgegenwärtige Auge sichtbar, das Buch auf dem Altar ihm aufgeschlagen werde. Ist dies, so mögen alle Nationen sich ihres Gottes, ihres Landes und ihres Lebens freun und Feste feiern. Der Kelch des Christenthums in Wohlthätigkeit und stillem Erbarmen, in brüderlicher Gemeinschaft, Verzeihung und Großmuth, in Geduld endlich und Beharrlichkeit wird immer das Fest der Feste bleiben.
Winfried. An jenem Angelstern, der Weltachse, sagtest Du, hing die Wage. Die Sterne blicken uns an. Jenen himmlischen Wagen droben nennen die Araber des erweckten Lazarus Bahre; die Sterne hinter ihr sind ihnen Lazarus' weinende Schwestern.S. Eichhorn's »Allgemeine Bibliothek«, B. 7. St. 3. S. 398. – H. Alles schweigt um uns, und Alles erklingt. Alles scheint still zu stehen, und es eilt.
Alas! our sights so ill,
That things which swiftest move, seem to stand still. »Weh' uns, daß wir so schwach und übel sehn!
Der schnellste Flug, uns scheint er still zu stehn.«
Cowley. – H.
Und was kommt, sehen wir gar nicht. Mitternacht schlägt. Träume sanft, Dietrich!
Hartley's zweiundachtzigster Lehrsatz.David Hartley's »Betrachtungen über den Menschen, seine Natur, seine Pflicht und Erwartungen« [übersetzt von Pistorius, Rostock 1772], Theil 2. S. 416. – H. [Hartley war 1757 gestorben, seine Schrift acht Jahre vorher erschienen. Den dritten und letzten Theil gab Priestley 1775 heraus. – D.
»Es ist wahrscheinlich, daß die gegenwärtigen Formen des Kirchenregiments aufhören werden.«
»Dieser Lehrsatz folgt aus dem vorigen.Dieser vorige Lehrsatz hieß: »Es ist wahrscheinlich, daß alle gegenwärtige bürgerliche Regierungen werden umgestoßen werden.« So wenig an diesem als dem auf ihn gebauten zweiundachtzigsten sogenannten Lehrsatz nimmt der Herausgeber der Adrastea Antheil. – H. Die bürgerliche und die kirchliche Macht sind in allen christlichen Ländern so in einander gewebt und so mit einander verbunden, daß, wenn die erste fällt, die letzte auch fallen muß.
»Wir haben manche Weissagungen, welche den Fall der kirchlichen Macht in der christlichen Welt verkündigen. Und obgleich eine jede Kirche sich mit der Hoffnung einer Ausnahme für sich zu schmeicheln scheint, so ist es doch sehr deutlich, daß die Merkmale, welche die Propheten angeben, auf sie alle gehen. Alle haben sie die wahre, reine, einfältige Religion verlassen und lehren Menschengebote als göttliche Lehren.Doch, hoffen wir, eine mehr als die andre. Im ächten Protestantismus bedarf's keiner Menschengebote als göttlicher Lehren. H. d. A. – H. [Soll wol heißen A. d. H., »Anmerkung des Herausgebers«, wie wir bei den drei folgenden Anmerkungen gesetzt haben, bei welchen jede Bezeichnung fehlt. – D.] Sie sind alle Kaufleute der Erde und haben ein weltliches Reich, wo Reichthümer, irdische Macht und äußerlicher Pomp überflüssig anzutreffen sind, aufgerichtet.Zunächst geht dieses wol auf die englische hohe Kirche. Im protestantischen Deutschland finden diese Reichthümer, dieser Pomp, diese Macht keine Stätte. – A. d. H. Sie haben alle einen dogmatisirenden Geist und verfolgen Diejenigen, welche ihr Zeichen nicht annehmen und das Bild, das sie aufgestellt haben, nicht anbeten. Sie verabsäumen alle den Befehl Christi, das Evangelium allen Völkern zu predigenNicht alle; aber wie? und in welcher Absicht? – A. d. H. und selbst zu den verlornen Schafen vom Hause Israel zu gehen, deren eine unzählbare Menge in allen christlichen Ländern ist, die niemals unterrichtet worden sind zu lesen, und welche auch in andern Absichten der Mittel, zur seligmachenden Erkenntniß zu gelangen, beraubt sind. Es ist sehr wahr, daß die römische Kirche die große Babylon, die Mutter aller Gräuel auf Erden ist; aber alle übrige Kirchen haben mehr oder weniger sie zum Muster genommen. Ihre verderbten Regierungen werden sich immer dem wahren Evangelium entgegensetzen, und eben dadurch werden sie sich selbst den Untergang zuziehen.Dies Alles wird in der Folge geprüft werden. – A. d. H.
»Aus diesen Betrachtungen folgt, daß gutgesinnte Menschen um des Gewissens willen sich sowol der festgesetzten kirchlichen Macht als jeder bürgerlichen unterwerfen müssen. Sie sind beide von Gott, sofern sie sich auf die Untergebnen beziehen; und es ist wahrscheinlich, daß Diejenigen, welche dereinst den Untergang der Formen des Kirchenregiments verursachen sollen, solches nicht aus reiner Liebe und christlichem Mitleiden, sondern aus höchst falschen Bewegungsgründen vornehmen, folglich die strengsten Züchtigungen am Ende sich selbst zuziehen werden. Es ist daher die Pflicht aller guten Christen, beides,beides nach älterem Gebrauch für sowol – als auch. – D der bürgerlichen und kirchlichen Gewalt, unter welchen sie geboren sind, zu gehorchen, wofern ihnen nicht Ungehorsam gegen Gott befohlen wird, welches selten der Fall ist, Unterwürfigkeit und Gehorsam bei Andern zu befördern, Fehler sanftmüthig zu verbessern und für den Frieden und die Glückseligkeit ihres Jerusalems zu beten.«