Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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10. Das Drama.

Jahrhunderte vor der Geburt der italienischen und französischen Oper gab es ein Volk, das dem Melodrama eine hohe Gestalt gegeben hatte, die Griechen. Ihr Heldenspiel (denn warum sollten wir's Trauerspiel nennen, da die griechische Tragödie nicht eben traurig ausgehen durfte?), ihr theatralisches Heldenspiel war ganz Melodrama. Blos aus diesem Grundsatz läßt sich, wie sein Ursprung, so seine Einrichtung und Wirkung erklären.

Aus Freudengesängen und Freudentänzen an Festen des Bacchus genommen, blieb nämlich der Chor seine Grundstütze. Zwei, drei handelnde Personen traten dazwischen. Warum nicht mehr? In jeder Gesellschaft fühlen wir, daß zwei, drei Personen, gleichsam natürlich, in eine Consonanz oder gar in einen Accord treten, mit allen Variationen, die jede Umsetzung des Gespräches giebt. Mehrere werden nur Nebentöne, gar Dissonanzen; ein wildes Gewirr von Stimmen endlich stört und ermüdet. So bei dem griechischen Drama. Ein hoher Einklang herrscht durch alle Gänge der Begebenheit oder Leidenschaft über dem Grundton des Chors in wenigen, aber trefflich zusammengestellten Charakteren. Wohl der Seele, die dies geistige Melodrama empfindet!

Ein Grieche, der in unser Trauerspiel träte, an die musicalische Stimme des seinigen gewöhnt, müßte ein trauriges Spiel in ihm finden. »Wie wortreich stumm,« würde er sagen, »wie dumpf und tonlos! Bin ich in ein geschmücktes Grab getreten? Ihr schreit und seufzet und poltert, bewegt die Arme, strengt die Gesichtszüge an, raisonnirt, declamirt; wird denn Eure Stimme und Empfindung nie Gesang? vermißt Ihr nie die Stärke dieses dämonischen Ausdrucks? Laden Euch Eure Silbenmaße, ladet Euer Jambus Euch nie denn ein zu Accenten der wahren Göttersprache?

»In Athen war's anders. Unser Theater erklang vom Jamb und Trochäus, vom Choriamb und stürmenden Anapästen. Versucht's und leset sie laut! Ob unsre Aussprache, unsre Declamation, Action und Musik Euch gleich verloren sind, Eure Kammer wird Euch zu eng, Euer Haus voll schallender Luftgenien werden, indem Ihr sie nur leset.Wer die Griechen in ihrer Sprache nicht lesen kann, lese sich Bothens Übersetzung des Euripides laut vor. Ein erster kühner Versuch, dem andre folgen mögen. In ihm wird ein Geist laut und lebendig, an den uns eine schleichende Prose-Uebersetzung kaum erinnert. – H. (Vgl. Gleim's Brief an Herder vom 12. October 1800 und die Aeußerung von Herder's Gattin an Gleim aus dem Januar 1802. – D.) Denkt Euch dies bestimmt fortgehende, immer wechselnde Melos, unterstützt jetzt von der Flöte, jetzt von andern Instrumenten, wie es Scene und Leidenschaft forderten, hört es im Geist und verstummt über Eure verstummte Bühne!

»Und diesem hohen Tongefolge, was legten wir ihm unter? Etwa nur Liebesseufzer? Galanteriephrasen? Tändelei mit der Empfindung, der Sprache, dem Gedanken? Reimspäße? Nichts weniger. Einen großen Kampf menschlicher Leidenschaften unter der höchsten Macht, dem Willen des Schicksals. Einen Knoten der Begebenheit, der nur durch Charaktere und Gesinnungen, durch Handlung aufgelöst werden konnte. Der Gang der Töne war hierin unser lebendiges Vorbild. Wie diese sich verschlingen, damit sie sich froh entwickeln, indem kaum etwas ermüdender ist als eine einförmige Musik, und nichts verwirrender als eine verwirrte Tonkunst: so verschlang, so löste sich unser Drama der Seele melodisch. Aus Dissonanzen stieg die höhere Consonanz mit jeder geschonten Annäherung feierlich, schauderlich, langsam, prächtig hervor und schloß mit einer Beruhigung, die nicht etwa dumpf sättigte, sondern einen Fortklang dieser Töne zu hören einlud. Daher, daß wir unsre Fabelwelt so durstig erschöpften, jede große Begebenheit in ihre Folgen verfolgten und nichts unvollendet ließen; denn eine unterbrochne, matt geendete Musik ist ein Plutonisches Kunstwerk.

»Ihr fangt an und endet, wo es Euch beliebt; wir endeten, wo geendet werden mußte, und fingen von Neuem an. So ward jedes Stück dem innern Herzen Musik, ein Ganzes. Ihr schleppt eine Menge Trommeln, die weder Klang noch Ton geben, unter die zartesten Instrumente und nennt's historische Schauspiele; wir nicht also. Fabel war bei uns Fabel, Geschichte Geschichte. Auf dem Theater mußte die bekannteste Geschichte eine reine, ganze, sich selbst entwickelnde Fabel werden, oder sie blieb das Werk jenes Leirers, der, wenn er nicht spielen konnte, pfeifend erzählte. Wir wagten es, die höchsten Bilder mit den kühnsten Tonfügungen zu vereinigen, und klopften stark an die menschliche Brust.«

Doch warum sollte der Grieche fortreden dürfen, da Jedem, der die Alten und Neuern kennt, der Unterschied beider Theater dunkler oder klarer vorliegt? Nicht nur haben sich das Drama und Melodrama gänzlich gesondert, nicht nur ist der Chor verstummt, sondern, was daraus folgen mußte, in so vielen Stücken auch die Melodie der Handlung. Das Richtmaß und der Zweck, nach und zu welchen bei den Griechen die Begebenheit dem Zuschauer theatralisch dargestellt und entwickelt werden sollte, sie werden von den Neuern nicht anerkannt; in den meisten Stücken sind sie also vom Theater verschwunden.

Wer hat Recht? die Griechen oder wir? Eine Frage, die hier nur fragmentarisch erörtert werden soll, fern von Parteilichkeit und einer thörichten Anbetung der einen oder der andern Seite.

Ist einmal das Theater zu unsern Zeiten ein so vielbesuchter Platz, zu dem man die Menge zusammenruft, ihnen Geld und Zeit nimmt und darauf Kosten wendet; ist das Drama anerkannterweise das schwerste und mächtigste Poem, mithin das künstlichste Kunstwerk, dem so viele große Geister sowol zum Studium als zur Darstellung und Ausführung ihre Kräfte, ihr Leben widmeten; ist's ein so vollkommnes und, wie man sagt, unentbehrliches Werkzeug, auf die Gemüther der Menschen zu wirken: so steht es notwendig unter der prüfenden Wage des sorgsamsten Urtheils.


Aristoteles lebte in Zeiten, da das griechische Theater ausgebildet war; es hat sich nachher zu keiner glänzendern Höhe gehoben. Auch war er der Mann, der die Regel eines Kunstwerks wohl abzuziehen wußte. Wie erklärt nun er die Tragödie seiner Nation? Bekanntermaßen durch die »Nachahmung einer emsig betriebenen, vollständigen, Größe habenden Handlung, in einer anmuthig-gebildeten Rede, deren jede Form für sich in abgetheilten Schranken wirkt, und zwar nicht durch Verkündigung oder Erzählung, sondern durch Erbarmen und Furcht, die Läuterung solcherlei Leidenschaften vollendend«.Herder schrieb an Böttinger (Literarische Zustände und Zeitgenossen II. 191): »Gern hätte ich gewünscht, statt vollenden das Wort vollführen, vollziehen gebraucht zu haben; ich weiß nicht, welcher Geist mirs vorenthielt. So hätte sich ein Einwurf, den sie mit Recht befürchten verloren.« Man vergleiche damit Lessing's »Dramaturgie«, Stück 77, und Goethe's Uebersetzung in dem Aufsatze: »Nachlese zu Aristoteles' Poetik« Werke« XXIX. S. 491). Am Auffallendsten ist bei Herder das Mißverständnis des Wortes σπουδαῖος, ernst (Gegensatz zu lächerlich), als emsig betrieben. –σπουδαῖοςD. Ohne die vielen und weitläufigen Commentare über diese Worte vermehren zu wollen, bemerken wir nur dies:

1. Handlung ist die Seele des Drama, nicht Charaktere, noch weniger Sitten, Meinungen, Sentenzen. Vollständig, sagt Aristoteles, werde sie dargestellt, d. i. ihr Anfang, Mittel und Ende. Ernst, eifrig, mit einer Art Schnelle werde sie betrieben; sie sei überschaulich. Nicht also übermäßig lang, nicht verwirrt durch fremde Zwischenfälle (Episoden). Ueber Alles dies hat Aristoteles in seiner Poetik bündig geredet.

2. Angenehm sei die Rede des Drama; jede Gestalt der Rede habe ihre bestimmten Schranken. Bei den Griechen hob und verstärkte sie die Musik, und auch sie in angemessenen Formen.

3. Zur Kunstnachahmung (μίμησις) der Handlung (an welches Wort sich bei Aristoteles Alles heftet) gehörte vorzüglich die Action, die Geberdung, der die Decoration half. Alle diese Mittel, verständig vereint, untrennbar von einander, machten die Tragödie der Griechen zum höchsten Poem, zu einem Kunstwerk.

4. Mittelst der Rede wirkt die Mimesis des Theaters, worauf? Deutlich sagt Aristoteles: »auf Reinigung der Leidenschaften« Wodurch? Nicht durch laute Verkündigung, durch Moral, Sentenzen, Erzählung u. s. w., sagt er, sondern durch Erregung der Leidenschaften selbst, durch Furcht und Mitleid.

5. Durch diese vollendet die Tragödie eine Reinigung der gleichen Leidenschaften (τοιαῦτα παϑήματα). Aristoteles steckte der Tragödie ihr Ziel vor; wie sie es erreiche, hat er am Wesen des Drama, der Fabel, gezeigt.

»Die Fabel,« sagt er, »d. i. die Verknüpfung dessen, was geschieht (πραγμάτων), ist das Wichtigste von Allem, was zur Tragödie gehört. Diese ist keine Kunstnachahmung der Menschen, sondern der Handlungen und Geschäfte des Lebens,Das Komma nach Geschäfte in der Adrastea war offenbar Druckfehler. Bei Aristoteles steht »der Handlungen und des Lebens«. – D. des Glücks und Unglücks. Denn auch das Glück und UnglückDie Worte und Unglück fehlen in der Adrastea. – D. besteht in Handlung; eine Absicht darauf ist eine Art Handlung, nicht blos eine Beschaffenheit (ποιότης). Den Sitten nach sind Menschen so und anders; den Handlungen nach sind sie glücklich oder unglücklich. Nicht also, damit Sitten nachgeahmt werden, handeln die Personen der Tragödie; Sitten werden zu ihr mitgenommen, der Handlungen wegen. Die Fabel istHier sollte noch also stehen. – D. der Zweck des Trauerspiels; bei jeder Sache ist aber ihr Zweck das Wichtigste, das Größte.«

So Aristoteles. Sollte uns noch unklar sein, was er durch seine oft verspottete »Reinigung der Leidenschaften« wolle? Durch Erregung der Leidenschaften in unsrer Brust, durch Furcht und Mitleid, vollende sie, sagt er, die Reinigung dieser und dergleichen Leidenschaften (περαίνουσα). Um langen Discussionen zu entgehen, mögen die Theaterstücke der Griechen selbst reden.


Aeschylus war der Erfinder der Tragödie; ihm, dem tapfern Mann, sind wir auch den wahren Begriff seiner Kunstgattung schuldig. Weshalb ließ er eine Person aus dem Chor hervortreten? wozu stiftete er die Bühne?

Agamemnon, der König, soll ankommen. Der Wächter sieht die Feuer. Klytämnestra, die das königliche Haus und Bett geschändet, herrscht mit ihrem Buhler Aegisthus. Wie wird man ihn empfangen? wie er sich betragen? Die Begebenheit, als ein Problem, liegt vor. Er kommt. Wie will Klytämnestra sich rechtfertigen? welchen Entschluß wird sie nehmen? wie sich betragen vor und nach der Blutthat? Was wird der Chor sagen? So hängt die große Wage des Schicksals. Was Aeschylus in sie gelegt hat, höre man von ihm.Agamemnon, übersetzt von Halem, 1796. – H.

Orest erscheint, der Rächer seines Vaters. Phöbus hat ihn gesandt, sein väterliches Haus zu reinigen. Mord seiner Mutter! Ein schreckliches Problem! Wie wird es beginnen? wie enden? mit welchen Empfindungen des Sohns, der Schwestern, der Mutter, der Bürger? Wie steht die Wage des Rechts und Unrechts in diesem Moment? Lese man »Die am Grabe Opfernden« des Aeschylus und fühle in ihnen das Feuer der Leidenschaften von mehreren Seiten! Aber die Fabel ist noch nicht vollendet.

Die Eumeniden erscheinen, rächend den Mord der Mutter auch in der gerechtsten Sache, den Muttermörder verfolgend. Phöbus schützt ihn; Pallas endlich spricht Recht und endet. Ein rechtvolleres Stück ist kaum irgend sonst auf dem Theater erschienen, Aeschylus' Krone. Glorwürdig für Athen werden die alten Rachgöttinnen hinaus- und hinabgeleitet. Die schreckliche Begebenheit zeigt sich hier im größten Licht, rein auseinandergesetzt; es erfolgt das Endurtheil, Entsühnung (κάϑαρσις, ἀνάπαυσις).

So die andern Stücke Aeschylus'. Prometheus wird an den Felsen geschmiedet und ächzt.S. »Der gefesselte Prometheus«, in Wieland's »Attischem Museum«, Band 3, Stück 3. – H. Man hört um ihn die Gewalt, den gehorsamen Götterboten, den schmiedenden Hephästus. Man hört um ihn die Stimmen der Besuchenden, des Ocean's, des Chors, der Io, abermals des Mercur's; Prometheus bleibt unerbittlich. Hätten wir den zweiten Theil dieses Stücks, »den entfesselten Prometheus«! Der dramatische Rechtsspruch wäre in ihm zwischen Meer, Himmel und Erde – verlautbart! in ihm die Sache zwischen Göttern und Menschen geschlichtet. Es erfolgte Versöhnung (κάϑαρσις, ἀνάπαυσις).

Aeschylus' »Perser« sind der Rhamnusischen Göttin, der Nemesis-Adrastea selbst, ein feierliches Dankopfer. In Persien erscheinen die Geschlagnen, die Entflohnen, der entflohne König, der verarmte. Der Schatte Darius' steigt aus der Gruft. Welche Stimmen, welche Klagen! Große Seele Aeschylus', des Helden in eben diesem Kriege! Sie schuf Athen durch diese Darstellung ein Triumphsfest, das dem Krieger geziemt. Des entfernten Persiens herüberschallende Seufzer, siegendes Griechenland, sind Deine Siegestöne, und Du Athen Griechenlands ew'ger Siegestempel! Die Götter haben den Kampf entschieden.

Aeschylus' »Sieben vor Theben« oder der Tod der beiden Oedipus-Söhne, Eteokles und Polynices. Auf dem Scheiterhaufen selbst, der ihre Leichname begrub, sagt das Epigramm der Anthologie,Vgl. Herder's Werke, VII. S. 133. – D. wandten ihre Flammen noch sich feindlich aus einander; in diesem Aeschylus-Werk, wie rast die Flamme des Eteokles! Unzähmbar Allem, was ihr sich naht, nur von der Macht des Schicksals, aber von ihr wie fürchterlich gedämpft!Aeschylos' »Sieben vor Theben«, übersetzt von Süvern, Halle 1797. – H. Großer Dichter! In rauher, aber fester Hand hieltest Du mit strengem Urtheil die Wage des entscheidenden Schicksals.


Sophokles milderte dies Urtheil der Bühne, er hob es aber nicht auf. Auf Aeschylus' hartgebrochener Bahn schritt er leiseren Trittes vorwärts. Sanfter geordnet und zubereitet ist seine »Elektra« gegen Aeschylus' »Choëphoren«; die Gesetze und der Zweck des Schauspiels waren aber auch ihm dieselben. Die zu vollziehende That liegt vor, Klagen der Elektra leiten sie ein; die Urne des todtgeglaubten Bruders macht sie dem Augenschein milder, gerechter, dem Herzen sanfter. Man hört die Erinyen kommen; das Ganze deckt und hält gleichsam Die, von der das Stück sich nennt, Elektra.

»Oedipus, der König«. Die Begebenheit, das Unglück seines einst durch ihn geretteten Volks, die Pest ist da; das Blatt des Schicksals, warum sie da sei, wie sie zu versöhnen sei, ist verhüllt; der Bote des Götterspruchs wird erwartet. Er kommt; ein Vater-, ein Königsmörder ist in Theben; durch seine Verbannung soll das Land entsühnt werden. Niemand ist eifriger, zu entdecken, wer dieser sei, als Oedipus. Und Oedipus ist's selbst, der König. Welch ein Abgrund von Abscheu und Qualen sich jetzt ihm und seinem Geschlecht aufthut, höre man bei Sophokles, dem milden Sophokles selbst. Der große, glückliche König steht unglücklich da, gehoben und gebeugt von der Hand des entscheidenden Schicksals.

Mild begleitet ihn der Dichter nach KoloneVielmehr Kolonos. – D. und läßt den Blinden, lange Gequälten dort sein Göttergrab finden. Dank dem neunzigjährigen Greise Sophokles, daß er sich seines alten Verlassenen annahm! Dank dem Zufall, daß er uns dies Stück ließ! So auch die Antigone, die edle Schwester, die schöne Vestale. Tochter eines unglücklichen Hauses, sie endet, sie versöhnt mit ihrem Tode das Schicksal.

Philoktet, der unglückliche, schmählich zurückgelassene Held auf Lemnus. Man will ihn selbst, man will ihm seine Pfeile rauben; Ulyssische List, Achilleische EhrlichkeitIn dem Sohne des Achilles, Neoptolemus. – D. gerathen in Streit mit einander. Er selbst ist im Kampf zwischen Heldenehre und dem traurigsten Jammer. Hercules erscheint, der Sprecher des Schicksals. Er, der dem Philoktet die Waffen gegeben, der durch sein Bequemen unter die hohe Macht des Verhängnisses ihm das dringendste Vorbild ist, sich dem Spruch der Götter zu fügen, mit kurzer Zusprache endet er das einfache, hohe Drama. Die Reinigung der Leidenschaften an ihm, der Furcht und des Mitleids, ist vollendet.

Dagegen der rasende Ajax, trauriges Bild des Wahnsinns eines beleidigten tapfern Mannes, der die Pallas zur Feindin hat, der sich gegen die Götter empörte. »Bändige auch Deinen gerechten Zorn, empöre Dich gegen die Götter nicht, wüthe nicht gegen das Verhängniß: Du wüthest gegen Dich selber!« Das sagt uns das Stück; die Reinigung der Leidenschaften an ihm ist vollendet.

Und die »Trachinierinnen«. Hercules, wie er auf Oeta stirbt, vom Geschenk seines Weibes, der liebenden Dejanira, mit Höllenschmerzen unschuldig vergiftet, seinen Sohn bittend, ihm den Tod zu geben – endlich sterbend. O Griechen, Griechen, wie bearbeitet Ihr Eure hohen Fabeln des menschlichen Schicksals!


Nutzlos wäre es, noch zum Euripides zu gehen und aus zwanzig Stücken zu zeigen, was sich aus jedem erweisen läßt, nämlich: »die griechische Tragödie war eine dargestellte Fabel menschlicher Schicksale, um durch diese Darstellung, wie es sonst keine Dichtungsart thun kann, das menschliche Gemüth – was? – blos zu bewegen? wozu? zu allerlei Leidenschaften, die sich in wilder Irre kreuzen? zu Haß, zu Abscheu, zur Bewunderung, zur Liebe? – Möge dies mehr oder minder geschehen, nach dem der Dichter Stoff und Kraft, der Zuschauer Gemüth, der Schauspieler Geschicklichkeit hat; aber das Bewegen ist nicht gnug, die Tafel ist geschrieben:

»Tragödie ist eine Schicksalsfabel, d. i. eine dargestellte Geschichte menschlicher Begegnisse, mittelst menschlicher Charaktere, in menschlichen Gemüthern eine Reinigung der Leidenschaften durch ihre Erregung selbst vollendend

Diese ist bei Aristoteles keine stoische, sondern, wie das Ende seiner »Politik« zeigt, eine heilige Vollendung. Wie durch Sühngesänge Gemüther gereinigt, Leidenschaften besänftigt, geordnet und schweigend gemacht werden, so sollte dies in höherem Sinn, dem Plato zuwider, durch die Tragödie geschehen, die AristotelesΠολιτικῶν Θ, ζ. [= VIII. 7.] – H. sich als eine Musik der Seele dachte. »An Tönen nimmt Jeder auf seine Weise Antheil, der Rohe anders als der Gebildete. Es giebt auch verschiedne Gattungen der Harmonie, die sittliche, die thätige, die begeisternde; zu ihrem Zweck sind alle zu gebrauchen. Zur Erziehung die sittlichsten; zum öffentlichen, ergetzenden Anhören (ἀκρόασιν),Dem Zweck und Zusammenhange der Stelle zuwider will Twining die ἀκρόασιν in κάϑαρσιν ändern, da doch der Zusatz ἑτέρων χειρουργούνιων (»wo nicht wir, wie bei der erziehenden Musik, sondern Andre spielen, wir nur hören«) den Sinn zeigt. Aristoteles' treatise on Poetry, translated by Twining. Lond. 1789. Note 45. S. 234. – H. (Neuerdings hat die medicinische Deutung der κάϑαρσις Beistimmung gefunden. Vgl. die betreffenden Abhandlungen von J. Bernays, Stahr, Döring u. A. – D.) da Andre spielen, sowol die thätigen als die begeisternden. Denn die Leidenschaft, die Einen und den Andern stark ergreift, existirt in allen Seelen, der Unterschied ist nur im Mehr und Minder. Dieser Art sind Furcht und Erbarmen. Weiter auch der Enthusiasmus; denn auch von dieser Gemütsbewegung werden Einige mit rasender Gewalt ergriffen. Von heiligen Gesängen aber sehen wir diese, zumal wenn sie sich der die Seele entzürnenden Gesänge bedienen, wie wenn sie unter den Händen einer arzneienden oder reinigenden Kunst wären. Einer solchen Cur müssen sich auch die Mitleidigen, die Fürchtenden und die von andern Leidenschaften Leidenden unterziehen; den Andern aber, Jedem, nach dem er dieser oder jener Leidenschaft unterworfen ist, und Allen insgemein wird eine gewisse Reinigung der Leidenschaften; und zwar werden sie besänftigt mit Anmuth.«Bei Aristoteles: »Lust«. – D. Ihr tragischen Aerzte, die Ihr uns statt dieser ausführenden und stillenden Tropfen Tollwurzel oder Ipecacuanha reicht, was denkt Ihr zu Aristoteles?Die Stelle ist besonders gegen Schiller gerichtet. – D. »Er hat uns kein Recept zu geben!« Ich noch minder; und doch fahre ich fort.


Fortsetzung.

Sollte das Trauerspiel dies nicht bewirken können, da es eine Fabel des menschlichen Schicksals für menschliche Herzen darstellt? Wohnt der Aesopischen Fabel schon dadurch so viele Kraft ein, weil sie die ewig feststehende Ordnung der Natur, trotz aller Verändrungen und Zufälle, in lebendigen Charakteren wie in bleibenden Typen handelnd darstellt; wohnt dem Märchen die Kraft eines Traumes bei, den unsre Seele zu einer gegenwärtigen Welt, im Idyll zu einem nie gesehenen Arkadien der Glückseligkeit bildet: wie? der große Zusammenhang von Begebenheiten des menschlichen Lebens, den das Verhängniß webt, das Netz, womit es den scharfsehendsten Läufer umschlingt, der Felsstein, den es über dem Haupt des Helden aufhängt, mit Umständen, die es durch einen Hauch sonderbar wendet – wie? diese wären nicht eindringend? nicht lehrreich? Nur sei der Dichter auch durch seine Darstellung Ausleger und Anwender dieser Blätter des Schicksals.

Die Griechen bemühten sich, dieses zu sein. Ohne zu grübeln, warum von Ewigkeit her der Sohn des Laius verdammt gewesen, ein Oedipus zu sein, begnügten sie sich damit: »Er war's! in Glück und Unglück. Glücklich, da er das Räthsel der Sphinx löste und als ein verdienstreicher König herrschte, unglücklich, als sich ein andres Räthsel, das Geheimniß seiner Geburt, aufschloß.« Hier war die Frage nicht, warum solche Schicksale die Menschen treffen, sondern: »Wenn und weil sie sie treffen, wie sind sie anzusehen? wie zu ertragen?« Zur Antwort auf diese Frage sprach in der griechischen Tragödie bei jedem Umwenden eines neuen Blatts im Buche des Verhängnisses – d. i. bei der Enthüllung jedes neuen Umstandes der Begebenheit – Alles, was sprechen konnte: der Leidende und die Mitleidenden, die Fürchtenden und der Geprüfte, mit Allen der Chor. Er war im eigentlichen Verstande die Zunge an dieser Wage; was Niemand sagen durfte und sagen mochte, sprach er. Daher war und ist das griechische Theater so bildend. Es faßt die Begebenheit von allen, kehrt sie auf alle Seiten; es ergreift (οὐ δι' ἀπαγγελίας, ἀλλὰ δι' ἐλέου καὶ φόβου), uns nicht durch die Verkündigung, sondern durch die Affecten selbst, die uns ergreifen.

Wozu nun erregte es diese Affecten, wenn es sie nicht reinigen, d. i. läutern, ordnen wollte? Stürztet Ihr uns aus Leidenschaft in Leidenschaft ohne Zweck, ohne vernünftige Absicht und Ordnung; verschwendetet Ihr unser Mitgefühl an Personen, die dessen unwerth sind, an schwache Elende oder an teuflische Bösewichter, in denen kein Zug der Menschheit erscheint; zerfleischtet Ihr unser Herz für und wider nichts durch Unverstand oder Bosheit; ließet z. B. Die, denen wir durch Euch unsre Theilnehmung geschenkt, so schief denken, sprechen, handeln, daß wir mit Haß gegen Euch unser Mitleid ihnen verachtend entziehen müßten; oder kenntet Ihr nirgend Maß und Raum, daß wir Euch immer zuriefen: »Höre auf, Henker!«Wie Mäcenas dem Augustus zurief. – D. –; kenntet Ihr die Gesetze und Gänge des Schicksals so wenig, daß Ihr uns entweder unnütze und lächerliche Furcht einjagtet oder diese dergestalt über die Grenzen ins Reich der Unnatur hinaustriebet, daß wir, statt stark zu werden, schwach, statt mitfühlend-weise stupid gegen das Verhängniß, fühllos hart gegen unsre Nebenmenschen würden und uns aller Theilnahme an ihnen entsagten: wäret Ihr sodann gute Haushalter der Begebenheiten des Schicksals? und in Eurer Kunst rechtschaffene Künstler? Was würde man von einer Musik sagen, die uns, statt angenehm zu rühren, widrig aufbrächte? uns langweilig einschläferte oder toll und wild machte? Schlechte Mischer der Affecten, empörende Darsteller der Begebenheiten des menschlichen Herzens und Lebens, des Glücks und Unglücks der Sterblichen, Ihr trübt, statt zu läutern, Ihr empört, statt zu versöhnen.

Giebt es also keinen Ausweg von der Pflicht, daß, wenn ich Leidenschaften errege, ich sie zu einem vernünftig-menschlichen Zweck erregen, mithin sie reinigen, läutern, ordnen müsse; verbeut es die Menschheit sowol als die Kunst und Vernunft selbst, vor dem hohen Gesetz der Weltfügungen, der großen Wage des Glücks und Unglücks, mit dem menschlichen Herzen und dessen Empfindungen zu spielen, daran zu schnitzeln und entweder ihm unnöthige Wunden zu schlagen oder sie ungeschickt zu verbinden: so ist Aristoteles nicht nur gerettet, sondern er hat, nach den großen Mustern, die er vor sich fand, dem Dichter in seiner Poetik selbst sehr weise Warnungen und Vorschriften in Behandlung der Schicksalsfabeln, in Erregung und Bändigung der Leidenschaften gegeben. Welche Charaktere z. B. er zu wählen, wie er ihnen ihr Verhängniß, uns unser Mitgefühl mit ihnen, unsre Furcht für uns selbst zuzumessen, zuzuwägen habe, ja, wie es ohne dies Maß, ohne diese Wage keine Tragödie gebe. Denn ein Gemetzel von Empfindungen, ein Gewirr blinder Schicksalsstreiche ist dem ersten Begriff des Trauerspiels entgegen. Eben dazu tritt sie ja auf, die Tragödie, daß sie mit größter Klarheit das über dem Helden schwebende Verhängniß darstelle, ihn bei jedem Schritt seines Benehmens mit Warnung, Bitte, Widerspruch, Furcht, Rath oder Tröstung begleite.

Daher auf Stellen, wo die Schickung zweischneidig vorliegt und von jeder Seite Bemerkung verdient, der schnelle Wort- und Verswechsel des griechischen Theaters. Uns scheinen sie affectirt, diese kurzen Sätze, theils weil die Übersetzung selten sie so rein und treffend geben kann, wie sie der griechische Jamb Schlag auf Schlag, sanft oder kühn, immer aber rasch treffend giebt, theils weil wir auf unsrer Bühne ein so strenges Ausfechten des Rechts und der Wahrheit dessen, was geschehen und nicht geschehen soll, nicht erwarten. Die Athener, an öffentliche Reden für und wider, überhaupt an Staats- und Gerichtskämpfe gewöhnt, liebten dergleichen leidenschaftliche Vernunftkämpfe. Und am rechten Platz, wer liebte sie nicht? Entspringt je ein reines Resultat, wo die einander gegenüberstehenden Meinungen nicht aufs Schärfste geprüft werden? Lasset sie also, wie im Zweikampf, mit blanker Schneide einander begegnen: was der Zuschauer dadurch gewinnt, ist eine um so hellere Gesinnung, erfochten im Zweikampf unter der Hand des Schicksals.


»Aber Schicksal, und immer Schicksal! Wir Christen und Weise glauben kein Schicksal.«

So nenne man's Schickung, Begegniß, Ereigniß, Verknüpfung der Begebenheiten und Umstände; unentweichlich stehen wir unter der Macht dieses Schicksals.

Freilich, wenn ein Dichter das Wort so mißverstünde, daß die große Göttin ein Poltergeist würde, der für und wider nichts die aufs Beste angelegten Plane menschlicher Vernunft, aller Vernunft entgegen, absichtlos oder schadenfroh ohne alle Schuld der Menschen verwirrte; wenn er auf das Kunststück sönne, daß Alles, was Menschen wohlgesinnt und wohlbesonnen unternehmen, unglücklich, dagegen was die Götter leidenschaftlich und brutal wollen, abscheulich-glücklich ausfalle: dann haßten wir in diesem Dichter das dumme, stupide Schicksal. Ein Zweiter lähmte den Menschen den Arm, reichte ihnen ein Opium gegen alle vernünftige Ueberlegung und Entschlüsse, ließe aber dafür das Schicksal walten: »Geh nach Orient,« rufen wir, »Du Opium-Krämer!« Ein Dritter gäbe sich alle Mühe, den Karren in den Koth zu schieben, damit ihn das Schicksal ohne Hände herausziehe. Ein Vierter ließe die blinde Göttin auf Menschen wie auf einen Marmorblock schlagen und nennte diesen empfindungslosen Block einen Weisen. Ein Fünfter triebe mit der Schickung Scherz; wenn sein Held Alles gethan hat, fällt er ins Wasser oder bricht ein Bein, und Alles ist, als ob es nicht geschehen wäre. Freilich solche Mißgriffe im Gebrauch dieses Worts zeigen ein klägliches Schicksal, und wenn Lessing in einem andern Sinn die Tragödie »ein Gedicht« nannte, »das Mitleid erregt«,Dramaturgie, B. 2. S. 193. Hamb. bei Bode. – H. [Bei Lessing (Werke, VII. S. 376) wörtlich: »daß die Tragödie, mit einem Werke, ein Gedicht ist, welches Mitleid erregt«. – D. so erregen solche Stücke wahres Mitleid, Mitleid nämlich mit dem Dichter, Abscheu gegen den Mißbrauch des mißverstandenen hohen Namens, ja des ersten Begriffes der Sache selbst.

War dies aber der Sinn der Griechen? Warum dringt Aristoteles darauf, daß im Trauerspiel Alles natürlich zugehe und die Auflösung des Knotens nie durch Maschinen geschehen müsse? Warum macht er uneingeschränkt die Meinungen und Sitten der Menschen zu Quellen ihrer Handlungen, ihres Glücks und Unglücks? und wägt mit einer Goldwage ab, wiefern vollkommene und unvollkommene, gute und böse Charaktere ins Trauerspiel, d. i. unter die Bürde des tragischen Verhängnisses treten dürfen? Dies- und jenseit verdammt er den kleinsten Fehler.

Und das mit Recht. Wollen wir der Bühne die reine Darstellung menschlicher Charaktere mit Allem, was aus ihnen folgt, wollen wir ihr die reine Entwicklung menschlicher Leidenschaften und Gesinnungen, der Glücks- und Unglücksfälle, wie sie aus jenen folgen, rauben und ein falsches Wunderbare, Poltergeister, die allenthalben die Natur stören, auf den Schauplatz führen: wo bliebe noch eine rein dargestellte, rein entwickelte Menschennatur und Wahrheit? Schenkt dem Roman, der Sage, dem Märchen Euren Wunderglauben, Ihr, die Ihr der Dichtkunst bezauberte Waffen schmiedet, nur die Bühne verschont mit diesen Künsten! Auf ihr wollen wir, auch in ihrem Ideal, natürliche Wahrheit sehen. Sacer est locus; mejite extra!Persius' Satiren, I. 113, 114. Vgl. Herder's Werke, VIII. S. 98. – D.

Nur also durch Menschencharaktere wirke das Schicksal, doch so, daß jene unter der Gewalt dieses wirken. Wer ließ den Oedipus an diesem Ort, unter solchen Umständen geboren werden? wer machte sogleich bei seiner Geburt ihn zum Oedipus, dem Fußdurchbohrten? Auch ohne Pythischen Orakelspruch, durch jede andre Veranlassung that es das Verhängniß. Wer schlang, von Pelops herab, dem Stamm des Atreus die eherne Binde um seine Stirn,Nach den Worten von Goethe's »Iphigenie«, I. 3. (Goethe's Werke, VII. S. 123). – D. die erst in der dritten Geschlechtsfolge, als unter Dianens und Phöbus' Gunst Orest und Iphigenia das Haus entsühnt hatten, zu schmelzen anfing? Der Stammescharakter, das Schicksal. Die Sagen hierüber legt das Trauerspiel aus; es führt die Charaktere auf seinen Grund zurück und zeigt die Schickung eben im Spiel dieser Charaktere, die, immer leiser und leiser wirkend, den Stammes- oder Standescharakter endlich versöhnen. So im Hause des Oedipus zwischen seinen verfeindetenSo muß es wol heißen statt »verfeinten«. – D. Söhnen und seinen sanfteren Töchtern. Der Faden der Verhängnisse ist genetisch gewebt, wie wir ihn noch allenthalben vor uns sehen, hier bedauernd, dort lobjauchzend. Alle Gefahren Hercules', liegen sie nicht in seinem Charakter? Jeder Hercules hat seinen Eurystheus, seine Juno, seine Omphale, Iole, Dejanira. Und wie nah liegt sein, des Rückkehrenden, von der Göttin ihm gesandter Wahnsinn, da er seine Kinder als fremde erwürgt, im Hercules-Charakter! Mit dem Namen der verhängenden Göttin ist ein Ehrennetz über ihn gebreitet. So über Ajax und aller Helden Charakter, die das Schicksal verfolgte. Ein Mann, der gegen die Götter streitet, grenzt an Wahnsinn. Wenn nun Ulysses' Schlauigkeit das, was ihm gebührte, vor den Augen ihm wegstiehlt, was kann er werden, als was er im Trauerspiel wird, mit Allem, was daraus folgt?

So in hundert andern Märchen der Griechen. Hippokrates' Ausspruch: Πάντα ϑεῖα καὶ ἀνϑρώπινα πάντα»Alles Menschliche ist göttlich, alles Göttliche menschlich«. – H. ist ihre Inschrift. Die Schicksale jedes ihrer alten Helden sind eine Exposition seines Charakters. Dies zu bemerken, gewährt ein lehrreiches Vergnügen, ein noch lehrreicheres das langsame Zubereiten und Kommen des Schicksals in ihren Epopöen und Trauerspielen. Ein feines Ohr hat es belauscht. Wer für seine Welt der Schicksale sich Auge und Ohr öffnen will, lese sie; wie Altarbilder stehn hohe Unglückliche da, lehrend, warnend, beruhigend, tröstend. Im kleinsten und größten ihrer Unfälle das Maß des Mitleids und der Furcht dem Gemüth zuzuwägen und es daran zu gewöhnen, dazu trat Melpomene auf den Kothurn, unter Gesang, mit Thaten und Rede. Hat sie diese Wage verloren, so gestalte sie ihren Dolch, ihre Keule zur Spindel; sie spinne Situationen und Sentenzen.


Fortsetzung.
Wilhelm Shakespeare.

Im Jahr 1564 ward Wilhelm Shakespeare geboren, ein Mann, der die griechische Sprache nicht verstand, die Griechen wenig und die wenigen nur in Übersetzungen kannte, aber selbst eines guten Schicksals glücklicher Sohn war. Der gewesene WollhändlerVor Malone galt Shakespeare's Vater allgemein als Wollhändler. – D. ward Schauspieler und Schauspieldichter in einer so vielumfassenden Art, daß, wenn man die Griechen Dichter ihres Heldencyklus nennt, Diesen man Dichter des Weltcyklus nennen müßte. Was hielt er vom tragischen Schicksal?

Shakespeare schrieb ein Trauerspiel »Hamlet«. Hamlet ist sein Orestes. Ganz irrte man in dessen Charakter, wenn man ihn für einen Hammel (hamlet), für ein Ding ausgäbe, das man gewöhnlich einen guten Prinzen nennt; der zartgehaltenen, tiefgedachten Zeichnung Shakespeare's wäre dies gerade zuwider.

Die Unthat ist geschehen, sein Vater ist heimtückisch ermordet. Seine prophetische Seele hatte etwas davon geahnt; er weiß aber nichts und trägt den Schmerz in stiller, tiefer Trauer. Jetzt erscheint der Geist seines Vaters, zuerst Andern, dann ihm und spricht. Ausspricht er das gräßliche Geheimniß:

      »Die Schlange, die mich stach,
Trägt meine Krone.«

Wie ein gequälter Geist fordert er vom Sohn Ruhe und Rache.

Warum fährt Hamlet nicht zu und ermordet den Mörder? An Willen fehlte es ihm nicht und gewiß nicht an Kraft, wie sein Schlag auf Polonius, sein Kampf mit Laërtes und so mancher Monolog beweisen; damit aber wäre dem Dichter und seinem Trauerspiel wenig gedient gewesen. Dies sollte uns in Hamlet's Seele führen; denn aus Sitten und Meinungen entspringt der Charakter. Hamlet's Seele ist ebenso zartfühlend als nachdenkend; aus Wittenberg kommt er, a  Scholar. Schon hatte der Tod seines Vaters, die Heirath seiner Mutter ihm die Welt, die Menschen, das Weib verleidet, wie sein Monolog es rührend sagt, als jetzt die Erscheinung seines Vaters die Pforten seines Gemüths gleichsam ganz aus den Angeln hebt, so daß er, der junge Metaphysiker, jetzt zwischen zwei Welten schwebt. Ist's nicht aus mehreren Beispielen bekannt, wie ein außerordentlicher, sonderbarer Zufall, sei's Glück oder Unglück, zarte Gemüther so aus ihrer Fassung brachte, daß sie diese spät oder nimmer wieder erhielten? Alles, auch seine Ophelia sieht Hamlet jetzt wie aus einer Geisterwelt an; verwirrt und trübe hängt die Zukunft, ja das Bild der ganzen Menschheit vor ihm. Dazu kommt, daß er, anderswo studirend, in seinem verwaisten väterlichen Hause jetzt nur ein Gast ist. Man weiß, welchen Eindruck die akademische Begeisterung für Metaphysik auf Jünglinge von Hamlet's Charakter macht. Die Königin meint, er sei dort melancholisch worden: »Go not to Wittenberg, dear Hamlet!« In dieser Stimmung gehört er jetzt allerdings mehr zum speculirenden als zum rasch thätigen Theil der Menschen. Glückliche Idee, die dem Dichter von unserm Wittenberg, vom Hange der Deutschen zur Metaphysik anhing! Ihr haben wir die rührende Metaphysik, die sein ganzes Stück durchläuft, auch den berühmten Monolog: »Sein oder nicht sein!« zu danken. Aus Frankreich brachte Hamlet's Freund Laërtes einen lustigern Charakter.

In dieser metaphysischen Stimmung also wird dem Nachdenkenden die Erscheinung seines Vaters selbst zum Skrupel. »Könnte es nicht auch ein höllischer Geist gewesen sein, der Dich, den Trübsinnigen, zum Mörder des Gemahls Deiner Mutter machen wolle? Gehe gewisser!« Glücklicherweise kommen ihm die Schauspieler in den Wurf; das prüfende Stück wird gespielt; sorgsam nimmt Hamlet einen beobachtenden Freund zu Hilfe. Nicht träge Feigheit war es also, die die Rache verzögerte, sondern, wie Hamlet selbst oft sagt, metaphysische und Gewissensskrupel. Diese will der bedächtigere Orestes vor der That abthun, damit sie ihn nach der That nicht quälen dürfen.

Der Anschlag gelingt; das innere schwarze Gewissen des Königs steigt bei der theatralischen Darstellung seiner That ans Licht; die Mäusefalle schlägt zu. Und nun darf Hamlet singen:

»Mag weinen das getroffne Thier!
      Der freie Hirsch hüpft froh.
Ein Welttheil schläft, der andre wacht;
      So rollt die Welt sich, so!«

Entkommen seinen Zweifeln, findet er den König, aber betend. Den Bösewicht betend aus der Welt zu schaffen, leidet abermals das geistige Gefühl Hamlet's nicht, noch weniger das zartere Gefühl des Dichters, der diesen Jüngling,

                                »das edele Gemüth,
Des Hofmanns Auge, des Soldaten Schwert,
Die Zunge des Gelehrten, die Erwartung.
Die Rose eines blühnden Staats, den Spiegel
Der Artigkeit, anständ'ger Sitten Form,
Bemerkt von jeglichem Bemerker,«

wie seinen Liebling bewachte. Rasch tritt er ein zu seiner Mutter, ganz jetzt im Feuer seines gerechten Zorns; aus dem Fegefeuer selbst aber muß des Vaters Geist das Zimmer seiner Verlasserin finden und zwischen Sohn und Mutter treten. »Verwunde sie, aber nur mit Worten, sonst überlaß sie den Dornen in ihrer eignen Brust!« Wo steht Ihr bei diesem Auftritt, Orestes, Elektra, Klytämnestra!

Der Bösewicht kommt Hamlet zuvor und verbannt ihn höflich; höflich soll er dem Tode geliefert werden in einem fremden Lande. Das Schicksal tritt in den Weg. Es rettet und treibt ihn zurück, eine That zu vollführen, die in Polonius auf das Haupt eines Unschuldigen gefallen war. Diese unschuldige That muß er selbst erst mit dem schmerzlichsten Dorn büßen; denn seine Ophelia ist gestorben. Nachdem er unbewußt, wessen das Grab sei, ein Collegium über die Schädel gehalten, findet er sich im Grabe über ihrem Sarge mit ihrem Bruder, seinem Freunde, in einem Wettstreit der Liebe, den die schlaue Anstalt des Bösewichts in einen für Hamlet tödtlichen Wettkampf zu verwandeln weiß, da denn das Schicksal entscheidet. Es wechselt Gewehre und Becher; die Mutter selbst trinkt das Gift, der Bösewicht muß den Rest trinken. So ist von diesem Orestes der Mord des Vaters rein und schuldlos gerächt; Alle aber, Bösewicht, Weib und Sohn, zieht er mit hinunter. Das Verhängniß hat die Rache bewirkt, mit unbefleckten Händen Dessen, dem sie aufgetragen war. Der Bösewicht selbst erfüllte das Maß seiner Frevel nach seinem Charakter und ward der Rache Werkzeug. Den guten Hamlet konnte trotz aller Vorschritte selbst seines Vaters Geist aus seinem Charakter nicht treiben.

»Hamlet« war von Shakespeare zuerst als ein kurzer Entwurf geschrieben; langsam ward er nach und nach verlängert. Mit welcher Liebe der Dichter dies gethan habe, zeigt das Werk selbst; es enthält Erinnrungen über unser Leben, philosophisch-melancholische Jünglingsträume, wie sie, Stand und Situation abgerechnet, beinahe Shakespeare selbst haben konnte. Jede stille Seele sieht gern in diesen ruhigen See, in dem sich ein Weltall des Firmaments, der Menschheit, der Zeit und Ewigkeit spiegelt. Das einzige Stück vielleicht, das der reine sensus humanitas geschrieben hat, und ganz doch eine Tragödie des Verhängnisses des schauerlich-nächtlichen Schicksals.


Shakespeare's »Macbeth« dagegen, auch eine Tragödie des Schicksals, aus menschlichen Seelen entwickelt, handelnd durch Begebenheiten und Charaktere, aber wie andrer Art!

In einem Hexenwetter treffen drei Weiber zusammen auf einer einsamen, kahlen Heide. Sie fragen und antworten mitwissend einander:

1.
 
2.
 
3.
1.
2.
3.
1.
2.
Alle.
 
Wann gehn wir Drei uns wieder vorüber?
In Donner. Blitz und in Regengestüber?
Wenn dort das Lärmen und Schwärmen zerronnen,
Schlacht verloren und Schlacht gewonnen.
Also vor Untergang der Sonnen!
Nenne den Ort!
Die Heide dort.
Dort kommt Macbeth. – Fort denn, fort!
Ich komm', ich komme, Grimalkin!
Paddok ruft. Dahin! Dahin!
Wild Wetter und schön, schön Wetter und wild!
Auf durch Nebel, in Nebel gehüllt!

So fahren sie aus einander. Ihre Geister rufen sie; das Hexenwetter, das sie zusammengestöbert hatte, stöbert sie wie Luftblasen hier- und dorthin. Wer sie zu stehenden Klumpen oder gar zu griechischen Parzen machte, hätte Shakespeare's Idee ganz verfehlt.

Die Schlacht endet; sie hatten einen Anschlag auf Macbeth, ihm wahrsagend sein künftiges Schicksal anzukündigen, und sie verfehlen den gemeinen Hexenzweck nicht. Vorher erzählen sie einander am Wege wie gemeine Weiber (die sind sie), wo sie seitdem gewesen, was sie, veranlaßt durch geringe Beleidigungen, gehext oder zu hexen Willens sind; es ertönt die Trommel, sie fahren auf:

Trommeln, Trommeln!
Macbeth kommt!
Die Kreuzwegschwestern, Hand in Hand,
Gehend Post über See und Land,
So fahren sie hin! so drehn sie sich!
Dreimal Dir!
Dreimal mir!
Dreimal noch! macht neun!
Aus der Zauber! Halt ein!
    (Macbeth und Banco kommen.)
Macbeth. So wild- und schönen Tag sah ich noch nie!
Banco (unheimlich)
Wie weit ist's noch bis Fores?
    (Er erblickt die Hexen.)
                                                Wer sind Die,
So dürr und welk und wild in ihrem Anzug!
Kaum sehn sie Erdbewohnern gleich, und doch
Sind sie darauf. – Lebt Ihr? Oder seid Ihr Etwas,
Das man anred'? Ihr scheint mich zu verstehn,
Da Alle Ihr den dürren Finger an
Die welke Lippe legt. – Ihr kommt als Weiber,
Und doch verbieten Eure Bärte mir,
Für Weiber Euch zu halten.
Macbeth. Sprecht, wenn Ihr könnt; wer seid Ihr?
Hexe 1. Gut Glück Dir, Macbeth! Glück Dir, Than von Glamis!
2. Gut Glück Dir, Macbeth! Glück Dir, Than von Cawdor!
3. Gut Glück Dir, Macbeth! der'nmal König sein wird!
Sofort fährt der Hexenspruch dem Macbeth ins Hirn.
Banco. Wie staunt Ihr, Herr, und starrt, als ob Ihr fürchtet.
Was doch so schön klingt? (An die Hexen.)
                                            In der Wahrheit Namen!
SeidAm Anfang des Verses ist wol »Sprecht« oder »Sagt« ausgefallen, wodurch der Vers eine Silbe eingebüßt hat. – D. Ihr Blendwerk, oder seid Ihr wirklich,
Was äußerlich Ihr scheint? Ihr grüßet meinen
Edlen Gefährten mit so gegenwärt'gem
Als künft'gem Glück, mit Königshoffnung gar
Daß Ihr ihn außer sich gesetzt habt. Mir –
Mir sagt ihr nichts. Könnt in die Saat der Zeit
Ihr schaun und sagen, was in ihr aufwächst
Und nicht aufwächst, so redet auch zu mir
Der weder Eure Gunst erbettelt, noch
Für Eurem Haß sich fürchtet!
Hexe 1. Glück!
2. Glück!
3. Glück!
1. Kleiner als Macbeth und größer!
2. Nicht so glücklich, aber viel glücklicher!
3. Von Königen Vater, aber selbst nicht König!
So – gut Glück, Macbeth und Banco!
1. Macbeth und Banco, gut Glück!
    (Alles schnell wie im Hexenwetter prophezeiht.)
Macbeth. Halt, unvollkommne Sprecher! sagt mir mehr!
Durch Sinel's Tod, das weiß ich, bin ich Than
Von Glamis. Doch von Cawdor, wie? Der Than
Von Cawdor lebt in Glück und Ehren, und –
König zu sein – steht in glaubhafter Aussicht
Gar nicht; (mildernd die Rede)
                  und Cawdor eben auch nicht. Sagt,
Woher habt Ihr die sondre Wissenschaft?
Oder warum nehmt Ihr Euren Weg auf dieser
Fruchtlosen Heide mit so prophet'schem Gruß?
Sprecht! Ich beschwör' Euch.
    (Sie entschwinden.)
Banco. Die Erd' hat Blasen wie das Wasser; Diese
Sind solcher Art. Wohin entschwanden sie?
Macbeth. In die Luft; und was an ihnen leibhaft schien,
Schmolz wie ein Hauch im Winde. Ich, ich wollt',
Sie wären mir gestanden.
Vom ersten Augenblicke an, wie verschieden zeigen sich bei diesem verführenden Blendwerk Banco's und Macbeth's Charaktere!
Banco. War das, wovon wir sprechen, war es hier?
Wie? oder aßen wir Tollwurzel, die
Die Vernunft gefangen nimmt?
Macbeth (neidig).
Vater von Königen, das solltet Ihr sein.
Banco. Und Ihr selbst König.
Macbeth. Und Than von Cawdor auch. War es nicht so?
Banco. Auf gleiche Weis', in gleichen Worten. Wer
Kommt hier?
Es sind zwei Edle, die auf Befehl des Königes den Macbeth als Than von Cawdor grüßen und dadurch auf einmal den Gruß der Zauberschwestern in seinem angebrannten Hirn mächtig besiegeln.
Macbeth. Glamis und Than von Cawdor also wär' ich!
Das Größte ist dahinten! Dank, Ihr Herren!
    (Zu Banco.)
Hofft Ihr jetzt nicht, daß Eure Kinder Kön'ge
Sein werden? Da, die mir den Cawdor gaben,
Nichts Wenigers Ihnen, als mir dies verhießen?
Banco. Zu Hause dies ins Ohr gesagt,An Lady Macbeth nämlich. – H. das möchte
Euch gar anfeuern, nach der Krone selbst
Zu streben, mehr zu sein als Than von Cawdor.
Es ist sonderbar, und oft, zu unserm Harm
Uns zu gewinnen, sagen die Werkzeuge
Der Finsterniß uns wahr, gewinnen durch
Erlaubte Kleinigkeiten uns, in Folgen,
In schweren Folgen uns zu hintergehn.
    (Er wendet sich aus dem Gespräch,
    um damit nichts weiter zu schaffen zu haben.

Cousins, ein Wort an Euch! Ich bitte –
Macbeth (für sich fortbrütend).                             Zwei
Wahrheiten sagten sie, als glückliche
Prologen zu dem steigend-höhern Act
Des königlichen Thema. Dank, Ihr Herren!
    (Die Lords gehen ab.)
Die übernatürliche Reizung – böse
Kann sie nicht sein – und auch nicht gut. Wär's böse,
Warum gab sie mir Handgeld zum Erfolg
Durch eine Wahrheit? Ich bin Than von Cawdor.
Wär's gut, warum horch' ich auf dies Einblasen,
Das mir im schauerlichen Bilde schon
Mein Haar starr aufregt und mein ruhig Herz
Mir an die Rippen wirft, ganz der Natur
Zuwider? Gegenwärtiges Ereigniß
Ist nicht so schrecklich als furchtbare Bilder.
Der Mord mir in Gedanken, der doch nur
Phantastisch ist, erschüttert mich, den Mann,
So ganz, daß sein Vollbringen sich in bloße
Einbildungen verlieret, und was nichts ist,
Ist nichts.
Welch ein phantastischer Sophist! die That nur eludirend. Ein schwaches Hirn wie dieses ist jedes weitern Truges fähig und werth.
Banco. Sieh, wie er außer sich ist, mein Gefährt'!
Macbeth. Will mich das Schicksal König haben, nun,
So kröne mich das Schicksal ohne mein
Anregen!
Banco.                 Neue Ehren, die ihm zu-
Gekommen sind, sie sind wie fremde Kleider,
Die uns nicht passen. Doch sie werden passend
Durchs Tragen.
Macbeth.                           Komme dann, was kommen mag!
Die Zeit läuft ab, auch durch den rauhsten Tag.
Banco. Würdiger Macbeth, wir warten auf Euch.
Macbeth. Verzeiht! Mein tolles Hirn arbeitete
Ueber – vergess'ne Dinge. – Meine Herren,
Euer Verdienst um mich ist da verzeichnet,
Wo täglich ich das Blatt umwend', um es
Zu lesen. Gehn wir nun zum Könige!
    (Zu Banco.)
Vergeßt nicht, was sich zutrug, und bei mehr Zeit
(Die Zwischenzeit mag es erwägen!) sprechen
Wir unsre Herzen frei aus zu einander.
Banco. Recht gern.
Macbeth.                     Bis dahin gnug! Kommt, Freunde, kommt!

Wer sieht nicht in diesem Charakter schon die ganze That voraus? Banco selbst ahnt sie sogleich leise; er kennt Die, die den schwach-ehrgeizigen Macbeth bei der kleinsten vertraulichen Aeußerung dieser Geschichte weiter spornen werde. Wie verschieden nehmen Banco und Macbeth die ganze Scene! Jener gefaßt, ruhig, vorsichtig; das ganze Ereigniß scheint ihm kaum mehr als ein Traum; er warnt seinen Gefährten. Macbeth, der, so sehr er Mann sein will, schwache Macbeth ist sogleich außer sich. Ein von Weibern auf dem Wege ausgestreuter Funke hat in seinem Hirn gezündet! Die That selbst ist schon, und zwar, wie es ihm vorkommt, unschwerer geschehen als daran der Gedanke. Das phantastische Denken daran mache den Entschluß, meint er, auf der einen Seite fürchterlich, auf der andern zum Traume. Was wird dieser Mann in den Händen seines ehrsüchtigen Weibes werden?

Sein verwirrter Brief an sie über diese Zauberbotschaft zeigt, daß sein Hirn glühe, und wohl weiß sie, woran es ihm fehlt, ihr aber nicht fehlt, an – Entschluß.

Lady Macbeth. Glamis und Cawdor: also bist Du, und –
Sollst auch sein, was man Dir versprach. – Und doch –
Fürcht' ich Deine Natur; sie ist zu voll
Von Milch der Menschengüte, um gerad'
Den nächsten Weg zu nehmen. Groß – das wolltest
Du sein; ohn' Ehrbegierde bist Du nicht;
Doch soll vom Uebeln nichts dabei sein. Hoch auf
Steiget Dein Wunsch; doch soll's ein heil'ger Wunsch sein.
Mit Unrecht möchtest Du gewinnen, aber
Falsch spielen nicht. Sollst haben, großer Glamis,
Was Dir zuruft: »Dies muß geschehn! wenn, was
Du wünschest, werden soll!« Und Das, was Du
Zu thun Dich lieber scheust, als daß Du wünschtest,
Es würde nicht gethan, soll werden. Her!
Daß meine Geister ich ins Ohr Dir gieße
Und mit gewalt'ger Zunge Alles Dir
Wegzüchtige, was Dich vom goldnen Reif
Zurückhält, den des Schicksals höh're Mächte
Zur Krone Dir bestimmten.

Fortan ist das heiße, aber schwache Hirn in der Gewalt des Weibes. Der Ausspruch der Hölle erfüllt sich durch ihrer Beider Charakter.

Alle kleinen Umstände nimmt Lady Macbeth zu Hilfe; alle kleinen Umstände kommen ihr entgegen. Der freundliche König besucht selbst ihr Haus, sich dem Dach seines Günstlings anvertrauend. Als außer Athem der eilende krächzende Bote ihr diese Nachricht bringt, was spricht sie? Selbst sein Aechzen nimmt sie auf.

                            Der Rabe selbst, er krächzte
Mir lieblich, der mir Duncan's Schicksals-Ankunft
Unter mein Dach hier meldete. Kommt, Geister,
Ihr Laurer auf der Sterblichen Gedanken,
Entweibt mich! Füllet mich von Kopf zu Fuß
Gradhin mit Grausamkeit! Verdickt mein Blut!
Verstopft der Reue Thür und Thor, daß keine
Beängstenden Besuche der Natur
Erschüttern meinen grausen Vorsatz, oder
Friedstiften wollen zwischen ihm und That!
An meine Brüste kommt! nehmt meine Milch
Für Galle, Ihr Morddiener! wo irgend Ihr
In unersichtlichen Gestalten lauert
Auf Unfall der Natur. Komm, dicke Nacht,
Kleid ein Dich in den dumpfsten Höllenrauch,
Daß mein spitz Messer selbst die Wunde, die
Es macht, nicht sehe, noch der Himmel durch
Die dunkle Decke späh' und rufe: »Halt!«

Personen solches Charakters und Vorsatzes dürfen gegen Zufälle des Verhängnisses nicht klagbar werden.

»Aber den ersten Funken streuten die Hexen doch in Macbeth's Seele.« Aus keiner Ursache, als weil sie darin den leichtesten Zunder fanden; in Banco's Seele fanden sie ihn nicht. Bemerktet Ihr nie, wie ein schwaches Gemüth allenthalben, bei der leichtesten Veranlassung Funken fängt, die es anglühn und bei dem ersten Windstoß zur Flamme werden? Hier war nach siegreich geendeter Schlacht Macbeth in Wallung, empfänglich jedes Eindrucks. Wären es auch nur gemeine Weiber gewesen, die ihn nach solchem Siege mit dem Königstitel begrüßt hätten: und sein schwaches Gehirn hätte den Gruß als einen Ausspruch der Götter angenommen, dasselbe wäre erfolgt mittelst einiger Monologen. Shakespeare erhöhte die Stimme und verkürzte sich dadurch, ja, er öffnete sich einen neuen Weg. Wenn der von seinem Herzen und von aller Welt verlassene, freundlose Macbeth nirgend nun Rath und Hilfe weiß, wo soll er hin als zu seinen Hexen? Und wobei trifft er diese an? Eben bei ihrem fertigen Werk, dem abscheulichsten, das nie die Sonne sehen wird. Als Köchinnen alles Verruchten dienen sie der Hexengöttin zu Jammer und Elend. Unersättlich dieses Jammers, singen sie wie Mägde einander bei ihrem Geköchs im Chor zu:

          Mehr noch, Müh und Jammer noch!
Feuer, brenn und, Kessel, koch!

Ihre Katzengeister rufen sie hinzu, dem Eingebrockten den Zauber zu geben:

Blaue und Graue,
Geister, schwarz und weiß,
Menget, menget, menget,
Wer zu mengen weiß!
Hexe 1. Ich fühl's, es zuckt am Daumen mir;
Was Verruchtes ist nah uns hier –
Offen und nah. Wer klopft da?

Macbeth tritt ein, und sie lesen ihm ferner die Zauberepistel, die wir nachher Zug für Zug durch den kommenden Birnams-Wald u. s. w. erfüllt sehen, eine wahre und doch trugverführende Höllensage. Seinem Weibe, die keine Hexe verführt hat, die Banco's Geist nicht sieht, spricht statt dessen im Schlaf weit furchtbarer ihr Bewußtsein im innern Busen. Nachtwandelnd erscheint sie und wäscht umsonst das Blut von ihren Händen, dessen Flecke sie einst doch von Macbeth's Händen zu waschen so leicht fand.

O Shakespeare! wie kehrst Du das Innere hinaus! machst sprechend den stummsten Abgrund der Seele! Alles ist Dir Verhängniß, und ohne innere Theilnahme doch nichts Verhängniß. Zu jedem Deiner Ereignisse, seien sie Gräuel oder edle Thaten, stimmt die ganze Natur bei, frohlockend oder schaudernd. Das Ungewitter in »Lear«, da der Himmel seinen ganzen Zorn wegen des Undanks der Töchter ausgießt, trifft das nackte Haupt des unbedachten dachlosen Vaters, der an seinem Unglück selbst Schuld ist. Das Klopfen an Macbeth's Thür, sobald der König ermordet ist, und was der Wächter dabei sagt, die Furchtereignisse nach König Hamlet's Tode, sonst jede Zustimmung der Natur zu der von Dir dargestellten That, sie zeigen alle Deine stille, große, ins Weltall ergossene Seele, in die sich Alles spiegelt, aus der sich Alles hinausspiegelt, Verhängniß und Charakter, Charakter und Schicksal.

Und jedes Deiner Stücke ist so neu und eigen, als wäre es eine eigne Welt! Nichts von »Lear«, »Romeo«, »Othello« u. s. w. kann ich anderswohin tragen. Hamlet und Macbeth, beide der Geisterwelt zugekehrte, metaphysical characters; und doch stehn sie wie Ost und West aus einander. Den Hamlet konnte die Erscheinung seines allgeliebten Vaters aufs Innigste bewegen, sein Dasein konnte sie auf immer erschüttern, nie aber ihn dahin bringen, daß er eine schauderhafte That zu rasch, unbesonnen vollführte. Im ehrsüchtig-rohen Macbeth zündet ein Hexengruß auf der Heide den Zunder an, der nur diesen Funken nöthig hatte, damit sein Weib ihn zur Flamme aufblase.

In allen andern Stücken Shakespeare's erscheint dieselbe hohe Verknüpfung der Begebenheiten, die über Menschenwahn hinausreicht, zu der Menschen aber nach ihren Gesinnungen und Meinungen, nach ihren Neigungen und Leidenschaften mitwirken. Lear z. B.; sobald er mit solchen Aeußerungen sein Reich theilt, ist auch sein Schicksal entschieden. Dem Romeo, sobald er aus der todfeindlichen Familie die Julie sieht und liebt, hat Eris den Apfel geworfen. Sobald Desdemona sich dem Neger Othello hingiebt, schwingt auch Asmodi das Schnupftuch.Das Othello ihr gegeben, und dessen Entwendung die schreckliche Eifersucht und Rache Othello's zur Folge hat. – D.


Fortsetzung.

Ist also das Schicksal des Theaters nichts als eine Verknüpfung der Begebenheiten, die mittelst menschlicher Leidenschaften, Sitten und Meinungen bewirkt werden, wer hätte etwas gegen dies unleugbare Verhängniß, dem wir Alle dienen, zu dem wir Alle mitwirken? Wer vielmehr wünschte sich nicht Glück, einen Ausleger dieser Geheimnisse, einen Dichter zu finden, der die Verknüpfung des geistigen und irdischen Reichs der Schöpfung, des Allgemeinen und des Besondern, nicht etwa nur in Worten verkündigt, sondern in dargestellter Handlung zeigt? Denn gewiß wird dieser Dichter den Fügungen der obern und untern Haushaltung nachgespäht, die Knoten ihrer Verknüpfung sowol als ihre Auflösung mit Aug' und Herz beachtet haben. Er führte uns damit ins Heiligthum der Vernunft und des Verstandes, die doch auf nichts als auf den innern Zusammenhang der Dinge hinausgehn.

Vor zwanzig Jahren schrieb Lessing ein Stück »Nathan der Weise«, das man sogar ein dramatisches Lehrgedicht über die Vorsehung nannte. Schlimm für das Stück selbst als Drama, wenn es nur dieses wäre; es ist eine dramatische Schicksalsfabel, die zu dem edelsten Zwecke gewebt ward, aus Charakteren gewebt ward, die, ohne es selbst zu wissen, aufs Verschiedenste, alle aber durchflochten miteinander zu einem heiligen reinen Zweck wirken. Ein Tempelherr wird nach Palästina geworfen, er weiß selbst kaum, wie, gefangen und allein begnadigt, er weiß selbst nicht, warum. Es entdeckt sich, einer Ähnlichkeit wegen, die er mit einem Bruder des Sultans habe, sei dieses geschehen; die Sache kommt ihm und dem Sultan aus dem Gedächtniß. Er rettet ein Judenmädchen aus dem Feuer und weiß nicht, warum; kommt dadurch in Bekanntschaft mit Nathan, den er kennen zu lernen nie Lust hatte; mit der Geretteten selbst, deren geistige und körperliche Bildung ihn mit einer Art Liebe überrascht. Der Jude zögert; der Patriarch, ein Klosterbruder, der Sultan kommen ins Spiel; es entdeckt sich endlich, daß Recha des Tempelherren Schwester, daß Beide des Sultans Bruderkinder, daß beide Religionen nahe verwandt sind und der Jude ihr Aller Wohlthäter gewesen. Um ein Märchen von drei Ringen schlingt sich das dramatische Märchen, ein reicher Kranz von Lehre der schönsten Art, der Menschen-, Religion- und Völkerduldung. Im Kampf aller Parteien und Religionen, in ausgewählten, durch das Schicksal zusammengeführten Situationen wird dieser Kranz von den verschiedensten Händen geflochten; alle rufen uns zuletzt das höchste Wort des reinsten Schicksals zu: »Ihr Völker, duldet Euch! Ihr Menschen verschiedner Sitten, Meinungen und Charaktere, helft, vertragt Euch, seid Menschen!« Ein ewiger Denkspruch für unser Geschlecht in allen Classen, Religionen und Völkercharakteren. Die Menschenvernunft und Menschengüte, die in diesem Drama die Wage halten, bleiben die höchsten Schutzgöttinnen der Menschheit.


Lessing schrieb eine »Emilia Galotti«, gleichfalls eine Fabel des Schicksals, durch Umstände und Charaktere bewirkt und wirkend. Ein solcher Prinz durfte nur eine solche Emilie gesehen haben und eines Contrasts ihrer, seiner jetzigen Geliebten satt sein; ein Maler durfte jetzt nur dem Kunst-Mäcenaten beide Gemälde bringen und dabei der Prinz zufällig vernehmen, daß diese Emilie an einen Appiani vermählt, daß heut der Tag ihrer Hochzeit sei, so mußte alles Fernere höchst beeilt und Marinelli zu Allem das vielseitig geschäftige Werkzeug werden. In diesem Hofgewirr, wo, wie in jenem Walde,Des »Sommernachtstraumes« von Shakespeare. – D. fortan Puck spielt, war der Brief der Orsina unerbrochen geblieben; so findet sie ihn. Es geräth und mißräth Alles bis zum tragischen Ausgange. Ob dieser nicht anders hätte sein können, bleibt dem Dichter anheimgestellt; gnug, daß dieser ihn diesmal nicht anders haben wollte. Das Stück entwickelt eine Prinzenfabel mittelst treffender Charaktere unter der Leitung eines Marinelli, über ihm aber eines höheren Schicksals, das sich dem Schranzen so wenig als dem Prinzen bequemt. Der Vorhang fällt, und wir schaudern. Discite justitiam moniti et non temnere honestum!»Lernet Gerechtigkeit, und verachten nicht, was honnet ist!« [Virg. Aen., VI, 620] – H. Zwischen Handelnden und Schauenden steht die Regel aufrecht.


Aristoteles hielt die Poesie für philosophischer als die Geschichte, weil sie im Besondern das Allgemeine anschaubar mache; die dramatische erfüllt diese Pflicht unter der strengsten Regel. Denn gäbe es eine tiefere und bündigere Philosophie, als wenn der verworrene Knäuel einer Begebenheit nicht nur nach Zeiten und Sitten dargestellt, nicht nur aus Grundsätzen, Meinungen und Leidenschaften entwickelt, sondern diese alle auch unter eine hohe, reine Vernunft gebracht und zu einem Zweck, mittelst eines Fadens geleitet werden, den im Namen des Schicksals sein Bote und Verkündiger, der Dichter, festhält! Aber wie wenige dichtende Hände reichten an diese Verhängnißtafel!


Ob und welche französische Tragödiendichter dahin gereicht haben, entscheiden wir nicht; vor allen waren zwei Passionen, die ihnen die Regel des Theaters krümmten, Ehrgeiz und Liebe, la noble et la belle passion, wie man sie nannte. Jene verwirrte den Kopf der Menschen, mithin auch das Herz; diese das Herz, mithin auch den Kopf. Welche Ungeheuer sind auf die französische Bühne gebracht, die man als Helden oder Heldinnen dargestellt hat! Dem Ruhm, der Herrschsucht, der Eitelkeit opfern sie Alles auf, Vater, Brüder, Söhne, Weib, geschweige Unterthanen und Diener; Alles der edlen Passion, die in hochtrabenden Sentenzen, in tiefen Planen der Politik, in Verwirrungen über Verwirrungen – toll ist. »Dergleichen Staatsplane und Intriguen zu hören,« würde ein Grieche sagen, »dergleichen Thoren zu bewundern und glücklich zu preisen, versammelt Ihr Euch im Theater? Sind sie glücklich? Machen sie glücklich? Und Ihr bewundert und preiset Menschen, die, mit einem Wort, nicht gescheit sind. Hätte der Dichter auch alle Vorsicht gebraucht, seine Tragödie zu seiner Zeit an den Hof, in das Lager, unter lauter Personen zu setzen, die mit gleicher Krankheit behaftet, allesammt sich und seine tollen Menschen für gescheit halten: habt denn auch Ihr von der Tollwurzel gegessen und seid krank wie sie? Lebe wohl, deraisonnirendes, heldentolles Theater!«

Oder sähe er Stücke, wo die belle passion galant dominirt, wo der Held zwei schöner Augen wegen auf einmal sich und seinen Charakter, Vaterland, Würde, That, Freunde vergißt und die Fabel des Schicksals mit seinem zarten Herzen und mit noch zärtlicherm Beifall der Zuschauer zum Ungebilde der belle passion erniedert: »Ist das Eure Welt der Seligkeit?« würde der Grieche fortfahren. »Gilt Euch Galanterie statt honneter Pflicht? schlaffe Delicatesse statt Liebe? Hat, wie jene Abderiten, auch Euch der kleine galante Gott getroffen, daß, wo Ihr Liebe nur nennen hört, Ihr sogleich hinschwindet und ächzet? In welche Region ist Eure Passion gesunken! Aus der Brust in die – Leber.«

»Wie aber?« wird das alt- und neugalante Zeitalter sagen, »dürften diese Schwachheiten, die in der Welt herrschen, nicht auf dem Theater vorgestellt werden?« Recht vorgestellt, in ihren wahren Folgen – allerdings! Dazu eben trug Melpomene den Dolch, die Keule. Ihr habt das Geräth verändert; statt jener beschwerlichen Waffen gebt Ihr ihr den Spiegel der Venus in die Hand. Wohl! In ihrer Hand werde auch er ein Spiegel der Wahrheit! Wenn Alles heuchelt, heuchle das Theater nicht; die Stimme unsers innersten Bewußtseins, das Maß über Werth und Unwerth der Gesinnungen, Handlungsweisen und Leidenschaften auch dieser Art ertöne rein; sie werde nie verfälscht! In Cabinetten gelte falsche Politik, im Lager falsche Heldengröße, in Klöstern und Einsiedeleien falsche Heiligkeit, in Sälen der Gesellschaft, in Liebeskammern offner Betrug nach hergebrachten, beiderseits einverstandenen Conventionen, nicht aber bei Vorstellung einer Verknüpfung von Leidenschaften, die unter dem Auge des Schicksals vorgehn, und die seine Hand leitet! Fürchtet Ihr nicht, die ernste und strenge Göttin zu erzürnen, mit der Ihr falsch und niedrig spielt? Beraubt Ihr Euch nicht selbst des reinsten Maßes der Vernunft und des Verstandes, des Rechts und Unrechts, des Glücks und Unglücks, wenn Ihr diese Namen in einen Loostopf der Convention als Modenamen werfet? Glaubt Ihr im Ernst, daß die große Lenkerin der Begebenheiten, die Richterin menschlicher Charaktere, nach der Schminke, die Ihr Euren Larven anstreicht, messe, richte und ihren Gang nehme? Ihr belustigt Euch also, wie die Chinesen, an Fratzenbildern, mit dem süßen Wahn, sie seien das reine Urbild der Menschheit, weil sie »Convention Eures Geschmacks« sind? und seid, wie die Chinesen, das einzige Kunstvolk der Erde. Denn das hat der falsche Geschmack sowie die Unnatur an sich, daß, wenn sie zur Gewohnheit wurden, sie die verkrüppelte Natur höchst ungern verlassen, die einmal sich in ihre Schnürbrust zwang. Frei von dieser, fiele sie ja gar in einander.


Das griechische und englische Theater ging in Absicht der belle et noble passion einen strengeren Weg. Melpomene schonte ehrsüchtiger Tyrannen nicht, noch weniger fröhnte sie und wollte ihren Unsinn verkleiden. Der Atriden Unglück zeigt sie bei allem Glanz ihrer Herrschaft; mit dem Diadem ist es den harten Königsstirnen dieses Hauses eingeprägt, bis in dem geprüften Orest, in der geprüften Iphigenia sich seine Gesinnungen mildern. So manchen Kreon, der tolle Befehle giebt, zeigt sie mit blutender Brust über eigne Unfälle unter der allgemeinen Mißbilligung des Chors, d. i. des Volkes. Vollends die romantische Galanterie der Liebe war den Griechen theils unbekannt, theils bei ihnen verbannt vom tragischen Theater. In Märchen gehörte sie und in erotische Lieder.

Shakespeare? Wer hat bei ihm nicht in Aller Stände, mithin in der Könige, Tyrannen, Minister, Helden, und was ihnen zugehört, Herz gesehen und dessen innere Stimme gehört? Habt Ihr den König Lear in seinen Unfällen, unter Donner und Blitz, in der Hütte des nackten Bettlers nicht erblickt? seiner Treuen und Ungetreuen, seines Hofnarren sogar, Gesinnungen nicht vernommen? Keine Angstgeberde Macbeth's drang in Eure Brust? die nachtwandelnde Königin erschien Euch vergeblich? Auch in den historischen Stücken seid Ihr der Richarde, der Heinriche, König Johann's, Wolsey's u. s. w. Herzensbekenntnisse nicht inne worden? Großer, stiller Dichter, Du führtest die Wage menschlicher Gesinnungen und des waltenden Schicksals in Glück und Unglück mit Treue, mit Wahrheit. Keines Deiner Stücke ist dem andern gleich; in jedem haucht ein andrer Welt-, Zeit- und Lebensgeist; das Band der Begebenheiten ward immer anders geschlungen, anders geleitet; und doch ist's allenthalben nur Dein unsterblicher Griffel, der von den Tafeln des Verhängnisses uns diese Gemälde darstellte und unser inneres Auge ihnen aufschloß.

So auch bei Shakespeare die Liebe; nie ist sie ihm Galanterie, als wo sie es sein muß. Wahre Liebe dagegen mit allen Vorbereitungen und Wendungen, mit jedem süßen Spiel, das ihr gehört, geschweige mit den verschiedenen Ausgängen ihres Schicksals – wer hat sie reiner, tiefer, vollendeter dargestellt als Shakespeare? Romeo und Julie, Desdemona, Imogen, so manch andres Gemälde, mit andern Farben gemalt, in andern Situationen dargestellt, sind ewig lebende Bilder im Garten der Liebe. Ihr und jeder Leidenschaft wies Shakespeare das Gebiet an, das jeder gehört.

Auch liegt die Quelle der Infirmitäten vor Augen, unter denen bei andern Nationen das Theater leidet; sie ist – die leidige Repräsentation, ein Ding, das Alles verkünstelt. In der Malerei kennen wir den Unterschied der Gemälde, die den Maler anlächeln, und derer, die vor sich hinsehend für sich da sind. Jene liebäugeln Jedem, der sie anblickt, wie – die Gestalten der neueren Bühne. Sind diese nur für den Zuschauer da, für den sie empfinden, dem sie schmeicheln, den sie rühren wollen und sich damit seinem Wahnsinn, seinen Schwächen anheucheln, so wird Alles ein gegenseitiger Betrug. Der Spiegel der Wahrheit ist zerbrochen; der große Gang der Begebenheit wird durchtändelt. Vergesset, daß Ihr Zuschauer habt, Ihr Schauspielerinnen und Schauspieler! die Großen Eurer Kunst vergaßen es stets. Als bedeutende Charaktere, als Werkzeuge des Verhängnisses handelt Ihr gegen und für einander. Die Begebenheit, die Ihr darstellt, ist Eure Welt; der Geist, der diese Begebenheit erfüllt, Eure Gottheit, Numen, nicht Parterre und Logen. Noch mehr vergebet diese, Ihr Dichter! In Eurem Herzen hängt die Wage, auf der Ihr uns Begebenheiten und Gesinnungen zuwägen sollt; auf den ewigen Tafeln muß Euer Geist die Charaktere gelesen haben, die er darstellt. Hat er dies, so werden ihm Herzen und Geister willig folgen. Hat er's nicht, so bleibt jede Repräsentation kleinlich. Parterre und Theater verderben einander sodann wechselweise, und jedes wälzt die Schuld aufs andre.

Vom Dichter muß das Gebot ausgehn; ihm muß der Schauspieler, Beiden wird das Publicum willig gehorchen. Er kann es zwingen zum ächten Gefühl und zwingt es mit süßer Gewalt, unter dem Scepter inniger Wahrheit. Nicht seine Macht ist's, die er ausübt, Macht der Begebenheit, Macht der Regel. So lange ihn: etwas willkürlich, ganz willkürlich scheint, sieht er selbst noch sein Ziel im Nebel. Glaubt er gar, er könne dies Ziel stecken, wohin er wolle, höhnt er das Gesetz – o, so hat das Gesetz ihn längst verachtet!


Fortsetzung.

»Aber eine so strenge dramatische Gerechtigkeit, verödet sie nicht das Theater? Soll jeder tugendhafte Charakter in dem Maße, wie er es verdient, belohnt, der Lasterhafte gestraft werden, so hört die Tragödie auf; sie wird ein tragisch-feierliches Lustspiel. Soll den Zuschauern der Codex ihres Gewissens aufgerollt werden, so bleiben sie weg; sie wollen geschmeichelt und amüsirt, nur amüsirt sein.« Falsche Vorspiegelungen der trägen Unkunst, aus Mißverständnissen genommen, Schlaffheiten nährend, am edleren Theil der Menschheit verzagend.

Wer will denn, daß jede Tugend ganz belohnt, das Laster ganz bestraft werde? Wer will, daß ein Theater das Forum der höchsten und ewigen Gerechtigkeit werde? Darf sich dessen ein Mensch nur in Gedanken anmaßen? Wir sprechen vom Verhängniß, wie wir's kennen, wie es hier anspinnt, leitet und entscheidet. Nach Maßgabe dessen forderte Aristoteles, daß kein ganz vollkommener Charakter auf der tragischen Bühne erscheine, aber auch kein ganz lasterhafter Charakter. Jener, weil er über uns, dieser, weil er unter der Menschheit sei, mithin bei keinem von beiden Furcht für uns, Mitleid mit ihm stattfinde, weil beide Unsersgleichen nicht sind. Auch der tugendhafte Held sei nicht ohne Fehler, der böse nicht ohne Anlage zum Guten; beide seien und bleiben Menschen, über welche dann das Verhängniß waltet. Walte es über sie, wie es ihm gefällt; die Wage ihres innern und äußeren Werths, ihres wahren Glücks und Unglücks, ihrer Schuld und Unschuld bleibt dem Dichter. Er zeige, was die waltende Göttin mit ihnen vornahm, wie sie es veranlaßten und ertrugen, menschlich. Ließ das Glück sie kleiner Fehler wegen sinken, wolan! er darf es nicht rechtfertigen, aber zeigen muß er, was in der Brust des Rechtschaffenen auch gegen diese hohe Hand für ein Gegengewicht liege. Hebt es den Ruchlosen empor und läßt ihm seine Tollheit gelingen: er zeige, wie wenig er dadurch glücklich ward, und welche Folgen diese Tollheit für ihn und Andre habe. Blute die Wunde, oder werde sie geheilt, nur der Lauf der Begebenheit gewinne einen Ruhepunkt oder werde gerundet.

So dachten die griechischen Dichter. Oedipus, als Mörder seines Vaters enthüllt, der unschuldig-schuldige Oedipus steht da, blind ein Verbannter. Ein Ruhepunkt in der schrecklichen Fabel seines Schicksals. Jokaste ist todt, die Töchter begleiten den Verbannten. Da erschien sein Schatte dem bejahrten Sophokles und sprach: »Bring mich zur Ruhe! die Fabel meines Schicksals ist nicht beendet.« Sophokles folgte der Stimme und schrieb den Oedipus in Kolone. Auf seinem Geschlechte lag der Fluch; er ward erfüllt. Antigone stieg lebendig ins Grab, unglücklich, aber schwesterlich-edel, und der Tyrann litt für seine Unthat. In fürchterlichem Zweikampf kommen Oedipus' Söhne, Eteokles und Polynices, um; der Tyrann leidet für seine Unthat gegen die Schwester. Die grause Fabel ist geendet.

So Agamemnon's Haus. Der König ist zu den Schatten hinunter; Klytämnestra mit blutiger Hand ist ihm gefolgt, Orestes irrt, verfolgt von den Eumeniden, umher, Iphigenia war geopfert. »Sie sei gerettet,« sprach die Muse. »Die Göttin habe sie nach Tauris gesichert; als Priesterin daselbst rette sie dem letzten Sproß der Atriden das Leben und gründe aufs Neue das Glück des verödeten Hauses. Orestes werde entsühnt, das Schicksal versöhnt.«

Prometheus liegt gefesselt am Felsen; soll er dort ewig ächzen? Die Muse erschien dem Dichter; er schrieb den »Entfesselten Prometheus«.

Dies ist der Ursprung jener bekannten Trilogien und Tetralogien der Griechen. Nicht blos das Herkommen und die unersättliche Lust der Athener zu Schauspielen brachte sie hervor, sondern das verlangende Menschenherz und die tragische Kunst selbst. Beide sehnten sich nach einer Beendigung, durch welche wie durch den Schluß einer Musik die Leidenschaften gestillt, und wie durch Weihgesänge das erregte menschliche Herz mit dem Schicksal versöhnt werde.Herder würde heute hierin nicht mehr den Ursprung der tragischen Trilogie suchen. – D.

Bei den abgeheilten Shakespeare'schen Stücken ist's ein Gleiches. Jedes hat einen Ruhepunkt, jedes verlangt aber auch nach einem Ende in der Fabel des Schicksals. Falle dies aus, wie es wolle: unterliege Cordelia, und über ihr sterbe der verlassene Vater; Hamlet mit Allen, die zum Theil er selbst unschuldig ins Grab riß, erliege, der einzig zurückbleibende Horatio wisse nichts zu sagen, als:

»Jetzt bricht ein edles Herz! Prinz, gute Nacht,
Und Engel singen Dich zur Ruhe!« –

die Fabel ist zu Ende. Fortinbras zieht ein; es beginnt ein neues Blatt des Schicksals.

Ueberdem, wer wählt die Fabel des Drama? Der Dichter. So lasse er weg, was er sich zu bearbeiten nicht getraut; zu Fabeln Atreus' und des Thyest's zwingt ihn Niemand. Die hohe Macht, die sie zugelassen oder veranstaltet hat, möge sie selbst rechtfertigen und exponiren. Gar Moralisationen über alte Geschichte fordert man vom tragischen Dichter so wenig als Bußpredigten und zu erregende Bußthränen. Im Trauerspiel sowol als im Lustspiel sind diese oft selbst Dem widrig, der sie vergießt, sobald sie über die Regel der Kunst hinausschreiten. Schmerzliche Thränen vergießen wir im Leben gnug; unangenehme Begegnisse, niedrige Naturen verfolgen uns unaufhörlich; wer seine Kunst darauf anlegt, uns mit diesen auch im Theater zu speisen, uns das uns täglich Drückende recht einzuprägen, ohn' alle Arznei uns den Kelch des Lebens ganz zu verbittern: kein Künstler, Giftmischer ist er oder ein unwissender Apotheker. Edle Charaktere, die unsrer Art, mit unsern Schwachheiten behaftet sind, sollen uns vorleuchten; Helden sollen uns vorstehn, die, wenn sie durch Gebrechen ihr Unglück veranlaßt haben, dies und noch mehr das unveranlaßte klug abwenden, gesetzt ertragen. Das Gute richtet auf, nicht das Schlechte. In einer weinerlichen Krankenstube ohne Arzt, in einem Siechhaufe voll Kerkerluft, wo kein Fenster sich öffnet, wie unwohl wird uns! und wie oft haben wir dergleichen Bußsacristeien, jämmerliche Familien- und Krankenstübchen im Theater!

Den schlechtesten tragischen Charakter nennt Aristoteles den Bösewicht, der will und nicht kann; wir haben deren, die bittere, sogar christliche Thränen weinen, daß sie Dummheiten wollen und nicht vermögen. Hinweg mit ihnen in den Limbus!Limbus, Gürtel, ein abgegrenzter Raum im Jenseits, der in zwei Abteilungen zerfällt, eine für die Heiligen des alten Bundes (limbus patrum) und eine für ungetaufte Kinder (limbus infantum). – D.

Habt ein Zutrauen auf menschliche Gemüther, Ihr Dichter, daß sie wohl wissen, was sie vom Theater zu hoffen, aber auch was sie zu fordern haben; ein Quid pro quo speist sie nicht ab. Pflanzt z. B. dem Märtyrer, der als ein Dieb und Thor stirbt, eine Glorie um sein Haupt, legt Hymnen ihm in den Mund: Jeder weiß, was man von ihm zu denken habe. Stellt dem Rechtschaffenen, der unter dem Schimpf der Welt des ungerechtesten Todes stirbt, einen kalten Parentator zur Seite, der von den Belohnungen künftiger Welt viel rede: Niemand hört diese Parentationen. Ein Wort aus dem Munde des Sterbenden, was er hoffe, womit er sich tröste, ist mehr als tausend Worte fremder Verkündigung (δι' ἀπαγγελίας). Ueberhaupt schließt sich uns im Theater die Welt mit diesem Leben. Das künftige hoffen wir; mancher Unglückliche kann sich daran stark aufrichten, einmal aber stießen die Scenen theatralisch nicht in einander. Der Bösewicht kann, wie es bei frommen Stiftungen geschah, den Rechtschaffenen, den er quälte, nicht in jenes Leben assigniren; von ihm darf der Rechtschaffene keine Assignation annehmen. Die einzig wahre Anweisung darauf trägt er selbst in seinem Busen. Christliche Mysterien endlich gehören gar nicht auf die Bühne; kein Grieche durfte Mysterien aufs Theater bringen, oder er ward gestraft. Die Kunst hatte ihn schon gestraft dadurch, daß er sie aufs Theater brachte.

Rühren und nichts als Rühren ist der schlechteste oder vielmehr kein letzter Zweck des Trauerspiels. Muß man denn nicht wissen, wofür, wodurch, wozu man gerührt werde? Bei einem verwöhnten, thränenreichen und empfindungsarmen Publicum sind nasse Tücher das zweideutigste Feldzeichen vom Werth des Dichters. Thränenwerthe Scenen giebt es im Leben gnug; von ihnen wollen wir durch Kunstfabrikate die Menschen nicht entwöhnen. Lernen sollen diese vielmehr, wo sie weinen, aber auch wo sie zürnen, wo sie nicht weinen, sondern handeln, wo sie nicht weinen und fassend sich beruhigen sollen; denn dies, nur dies ist nach allen geweinten Thränen der letzte Zweck des tragischen Theaters.

Wie die Aesopische Fabel ihre Lehre nur in der bestehenden Naturordnung mittelst fortwirkender unveränderlicher Charaktere anerkannte; wie das Märchen vermöge der Gesetze unsrer Natur seine Welt uns in einem Traumreich zeigte: so strebt die dramatische Poesie, die höchste aller, zum höchsten Ziele. Menschliche Charaktere und Leidenschaften ordnet sie in eine Fabel der Begegnisse des Lebens, die zum Theil aus ihnen entsponnen, gewiß aber durch sie geleitet und ausgelöst wird; und zwar nicht zum blinden Haß oder zu stupider Unterwerfung. sondern durch Furcht für uns, durch Theilnehmung an Unsersgleichen zu Ordnung und Läuterung unsrer Leidenschaften von allerlei Art, wie in den orgischen GeheimnissenDen Orgien der Kabiren und des Dionysos. – D. bei einem Versöhnungsopfer.


Schluß.

Vielleicht sind manche Leser hiedurch noch nicht versöhnt. Der Kranz des Drama hängt ihnen zu hoch, zu hoch der Ring des Schicksals; Reinigung der Leidenschaften scheint ihnen ein herbes Wort. Weiche Seelen wollen gerührt, andre belehrt oder bestürmt werden, alle indeß sich amüsiren. Also noch einen Kampf für die Wahrheit!

Die größten Motive des menschlichen Herzens und Lebens sind Furcht und Theilnehmung; das Trauerspiel ist daher die menschlichste aller Poesien, da es sich dieser Triebfedern im innersten Grunde annimmt.

Der ganz furchtlose Tyrann ist ein Ungeheuer. Wer die Nemesis nicht fürchtet, wen sollte er fürchten? was dürfte er scheuen und schonen? Das Trauerspiel stellt ihn in dieser häßlich-verderblichen Gestalt von innen und außen unter die Macht jener strafenden Göttin. Fürchterlich straft sie ihn schon dadurch, daß sie ihm den Sinn verrückt, ihn Pharaonisch verhärtet, ihn taub verblendet. An ihm lernen wir fürchten.

Dagegen auch welche Plage des Lebens ist eine schwache, übertriebne Furcht! Sie stört unser Glück durch Träume künftigen Unglücks und zieht dieses dadurch selbst herbei. Wäre sie auch gerecht, diese Furcht, sie kann nichts ändern! Und das Herz hat sie einmal entwaffnet. Tritt das widrige Schicksal heran, so findet es die durch Furcht geschwächte Brust wehrlos. Hier tritt Melpomene auf und waffnet gegen das Unglück. Nicht zu ehernen Stoikern macht sie uns oder zu hornenen Siegfrieds: gefaßten Geist will sie uns geben auf alle Unfälle des Lebens, durch Nüchternheit, Mäßigung, Verstand, Klugheit (σωφροσύνη). Nie sollen wir den Muth aufgeben, aufwärts das Haupt, die Brust uns frei erhalten; das Trauerspiel lehrt uns also die Furcht zähmen.

Sofern wirkt es für uns, für uns allein; es läutert und ordnet Leidenschaften, die zu Erhaltung unsrer selbst gehören. Ehrgeiz, Neugierde, Uebermuth, kränklichen Gram, Mißtrauen, Unzufriedenheit, Kleinmuth u. s. w. reinigt es, alle durchs rechte Maß der Furcht.


Da aber der Mensch nicht allein in der Welt lebt und ohn' andre Menschen nie glücklich leben kann: wie heißt die Triebfeder unsers Herzens, die uns mit Andern zu Glück oder Unglück verbindet? Theilnehmung. Auf Sympathie ist sie gebaut; schlüge dies Gefühl in unsrer Brust nicht, kein Dichter könnte es uns einwirken. Aber es schlägt bei jedem Gegenstande unsersgleichen, am Stärksten bei seinem Schmerz, bei seinen Leiden. Dies Gefühl rege zu machen, rege zu erhalten, es aber auch in seine Schranken zu führen und sicher zu leiten, dazu arbeitet die dramatische, vorzüglich die tragische Dichtkunst.

Da wir nämlich an Allen unsersgleichen auf gleiche Art, in gleichem Maße nicht Theil nehmen können, müssen und dürfen, so soll die tragische Dichtkunst uns lehren, an wem und woran und in welchem Maß wir Theil nehmen sollen, damit unsre Theilnehmung vernünftig sei, d. i. damit sie sowol gegen Andre ihren Zweck erreiche, als auch uns nicht selbst nutzlos zerknete und aufreibe.

Den untersten Grad der Theilnehmung nennt Aristoteles menschenfreundliche (philanthropische) Gesinnungen; wir sind sie Jedem unsers Geschlechts schuldig. Auf ihre Ausbildung soll Alles wirken, Erziehung, Beispiel, Lehre, Geschichte, Fabel, Märchen, die sämmtliche Dichtkunst.

Sind sie aber das Maß der Theilnehmung, das die Tragödie in ihrer Hand hat? Aristoteles sagt: »Nein!« und das mit Recht. Was durch alle Mittel bewirkt werden kann und soll, was mitunter das Trauerspiel auch mit bewirken muß, weil es sonst eine Kunst der Cannibalen wäre, darf und kann nicht sein eigner, besondrer und höchster Zweck sein. Mit Recht nennt Aristoteles also die nähere, höhere Theilnahme, die wir den Helden oder Heldinnen des Trauerspiels schenken, einen Affect, Mitleid. Dies Wort unsrer Sprache spricht die Sache selbst aus.

Wem schenken wir nun dies Mitleid? Dem? Dem? Dem? Der? Der? Der? Die schärfste Prüfung wird diese Frage verdienen;Eine Prüfling dieser Art wird in dieser Zeitschrift nach Ort und Zeit folgen. – H. (Ist nicht erfolgt. – D.) denn es wird ein Dolch an unsre Brust gesetzt, wenn wir diese, die zarteste Gabe unsers Herzens, das hohe tragische Mitleid, Unwürdigen geben sollen. Mörder der Melpomene sind sie, die solche für Unwürdige abfordern; denn nicht nur haben wir in unserm Herzen nichts weniger zu vergeuden als dies Mitleid, sondern, da dieser niedrige Diebstahl, z. B. für Huren und Buben, hier durch Mißbrauch der edelsten Kunst geschieht, so ist der schlechteste Name, der genannt werden kann, »ein Kuppler!« für den tragischen Kuppler fast noch zu linde.

Werden wir nicht im Leben vom Mitleid gnug geängstet? Sehen wir nicht Hunderte mit uns leiden, denen wir nicht helfen können? Tausende, denen wir nicht helfen mögen? Und Ihr, die Ihr sie höchst gerecht bestimmen solltet, verrückt uns diese Wagschale? Ihr verfälscht sie wissend sogar, Dichter? Erlaubt, daß wir Euch, zwar nicht wie Plato aus der Republik, aber aus unserm Herzen vertreiben. »In dies Stück komme ich nie wieder.«

Mitleid, das höchste Mitleid, welch ein Geschenk! Bei jeder innigen Theilnahme geben wir einen Theil unsers Herzens hin, ja vielmehr der Gegenstand wohnt in unserm Herzen; wir theilen sein Schicksal. Wollten wir's mit einem Unsinnigen, einem Verachtenswürdigen, einem Schwächlinge, einer Mörderin, Buhlerin oder irgend einem Gemeinen, Niederträchtigen theilen? Hier also brenne die Gluth der schärfsten Prüfung! Nicht nur alles Verachtenswürdige, Schamlose, Häßliche, Tollkühne, Freche, Eitle, Verführende brenne sie ab, sondern im stärkeren wie im schwächeren Charakter werde der Punkt geläutert: »wiefern er an seinem Schicksal Schuld sei und sich selbst Vorwürfe zu machen habe.« Denn machen wir sie uns nicht statt seiner?

Uns mit dem Schicksal zu versöhnen, jede Leidenschaft in uns so zu läutern, daß sie ein Werkzeug der Vernunft werde, dies ist der Zweck des Drama. Ueber Haß und Liebe, Freude und Traurigkeit, über Verdruß, Reue, Schwermuth, Stolz, Ehrgeiz und jede andre Begierde, nicht minder über Niedergeschlagenheit, Trägheit, Demuth u. s. w. gebietet es, daß jedes Unlautre hinweggethan, dagegen Zufriedenheit mit sich und mit seinem Schicksal, bescheidne Achtung und Fassung seiner selbst, hilfreiche Theilnehmung am Wohl und an der Noth Andrer unser bleibender Charakter werde. Welche Tragödie an ihrem Theil hiezu nicht, wohl aber dazu beiträgt, daß unlautre, böse Affecten in uns genährt und gereizt werden, die sie mit einem falschen Schimmer umkleidet, die holte ihr Feuer nicht vom Altar der Musen.

Dies ist nun die Reinigung der Leidenschaften κάϑαρσις παϑημάτων, die nach Aristoteles das Trauerspiel beenden soll; er hat sie, nicht in der Moral, aber zu Ende der Politik, wo er von der Musik handelt, eben an den Wirkungen dieser Kunst erläutert. Dahin sie denn auch gehört. Der reine Weise und Tugendhafte bedarf des Theaters nicht; wer aber Leidenschaften in sich zu läutern, wer mit sich und mit dem Schicksal zu kämpfen oder sich mit ihm zu versöhnen hat, der komme und lerne.


Hieraus ergiebt sich, daß, je geordneter die Menschen und die Staaten werden, der Zunder zur tragischen Flamme sich mindre. Atreus, Thyeste, Klytämnestren u. s. w. giebt es nur in den sogenannt heroischen Zeiten; in andern spielen sie ihre Rollen hinter dem Vorhange oder gar in der Coulisse, sittlicher, verdeckter. Nur Macbeths können morden wie er; nur Othellos erdrosseln ihre Desdemonen also. Eine gewisse Rauhheit der Seele in Herrschsucht, Rache, Stolz, Grausamkeit scheint unter der Hand der Zeit abgeschliffen, wenigstens geglättet zu sein, daß sie so scharf nicht ritzt oder schneidet. Sieht man Lessing z. B. die Mühe nicht an, die er hatte, den Mord seiner Emilie durch die Hand des Vaters bei den Zuschauern nur zu rechtfertigen? vielmehr im Gemüth Beider und in der Situation selbst ihn zu motiviren? Die Zeiten der Virginia sind vorüber, und ein andrer Vater als Odoardo hätte den Dolch vielleicht wohin anders gerichtet. Auch sind wir in unsern Begriffen von einem waltenden Schicksal absprechender worden; wir wollen ein Verhängniß nicht mehr glauben und haben Recht daran, wenn damit eine schadenfrohe Gottheit oder gar eine Hekate gemeint ist. Aber auch den Sturz der Thronen, den Ausgang ganzer Geschlechter, die ein Dämon verfolgt oder eine Unthat hinabreißt, den äußersten menschlichen Jammer, das tiefste menschliche Elend schaudern wir zu sehen; wir fordern einen fröhlichen, wenigstens einen gemäßigten Ausgang. So will es unser Schicksal.

Wie nun? Sollen wir deshalb jene alten hohen Fresco-Gemälde bei Aeschylus, Sophokles, Shakespeare aufgeben? Gewiß nicht! So waren die Menschen einst, und so sind sie noch, jetzt nur schlauer, verdeckter. An jenen großen Vorbildungen in Tugenden und Gräueln lasset uns hören, in welchen Tönen, mit welchen Wendungen die Leidenschaft einst laut sprach; jetzt raisonnirt sie leiser und feiner. An Kritzeleien aber läßt sich keine reine Handschrift lernen, sondern an großen, starken Fracturzügen.

Das Menschenherz bleibt immer dasselbe; die Schickung waltet durch alle Stände. Ein unbedeutender Mensch erfährt oft Katastrophen, wie König Lear sie kaum erfuhr; einer bedrängten Familie erscheint die Retterin aus Noth gewiß erwünschter, freundlicher, milder als einer Königin der unerwartete Bundesgenoß ihrer Kriegs- und Staatsplane.

Die Herabstimmung der hohen Tragödie zu dem sogenannt bürgerlichen Trauerspiel ist also keine Erniedrigung, keine Entweihung. Der Ungeheuer auf Thronen sind wir satt; wir wollen in den uns näheren Ständen und Verhältnissen Menschen sehen, die mit eignerer Kraft als vielleicht Jene die Schickung abwenden oder gegen sie kämpfen. Sokrates und Epaminondas, die Horazier, Coriolan, Regulus, Brutus, Cinna, Seneca, Papinian u. s. w. waren keine Könige, sondern Bürger.

Hat das rettende Stück einen fröhlichen Ausgang, so schmerze es der Spottname einer weinerlichen Komödie (comédie larmoyante) nicht; wir haben unter diesem Namen rührende Stücke der leidenden und geretteten Menschheit. Ueberhaupt ist's ein gutes Zeichen, daß wir den Geschmack am Flitterstaat der altfranzösischen sowie an der gothischen Pracht der englischen Tragödie verloren haben; auch die Theilnahme am Geklirr und Gelärm des alten gedankenlosen RitterwesensMit Beziehung auf die in Folge von Goethe's »Götz« aufgekommenen Ritterstücke. – D. ist fast vorüber.

Der Feind, mit dem wir kämpfen, ist das schwächliche Divertissement falscher Künstelei, falscher Liebelei, falscher Weisheit. Gern möchten wir den ganzen Shakespeare in einen Gozzi verwandeln, den man ja auch den italienischen Shakespeare genannt hat, oder wo möglich alle seine Stücke als Opern sehen und hören, – nicht überlegend, daß wir dadurch die ganze Kraft seiner tragischen Muse, seinen Monolog, seine Sprache des Herzens, der Vernunft und Natur, sondern auch die Declamation verlören, die nicht am Gesange (denn der will gehört, nicht gesehen sein), sondern an gesprochenen Worten haftet. In Vorzeichnung der Action durch die Sprache selbst ist Shakespeare Meister.

(Die Fortsetzung folgt.)Ist nicht erfolgt. Die »Nachlese zur Adrastea« brachte noch ein Bruchstück über das Drama. – D.


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