Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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7. Idyll.

Alle wissen wir, was gesagt werden soll, wenn wir ausrufen: »Eine wahre Idyllenscene!« oder: »Sie führen ein Idyllenleben« u. s. w. Alle wissen wir auch den Ursprung dieser Dichtungsart. Wie? und wir wären noch über die Bestimmung ihres Begriffs uneinig? wir zweifelten noch, wohin uns dieser Begriff führe?

Lange vorher, ehe Hirten in Arkadien oder Sicilien sangen, gab es in Morgenland Hirtengedichte. Das Leben der Zeltbewohner führte dahin; die Bilder ihrer Sprache, selbst ihre Namen waren aus dieser Welt genommen; das Glück, die Seligkeit, die sie suchten, konnten sich nur in dieser Welt realisiren. Bei Völkern solcher Art war das Idyll so wie die Natursprache, so auch das einfache Ideal ihrer Dichtkunst.

Auch wenn sie aus dieser einfachen Lebensart in eine künstlichere übergingen; Sprache und Denkart hatten sich geformt; gern ging man in die Sitten und Sagen, ins Andenken älterer Zeiten zurück, da man in einem so glücklichen Zustande gelebt hatte. Nur die Bilder veredelten sich; es ward ein Idyll höherer Art, ein Traum des Andenkens alter glücklicher Zeiten. Auch die königliche Braut in Schmuck und Pracht mußte als eine Schäferin, ihr Gemahl als Schäfer, der König ein Hirt der Völker, Gott selbst als ein Hirt seines Volkes erscheinen, um ein Zeitalter der Ruhe und Freude, ein Idyll der Glückseligkeit darzustellen oder zu schildern. So unauslöschlich sind in uns die Züge der Natur, die Eindrücke der Jugend!

Denn in der Kindheit, ist nicht die Idyllenwelt unser süßester Eindruck? Wenn der Lenz erwacht, erwachen wir und fühlen in ihm den Lenz unsers Lebens; mit jeder Blume sprießen wir auf, wir blühen in jeder Blüthe. Uns klappert der wiederkommende Storch, uns singt die Nachtigall und die Lerche. An der Munterkeit und dem neuen Frühlingsleben jedes Geschöpfs nehmen Kinder brüderlich-schwesterlichen Antheil. Idyllen sind die Frühlings- und Kinderpoesie der Welt, das Ideal menschlicher Phantasie in ihrer Jugendunschuld.

Aber auch jede Scene der Natur in allen Jahrszeiten hat für gesunde Menschen ihr Angenehmes, ihr Schönes; Sommer und Herbst, selbst der rauhe Winter. Thätigkeit ist die Seele der Natur, mithin auch Mutter alles Genusses, jeder Gesundheit. Der Sturm ist angenehm wie die heitre Stille, und wenn wir ihm entkommen sind, im Andenken sogar erfreulicher als jene. Das Ungewitter ist schrecklich, aber doch prächtig. Jede überwundene Gefahr macht uns die Natur anziehender, uns in uns selbst größer.

Man könnte Idyllen dieser Art die männlichen, jene sanfteren die weiblichen nennen; Kinder lieben sie in Versuchen, Männer in Thaten, im Andenken Greise. In der Natur verschlingen beide sich zu einem Kranz; im Ringe der Jahrszeiten ist eine nicht ohne die andre. Wehe Dem, der blos das sanfte, weiche Idyll des Lebens liebt! Dem stärkeren, rauheren entgeht er doch nicht.


Bei den Griechen entstand das Idyll nicht anders als bei andern Völkern; nur formte es sich nach ihrem Klima und Charakter, nach ihrer Lebensweise und Sprache. Möge es Arkadien oder Sicilien gewesen sein, wo zuerst ihre Hirten sangen, muntre Hirten an fröhlichen Tagen singen allenthalben. Sie suchten Gesellschaft, sie trieben zusammen, sie wetteiferten in Liedern, sie zankten, wählten einen Schiedsrichter, verehrten einander Geschenke – Alles der Natur des dortigen Klima, den Sitten damaliger Zeit gemäß, Ausbrüche der Empfindungen, Anfänge der Dichtkunst. Denn was sangen diese arkadischen Hirten? Ihr Glück und Unglück, das Angenehme und Unangenehme ihrer täglichen Lebensweise, sogar ihre Träume; wo denn Alles zuletzt auf ein Bild der Glückseligkeit hinausging.

Natürlich, daß in diesem engen Cyklus die Liebe eine Hauptrolle spielte; nicht aber war sie der Idyllen Eins und Alles. Auch das Andenken ihrer Vorfahren, ihres Daphnis ward von den Hirten gerühmt; ihre Feinde wurden geschmäht, der Verlust ihrer Freunde ward betrauert. Was die enge oder weitere Spanne des Hirtenlebens umfaßt, war der Inhalt ihrer Lieder, mit Hinsicht auf Glückseligkeit und Freude.

Und ihr Zweck? Bei müssigen Hirten mag der Gesang Zeitkürzung gewesen sein; zugleich war er unleugbar Cultur ihrer Seele. Sich selbst und Andern geben sie von den Vorfällen ihres Lebens Rechenschaft; sie entwickeln ihr Gemüth; in fremden oder eignen Gesängen bildet sich ihr Ton, ihre Sprache. Und da Alles, was wir thun und treiben, näher oder ferner immer doch nur unsre Glückseligkeit zum Zweck hat, wie sollten es nicht Gesänge haben, die unsre innere und äußere Welt eben in dieser Rücksicht mit Klage, Wunsch, Verlangen und Freude schildern?


Die Gesänge indeß, die wir von den Griechen unter dem Namen bukolischer Gedichte und Idyllen haben, sind nichts weniger als die rohen Gesänge jener Schäfer; Bion's, Moschus', Theokrit's Gedichte sind Kunstwerke. Der Letzte nannte sie sogar also; denn Idyll (εἰδύλλιον) heißt ein kleines Bild, ein Kunstwerk. Wahrscheinlich war es Bescheidenheit, daß der gelehrte Alexandriner, er, in Wahl der Gegenstände sowol als im Versbau ein wahrer Künstler, diesen Namen wählte. Er faßt unter ihn die verschiedensten, manche der Hirtenwelt sehr entlegene Gegenstände, den Raub der Europa z. B., das Lob Königes Ptolemäus, die Hochzeit des Menelaus und der Helena, eine Klage über die schlechte Aufnahme der Musen, das Fest des Adonis. Jenen engeren Begriff ursprünglicher Hirtenpoesie verband Theokrit also nicht mit seinem Idyllennamen.

Virgil mit dem Namen seiner Eklogen, d. i. auserwählter Stücke, auch nicht; Dieser begriff im Sinne der Römer ungefähr das, was Theokrit mit seinem Namen Idyll anzeigen wollte, nämlich ausgesuchte, wohlausgearbeitete kleine Gedichte.

Bei dieser Unbestimmtheit des Namens war es Natur der Sache, daß die Folgezeit nach dem Hauptbegriff der Gattung die Benennung festsetzte. Nothwendig also erhöhte man den Begriff; aus der Hirten- ward eine Schäferwelt, aus dem wirklichen ein geistiges Arkadien, ein Paradies unsrer Hoffnungen und Wünsche, ein Paradies also der Unschuld und Liebe, oft auch in ihren Kämpfen, in ihren Schmerzen. Die Stunden unsrer Seele, da wir uns dem zartesten Glück und Unglück am Nächsten fühlen, wurden dazu Eklogen, erlesene Situationen und Momente.

In diese Schäferwelt setzen uns Tasso, Guarini, und wer sonst dem Arkadien, das in unsern Herzen wohnt, nachstrebte. Es ist ein Land, das nie war, schwerlich auch je sein wird, in welchem aber in den schönsten Augenblicken des Lebens unsre dichterische Einbildung oder Empfindung lebte. Glückwünschungen insonderheit ward fortan das Idyll angemessen gefunden; es spricht so naiv, so zart und einfach! und doch enthüllt es Alles, was unser Herz wünscht.


In Frankreich hatte die Hirtenpoesie eine ähnliche Laufbahn, vom Gemeinen hinauf zum Feineren, zum Verfeinten. Ein BischofSt. Gelais. – H. hatte den Theokrit zuerst ins Französische übersetzt; ein BischofGodeau. – H. gab späterhin der ganzen Gattung einen höheren Schwung. Vor und neben ihm bearbeiteten sie Andre, Jeder auf seine Weise. Die Deshoulières wünschte sich, ein Schäfchen zu sein; Racan und Segrais versificirten naive Sentenzen. Fontenelle endlich, ein Mann von Geist und Witz, ließ das Idyll zu sich kommen, da er nicht zu ihm kommen konnte; man sagt, »er machte seine Schäfer zu galanten Hofleuten«.

Aber warum hätte er sie dazu nicht machen dürfen? Wenn Hofleute seine Eklogen läsen, sollten sie, meinte der Dichter, durch sie Schäfer werden, d. i. in Empfindungen sollten sie der Natur näher treten, weil auf diesem Wege allein Vergnügen und Seligkeit wohnten. Dies war Fontenelle's rühmliche Absicht, die freilich aber Geist und Witz allein nicht erreichen konnten. Beide Welten, der Hofleute und Schäfer, liegen zu fern von einander.

In England nahm das Idyll einen ähnlichen Gang. Hinter Philips' roheren Schäfern traten Pope's künstlichere auf. Seine vier Schäfergedichte betreffen die vier Jahrszeiten; vier gewählte Situationen, schön versificirt, denen die Ekloge »Messias«, ein Nachbild des »Pollio«,Der vierten Ekloge Virgil's. – D. folgt. Einen Fortschritt hat die Dichtkunst durch sie eben nicht gewonnen, ob sie gleich, wie Alles von Pope, ihrer Nation sehr werth sind. Wie mehrere, reichere, tiefere Idyllenscenen gab Shakespeare so oft! hinter ihm Milton, vor ihm Spenser!

Von deutschen Idyllendichtern reden wir jetzt noch nicht; gnug, bei allen bemerkten Verschiedenheiten in Zeiten und Völkern ist der Hauptbegriff dieser Dichtung unverkennbar; sie ist »Darstellung oder Erzählung einer menschlichen Lebensweise ihrem Stande der Natur gemäß, mit Erhebung derselben zu einem Ideal von Glück und Unglück«.


Wie? jeder menschlichen Lebensweise? Nicht anders, wenn diese eine menschliche Lebensweise ist. Freilich steht eine der Natur näher als die andre; schlimm aber, wenn irgend eine der Natur ganz entlaufen wäre. Der Krieg z. B. ist das häßlichste Ungeheuer; im Kriege indeß, selbst auf dem Schlachtfelde giebt es zwischen Menschen und Menschen herzdurchschneidende Situationen der Klage und des Erbarmens, Idyllenscenen. So sonderbar der Name klingt, Lager-, Kriegs-, Schlachtidyllen, Dank dem Menschengefühl! so wahr ist er.

Nichts scheint der Natur entfernter als Cabinet und Gerichtsstätte, Kanzlei und Hof, der Kramladen endlich und die Frohnfeste am Fernsten. Uebel wäre es indessen, wenn nicht auch in diesen Wüsten hie und da ein einzelner grünender Baum eine erfrischende Quelle überschattete und einem ermatteten Wandrer Labung gäbe. Unglücklich, wenn von Geschäften dieser Art die Menschlichkeit ganz verbannt wäre! Ach, wo ihr der Mund am Festesten verschlossen wird, spricht sie oft am Lautsten; mancher Gerichtsdiener oder Kerkermeister hat ein offener Ohr für sie als der taube Richter! Selbst in der Wohnung des Jammers, den Häusern irrer Menschen spielte die Ekloge. Sanft Verirrte phantasiren gewöhnlich Idyllen-, Rasende heroische Scenen.

Wie nun? und aus der sogenannt bürgerlichen Gesellschaft, wäre aus ihr das Glück der Idyllenwelt verbannt? Ist denn nicht sie auch in allen Ordnungen und Ständen auf Gefühle der Menschheit gebaut? Vater, Mutter, Kind, Freund, Geliebte, zu welchem Stande sie auch gehören, sind sie anders als in der Idyllenwelt glücklich? Darum spricht man zu Kindern, zu Geliebten auch unwissend in dieser Sprache; darum wünscht man zu Ehen, zu Geschäften in dieser Sprache Glück. Nicht um ein Utopien zu wünschen, wo kein Nordwind wehe, kein Unfall sich ereigne, sondern daß auch aus dem Unfalle selbst ein neues Glück und durch das eingetropfte Bittere des Lebens sein Angenehmes um so süßer werde. So wollte es die Natur; dem Zweck strebt jeder Vernünftige, Wohlgesinnte und Wohlgesittete nach. Er sucht sich seinen Stand, sein Geschäft, sein Haus, seine Kammer, selbst jede vorübergehende Gesellschaft zum Ideal, d. i. sich durch sie so glücklich zu machen, als er kann, und den Genossen sein Glück mitzutheilen. Eben den Narren erkennt man vorzüglich am Mangel dieser Idee, des Ideals einer Lebensweise für sich und des idealischen Mitgefühls für Andre. Den rohen Selbstmenschen, den Tyrannen Andrer flieht alles Idyllenartige, da doch selbst der Cyklopenwelt, dem Reiche des Pluto selbst das Idyll nicht ganz fremd ist.

Schon Theokrit schrieb ein Fischeridyll; Jagd-, Gärtner-, Schiffsidyllen sind ihm gefolgt; der Kameeltreiber Hassan selbst hat ein bekanntes Idyll erhalten.Von Collins. – H. Was hätten nun diese Lebensarten vor andern voraus? Daß sie, sagt man, näher der Natur liegen. Wohl! so rücke man denn auch in seinem Stande der Natur näher; warum wollte man unnatürlich oder gar der Natur zuwider leben? Oder macht das ihr Idyllenartiges, daß sie gewöhnlich kleine Gesellschaften bilden? Beruht nicht allenthalben auf kleinern Gesellschaften das Glück des Lebens? und knüpfen Freundschaft, Liebe, Genossenschaft zum Werk, zur Haushaltung, gar zur Gefahr, zu jedem Unternehmen dies Band einer kleinen Gesellschaft nicht, zu welchem Stande man auch gehöre? Müßte ich Fischer oder Jäger sein, um die Natur zu genießen und meine Hütte zu ordnen? Also in allen Situationen, in allen Geschäften des Lebens, wenn sie nicht wider die Natur sind, lebe man ihr gemäß und verschönere sein Leben. Allenthalben blühe Arkadien, oder es blüht nirgend. Aus unserm Herzen sprossend muß unser Verstand sich durch Kunst dies Lebensidyllion schaffen, durch Auswahl diese Lebensekloge vollenden.

Auf wie einen reinen Platz tritt hiemit das Idyll! Leere Beschreibungen der Natur, Schäfertändeleien, die nirgend existiren, verschwinden in ihm wie abgekommene Galanterien; der ganze Kram einer uns fremden Bilderwelt, von dem unsre Phantasie so wenig als unsre Empfindung weiß, verschwindet. Dagegen tritt unsre Welt, nach Jedes Weise und Sitte, in den schönen Glanz einer neuen Schöpfung; Geist und Herz, Liebe, Großmuth, Fleiß, Tapferkeit, Sanftmuth schaffen sich ein Arkadien in ihrer Welt, in ihrem Stande, es ordnend, genießend, gebrauchend.

Groß und neu wird hiemit das Gebiet des Idylls; jeder Stand giebt ihm neue Situationen, neue Farben, einen neuen Ausdruck. Von der Aesopischen Fabel an (wie manche Erzählung unter ihnen ist rein idyllenartig!) durch Erzählungen, Lieder, Märchen, Romane, Legenden u. s. w. bis zum Drama, der Oper, dem Epos hinan erstreckt sich dies Gebiet; in allen diesen Gattungen und Arten haben wir die schönsten Idyllenscenen. Je näher unsrer Lebensweise, desto näher treten sie an unser Herz! »Hier ist Arkadien, vor Dir, um Dich, es sei nur in Dir!« Unvermerkt werden wir durch diese wahre Tendenz des Idylls lernen, uns des Ueberflüssigen wie des Gemeinen entschlagen, jede nutzlose Mühe des Lebens, zumal den beschwerlichen Pedantismus, verbannen, in unserm Kreise ein Glück sehen, das wir sonst nicht kannten. Ja, lasset uns den Idyllentraum verfolgen: im Anblick dieser reinen Gestalten lernen wir Kletten abschütteln, die uns sonst widrig anhingen, und die kleinen Dämonen verjagen, die mehr als große Unfälle gewöhnlich uns beunruhigen, necken und stören. Ein neuer Pan erwache! von jeder Seite wird ihm die Echo antworten: »Arkadien! Auch hier ist Arkadien, auch hier!«Hier folgten als Schluß des ersten Stückes des zweiten Bandes der Adrastea die drei Legenden: »Die wiedergefundne Tochter«, »Freundschaft nach dem Tode« und »Die wiedergefundnen Söhne« (Herder's Werke, II. S. 83–90), und zum Anfang des zweiten Stückes der erste Gesang des »Pygmalion. Die wiederbelebte Kunst« (daselbst, I. S. 229–233). – D.


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