Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5. Fabel.

Eine Lehre will Anwendung, mithin der Vortrag einer Lehre Darstellung, Einkleidung. Man muß wissen, wie sie sich beurkunde und wo möglich durch sich selbst bewähre. Dies ist der Grund der sogenannten Aesopischen Fabel; zum bloßen Zeitvertreib ward sie nicht erfunden.

Menschen wollen nicht immer gern von Andern belehrt, geschweige zurechtgewiesen sein; sie wollen sich durch Vorhaltung der Sache selbst belehren. Dies thut die Fabel. In ihr wird eine Handlung dargestellt, die durch sich redet; sage Jeder sodann die Lehre sich laut oder still in der Seele!

Und wer könnte uns zu diesem Zweck gewissere Lehren geben als die Natur? Ihr Gang ist fest, ihre Gesetze sind beständig. Die Cypresse und Ceder, der Palmbaum und Ysop, was sie vor Jahrtausenden waren, sind sie noch. Auch die Wirkung der Elemente auf sie hat sich nicht verändert. Der Wolf, der Fuchs, der Tiger sind gleichfalls, was sie waren, und werden es bleiben. Die Haushaltung der Natur geht fort nach ewigen Gesetzen, in unveränderlichen Charakteren.

Und an ihr hat sich der menschliche Verstand, ja die Vernunft selbst zur Regel gebildet. Ginge es in der Schöpfung wie in einem Tollhause durch einander, daß Alles heut so, morgen anders wäre, daß kein Band der Ursachen und Wirkungen, keine Consequenz der Begebenheiten stattfände, so fände auch keine menschliche Vernunft statt; an sie wäre nicht zu gedenken. Daß uns aber allenthalben, unter allen Veränderungen Bestandheit, Ordnung, Folge der Dinge vor- und einleuchtet, daß die Veränderungen selbst erkennbaren Gesetzen und Regeln unterworfen sind, und der Mensch, das hilfsbedürftige Geschöpf, von allen Seiten getrieben ward, diese Gesetze auszuspähen, dieser Ordnung, wenn er nicht unterliegen wollte, zu folgen: dieser schöne Naturzwang hat den menschlichen Verstand gebildet.

Die Aesopische Fabel stellt ihn dar.Vgl. Herder's Werke, VI. S. 179. – D. Sie beruht ganz auf der ewigen Bestandheit und Consequenz der Natur: einesteils, wie Jedes in seinem Charakter handle, andern theils wie aus Diesem Das folge. Die schönsten und eigentlichen Fabeln sind also herausgerissene Blätter aus dem Buch der Schöpfung; ihre Charaktere sind lebendig fortwährende, ewige Typen, die vor uns stehen und uns lehren. Je gemäßer der Naturordnung ein Baum, ein Thier in der Fabel erscheint, so daß, wenn ihm die Sprache gegeben würde, es in solcher Zusammenstellung nicht anders sprechen und handeln könnte, je naturmäßiger die Zusammenstellung der Dinge selbst, auch nach kleinen Umständen, in der Fabel ist, um so mehr wird sie nicht etwa nur anmuthig, sondern überzeugend. Mit süßer Naturgewalt zwingt sie uns die Lehre, die sie in That zeigt, anzuerkennen, indem kein Geschöpf sich dieser großen Kette entziehen kann und menschliche Vernunft eben darin besteht, Ordnung der Dinge anzuerkennen und sich ihrer Consequenz zu fügen.

So betrachteten alle Naturvölker die Fabel. Sie war ihnen ein Lehrbuch der Natur, dem nur ein Schwacher oder Irrer zu widersprechen wagte. Deshalb richteten auch die bei Gelegenheit gesagten Fabeln bei der Menge so viel aus. Die Fabel Jotham's von den Bäumen, die einen König begehrten,Vgl. Herder's Werke, I. S. 339 f. – D. die Fabel des Menenius Agrippa vom Zwist zwischen Gliedern des menschlichen KörpersBei Livius. II. 32. – D. brachten verworrene politische Situationen unter die Regel einer hellen Naturansicht; die Menge ward überzeugt. Deshalb sprachen nicht etwa nur Morgenländer, sondern, wo es die Gelegenheit zuließ, auch Griechen, Römer, ja alle Nationen der Welt in diesem Fabelton, entweder ausdrücklich oder mit kurzer Anspielung auf diese und jene gleichsam ausgemachte, unwiderstreitbare Fabel. Die Sokratiker, Horaz in seinen Briefen und Satiren, Redner ans Volk, Staatsmänner und Moralisten liebten sie; und je vertrauter ein Volk mit der Natur lebte, je heller es ihre Ordnung anerkannte, je treuer es sich derselben fügte, desto mehr hing es an der Darstellungsart treffender Naturfabeln. Ihnen traute man es zu, ihnen legte man das Geschäft auf, den Verstand und die Sitten junger Menschen der großen Naturordnung gemäß zu bilden.

So dachten Sineser, Indier, Ebräer, Perser, Araber, Griechen und Römer! Von allen diesen Nationen ward die Fabel als ein Werkzeug zu Bildung des Verstandes und der Sitten betrachtet; denn was ist Verstand (intellectus, understanding). als Anerkennung der bestehenden Naturordnung und Naturfolge? was sind Sitten, als ein Benehmen, das sich dieser Ordnung fügt? Die Fabel,

Dum varia proponit oculisque subjicit
Exempla, monitis arguit salubribus
Cujusque vitam, quas et ipsa condidit
Natura, sanctas usque leges suadet.
Woher die im ersten und vierten Verse wol durch Versehen fehlerhafte Stelle genommen, ist dem Herausgeber nicht bekannt. – D.

Oder wie Phädrus sagt:Im Vorwort zum zweiten Buche. – D.

Exemplis continetur Aesopi genus
Nec aliud quidquam per fabellas quaeritur,
Quam corrigatur error ut mortalium,
Acuatque sese diligens industria
.

Die treffliche indische FabelsammlungThe Heetopades of Veeschno [Vischnu]-Sarma, by Wilkins. Bath 1787. Die treffliche Sammlung wird bald übersetzt erscheinen. – H. hat einen ganzen Curs der Lebensweisheit für einen Prinzen unter vier Abtheilungen:

  1. Die Bewerbung um einen Freund,
  2. Die Trennung von einem Günstlinge,
  3. Vom Disputiren,
  4. Vom Friedemachen,

gebracht und sie gleichsam zu einem bunten Fabelteppich gewebt. Saadi, der Perser, spricht

  1. Von der Könige Sitten,
  2. Von der Derwische Sitten,
  3. Von der Vortrefflichkeit der Mäßigung,
  4. Von den Vortheilen des Stillschweigens,
  5. Von Liebe und Jugend,
  6. Von Schwachheit und Alter,
  7. Vom Unterricht in den Wissenschaften,
  8. Vom guten Umgange,

über welches Alles er Fabeln und Geschichten in Prose, untermischt mit Versen, beibringt.Sadi Rosarium politicum cum notis Georgii Gentii, Amstelodami 1656 Fol. Das Persianische Rosenthal von Scheich Sadi. übersetzt von Adam Olearius. Hamburg 1696. Fol. – H. [Vgl. Herder's Werke, VI. S. 89 f., 153 ff. – D.]


Ueppige Zeiten entwürdigen Alles; so ward auch nach und nach aus der großen Naturlehrerin und Menschenerzieherin, der Fabel, eine galante Schwätzerin oder ein Kindermärchen. Auszeichnend gab hiezu, wiewol sehr unschuldigerweise, Lafontaine Gelegenheit; er selbst ein naives Kind der Natur, das in mehreren Dingen die Welt ohne Wissen und Willen zu ärgern das Schicksal hatte. Dem Aesop und Andern erzählte er Fabeln auf seine Weise nach, und da diese Weise lustig, aber auch so naiv hinlässig war, als es seine Art mit sich brachte, so glaubte fortan jeder Fabulist, die Fabel nach Lafontaines Manier erzählen zu müssen. Gleichviel, was er erzähle, wenn das Märchen nur amüsire. So ward die Fabel ihrem Zwecke sowol als ihrer eigenthümlichen Natur und Welt allmählich entrückt; aus der überzeugenden Ansicht der großen Naturordnung trat sie in das Gebiet seiner Speculationen, in Visitenzimmer voll Pro und Contra's ein; die Namen der Thiere und Bäume wurden ihr hie und da nur angelogen. Denn wie in manchen neueren Fabeln spräche das Thier nicht, wenn es spräche! um solche Dinge würde sich die Dryas des Baums nicht bekümmern. Wenn man die feinen und überfeinen Fabeln Lamotte's, Richer's, Lejay's, Lenoble's u. A. liest, weiß man oft nicht, woran man ist. Alles in ihnen ist so zierlich gesagt, und doch thut nichts seine oder nur eine der Fabel fremde Wirkung. Offenbar, weil die Fabel, ihrem Naturboden entrückt, in dieser neuen, sehr conventionellen Zusammenstellung nur eine conventionelle Sprache reden kann, zu welcher weder Bäume noch Pflanzen, weder Götter noch Helden, am Wenigsten Allegorien, Schatten, Träume bemüht werden durften. Wir konnten sie hören aus jedem Munde. Ihrer Naturwelt entnommen, ist die Fabel eine feingeschnitzte, todte Papierblume worden; in der lebendigen Naturwelt war sie ein wirkliches Gewächs voll Kraft und Schönheit.

Daher nun der ungeheure Unterschied zwischen der neuen und alten Fabel, im Vortrage, im Inhalt und in der Wirkung. Dem Vortrage nach will die neue Fabel selten mehr als Zeit kürzen; und wie bald man dieses Fabel-Amüsements satt und müde werde, darüber mögen in allen Journalen so viele französische, englische, deutsche Fabeln zeugen. Großentheils überschlägt man sie; »Da spricht wieder«, denkt man, »die Perrücke mit der Fontange; mögen sie sprechen!« Die Zusammenstellung der Fabelwesen, je mehr sie in die künstliche Welt tritt, kann für das Gesellschaftszimmer auf einen Augenblick amüsant gewesen sein; außer diesem Kreise hat sie bald nicht mehr auf sich als ein freundliches Gespräch zwischen dem Spiegel und Fächer, der Nadel und Schere. Die Wirkung endlich, da eine Darstellung des höchst Wahren (Fabula veri) blos amüsiren soll, ist traurig. Wie muß es mit Menschen stehen, denen die nothdringendsten Gesetze und Verhältnisse der Natur ein Spielwerk, ein Zeitvertreib zum Gähnen sind, bei dem man etwa nur die spaßhaften Eingänge, die lüsternen Digressionen oder gar nur die Versification bewundert!

Leugnen können wir es nicht, daß unsre neuere deutsche Fabel an diesem Becher der Circe Theil genommen habe. Unsre trefflichen alten Fabulisten, die Minnesinger, der Renner, Boner, Reineke, Burkard Waldis u. s. w. in ihrer einfachen Manier und Versart dünkten der neuen Zeit zu einfach; man folgte also mehr und minder des Lafontaine und seiner sinnreichen Nachfolger amüsanten Erzählungs- und Versart. In Einleitungen und Digressionen, denen meistens der Reim ihr curriculum vorzeichnete, schlenderte man spaßhaft-langweilig einher, und auch im Inhalt der Fabel erlaubte man sich, sprechen zu lassen, was auf dem Papier irgend sprechen konnte. So ward die wahre, urkundliche Naturpoesie das abgegriffenste Ding, so amüsant, daß es fast Niemand mehr amüsirt.

»Ob wir nicht noch zum Fabelgebiet der Natur zurückkehren könnten?« Warum nicht? In den Händen sowol als im Reich der Natur leben wir, ihr unentwindbar. Wenn nicht Ceder und Cypresse, so wachsen Birke und Fichte vor unsern Augen; wenn nicht Tiger, so kennen wir Wölfe, Bären und Füchse. Ja, entgingen auch sie, die Naturordnung besteht und wird bestehn, sie, der ewige Grund der Fabel. Aus gleicher Tiefe der Nothwendigkeit also, des Natur- und Vernunftbestandes, der ewigen Zusammenordnung der Dinge lasset uns schöpfen, wie die Alten, und die verachtete Schwätzerin wird wieder, was sie einzig sein kann und sein will, eine Lehrerin der Menschheit, zumal der Jugend und des Volks werden, außer welchem Kreise ihr Beruf dahin ist.

Wer von uns denkt nicht daran, wie in seinem Leben ihm manchmal zu seinem Schaden im Moment des Handelns das Andenken nur einer Fabel fehlte? Wenn der Fuchs den Bock in den tiefen Brunnen lud und dann auf seinen Hörnern hinaussprang; wenn den fliehenden Hirsch eben sein gepriesenes Gehörn zwischen den Sträuchen festhielt und seine verachteten leichten Füße ihm nicht mehr halfen; wenn der Schwarz- und Weißfärber zusammenwohnend sich so wenig frommten; wenn der Hund an Besitz verlor, was er im Schatten haschte; wenn das kleine Thier mit dem gewaltigen Löwen in Gesellschaft jagte u. s. w.: wer erinnerte sich nicht oft nach Ausgange der Begebenheit, daß ihm unglücklich die Fabel entgangen war, als er sie spielte? Und bei großen Begebenheiten der Welt, auch unsrer neuen Geschichte Europa's – mich dünkt, die Fabel Derer, die einen Gewinn theilen, ehe sie ihn erjagt hatten, die Fabel der Frösche, die, mit dem Klotz unzufrieden, sich einen neuen König erbaten, und wie viel andre stellt uns mit jedem neu umgeworfenen Blatt der Weltbegebenheiten dies große lebendige Fabelbuch selbst dar!


Beilage.
Das Conversatorium und die Erscheinung.

Auf einem großen Jahrmarkt gerieth ich vor eine prächtige Bude, geziert mit der Aufschrift: Conversatorium. Diese lockte mich hinein, und ich sah, ich hörte – Ihr Götter und Göttinnen des Olymp's, helft mir sagen, was ich hörte und sah!

Ein großer Berg war aufgerichtet, neben ihm viele Berge. Die ganze lebendige Schöpfung erschien auf ihnen, alle Geschöpfe witzig sprechend, aus Holz, Thon und Wachs, fein decorirt, das Ganze ausgeziert wie ein italienisches Presepe.Krippchen zu Weihnachten. Vgl. Goethe's Brief aus Neapel vom 27. Mai 1787. – D. Welche Stimmen umgaben mich! wie scherzhafte Gestalten! Alles conversirte.

Mein Ohr gellte. »Ist das die neuere Fabel?« seufzte ich und schlich traurig in meinen stillen Hain.

Da nahm mich auf der Vögel Chor
    Mit wundersüßem Schall;
Die Lerche schwirrte hell empor,
    Es sang die Nachtigall.

Die Amsel schlug. Es säuselte
    Der Westwind um mich her;
Es rauscht'. Die Quelle murmelte –
    Und murmelte nicht mehr.

Denn siehe, die große Mutter stand vor mir da, gekrönt mit der Sternenkron', bekleidet mit dem weiten Gewande, auf dem in lebendigen Bildern alle Naturwesen sich regten.Wie bei der Artemis von Ephesus. – D. Wie mit dem Gewande die Lüfte spielten, enthüllten sich neue Wesen; endlich entschleierte sie ihr Angesicht und sprach freundlich:

»Mensch, Du bist der Ausleger der Natur, ihr Haushalter und Priester. Alles spricht zu Dir, Geist im Körper, Verstand in ewigen Charakteren. Lerne sie verstehen, diese Denkbilder, und ordnen und vernünftig gebrauchen! Vor Allem merke auf jede Folge dessen, was Du siehest; im Bande der Wesen ist meine Kraft, in Folge der Dinge erblickst Du meine und Deine Herrschaft.«

Sie schwang ihren gebietenden Stab und war entschwunden im Bilde. Aber

Der ganze Hain lobjauchzete
   In einem hellen Chor,
Und Blatt und Wipfel säuselte,
   Ein Weihrauch stieg empor.

Die Echo rief: »Natur! Natur!
   Dein frohes Eigenthum
Bin ich!« Mein Herz sprach: »O Natur!
   Und ich Dein Heiligthum.«


Fortsetzung.
Über die Fabel.

Vielleicht scheint's kleinfügig, daß ich über das Wesen der Fabel zu reden fortfahre; nur das Wort aber macht irre. Ist Fabel die Darstellung einer in Handlung gesetzten Lehre, so ist sie der Grund aller Dichtkunst, mithin der Rede wohl werth. Eben die einfachste Dichtkunst ist die sogenannt Aesopische Fabel.

Lessing, dem wir die beste Theorie der Fabel zu danken haben, dem wir uns also auch in Erörterung derselben dankbar anschließen, erklärt sie so: »Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit ertheilen und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel.«Lessing's »Fabeln«, S. 171 [Werke, Th. X. S. 55]. – H. Fühlt man nicht, daß zu Bestimmung der Aesopischen Fabel hier etwas fehle? Denn wenn wir auch den Ausdruck »allgemeiner moralischer Satz« übersähen, auch nicht fragten: »Wie ist's möglich, daß ich einen allgemeinen Satz in einem besondern zur Geschichte gedichteten Fall anschauend erkenne?« da dies immer doch nur ein besondrer, dazu erdichteter Fall bleibt, in welchem die Allgemeinheit einer moralischen Lehre nie anschaubar werden kann: wäre diese ganze Operation der »Zurückführung einer Lehre auf einen besondern Fall, dem ich die Wirklichkeit ertheile und eine Geschichte daraus dichte,« nicht ohne Grund und Kraft, wenn in der Natur nicht eine Ordnung, d. i. eine Wirklichkeit da wäre, die in jedem besondern Fall nach allgemeinen Gesetzen in einer feststehenden Folge als ein Gegebnes fortexistirt? Wäre sie nicht da, ich könnte sie nicht dichten, noch weniger würde durch meine Dichtung, als durch eine willkürliche Zusammensetzung, irgend ein allgemeiner Satz erkennbar. Eben nur jene Naturordnung und Naturfolge nach allgemeinen, dauernden Gesetzen, die der Fabel zum Grunde liegt, macht den allgemeinen Satz in ihr erkennbar; und gelang es dem Dichter nicht, seine Lehre auf sie dergestalt zurückzuführen, daß dies Allgemeine, das Unwiderstrebliche dieser Ordnung und Folge in seinem besondern gedichteten Falle sichtbar ward, ganz oder halb ist seine Arbeit verloren.


Lessing glaubt, daß »die allgemein bekannten und unveränderlichen Charaktere der Thiere die eigentliche Ursache seien, warum sie der Fabulist zu moralischen Wesen erhebt.« »Die wahre Ursache,« sagt er, »warum der Fabulist die Thiere oft zu seiner Absicht bequemer findet als die Menschen, sehe ich in die allgemein bekannte Bestandheit der CharaktereLessing's »Fabeln«, S. 181, 187 [Werke, Th. X. S. 60, 62]. – H. Soll in diesem zusammengesetzten Ausdruck die allgemeine Bekanntschaft mit den Thiercharakteren das Hauptmoment der Ursache sein, so litte der Satz eine Einschränkung. Manchen Thiercharakter, wie er jetzt zum Zweck des Dichters dient, kannte ich vielleicht nicht; aus der Fabel selbst werde ich ihn leicht kennen lernen. Der tiefere Grund liegt, ich kenne sie vorher oder nicht, in der Thiercharaktere unveränderlichen Bestandheit, als einer gegebnen Naturordnung. In dieser sind sie unveränderlich handelnde Wesen und können uns, mehr als der vielseitige, veränderliche Mensch, eine Ansicht der Naturordnung in ihrer Permanenz und Folge anschauend zeigen. Pflanzen und Bäume desgleichen, ja Alles, was zu sprechenden Naturtypen gehört. Daher die größere Wirkung der Fabel als der Parabel oder eines Beispiels aus dem Menschenleben. Dieser Mensch handelte so; ein andrer, ja er selbst zu andrer Zeit, kann und wird anders handeln: der Fuchs in der Fabel aber steht für alle Füchse, die Cypresse für alle Cypressen.


Auf die Frage: »wie weit der Fabulist die Natur der Thiere und andrer niedrigern Geschöpfe erhöhen und wie nahe er sie der menschlichen Natur bringen dürfe,« antwortet Lessing kurz: »So weit und so nahe er immer will, wenn sie nur in ihrem Charakter denken, reden und handeln. . . . Haben wir ihnen einmal Freiheit und Sprache zugestanden, so müssen wir ihnen zugleich alle Modificationen des Willens und alle Erkenntnisse zugestehen, die aus jenen Eigenschaften folgen können, auf welchen unser Vorzug vor ihnen einzig und allein beruht. – Ihr Betragen wird uns im Geringsten nicht befremden, wenn es auch noch so viel Witz, Scharfsinnigkeit und Vernunft voraussetzt.«Lessing's »Fabeln«, S. 208 f. [Werke, Th. X. S. 73]. – H. [Herder hat die Sätze in anderer Folge gegeben, als sie bei Lessing stehen. Die Worte »wenn sie  . . . handeln« sind wesentlich verkürzt. – D.] Das allgemeine Gefühl, dünkt mich, stehe dieser schrankenlosen Freiheit entgegen. Warum gefallen uns nicht alle Fabeln wie jene schlichten Aesopischen oder wie die noch einfachern der Morgenländer? Den Witz, den Scharfsinn, den der Dichter solchem und solchem Thier leiht, finden wir außer Stelle; wir hören den Dichter durch den Mund des Thiers sprechen und wundern uns, warum er hinter dieser Maske rede. Ja, wie wäre auch, »wenn der Charakter der Thiere in Reden wie in Handlungen strenge gehalten werden soll,« eine so schrankenlose Annäherung an die menschliche Natur, im Gebrauch ihrer feinsten Vorzüge des Witzes und Geistes denkbar? Der Thiercharakter, mithin die innere Überzeugungskraft dessen, was das Thier in seiner Natur, als ein Wesen seiner Ordnung sprechen soll und kann, ginge damit immer, ganz oder halb, verloren. So, sagen wir, spräche dies Thier nicht, wenn es spräche; der Witz und Scharfsinn liegt nicht in seiner Lebensweise; wo hat es diese Galanterie gelernt? Ein großer Theil der französischen Fabeln wird uns daher unschmackhaft.

Lessing selbst? Hätte Bodmer seine unartige ParodieLessingische unäsopische Fabeln u. s. w., Zürich 1760. – H. [Vgl. Lessing's Werke, Th. IX. S. 331 ff. – D. schreiben können, wenn der Dichter nicht hie und da den Gedanken- und Empfindungskreis seiner Fabelgeschöpfe zu sehr erweitert und bisweilen in das höchste Gebiet der Menschenvernunft gerückt hätte? Gebildeten Lesern sind diese Fabelepigramme sehr willkommen; Lessing hört man gern, durch wen er auch spreche; zu Aesop indeß verhalten sich seine Fabeln oft wie der Schmetterling zur Raupe. Aus ihr gezogen, fliegt der neue Einfall in glänzender Gestalt hervor; die alte Fabel indeß war ihm als erste Form und Nährerin unentbehrlich.


Seit Aphthonius hat man die Fabeln in vernünftige, sittliche und vermischte eingetheilt; auch Wolff und Lessing folgten dieser Classification, Jeder mit eigner Bestimmung seinerSo muß es statt »ihrer« heißen. Lessing handelt hierüber in der dritten seiner »Abhandlungen über die Fabel«. Vgl. Werke, Th. X. S. 67 ff. – D. Worte. Mich dünkt, die Adrastea der Natur, der die Fabel, wenn sie rechter Art ist, dienen muß und dient, beut uns eine Bestimmung dieser Classification dar, die schwerlich zu ändern sein möchte. Macht nämlich die Fabel eine Lehre als Naturgesetz in einem einzelnen Fall der großen Naturordnung anschaubar, so ist diese Lehre entweder:

1. Theoretisch.

»Ein Marder fraß den Auerhahn,
Den Marder würgt' ein Fuchs, den Fuchs des Wolfes Zahn.«
                                                                  Hagedorn.

Welcher Satz aus dieser Intuition gezogen werde, eine Sittenlehre wird es nie sein. Was will, was thut also die Fabel? Sie öffnet uns nur den Anblick der Welt,

»Wo oft die Größern sich vom Blut der Kleinern nähren«;

damit hat sie ihr Amt gethan, und hätte sie damit nicht viel gezeigt? Nun ziehe Jeder sich hieraus nach Herzenslust praktische Lehren.

Der größte, ja vielleicht der schönste Theil der Fabeln in Lokman, Aesop, Vischnu-Sarma, und wo nicht sonst? ist rein theoretisch. »So besteht die Welt, so folgt Eins aus dem Andern. Z. B. Dies wird, wenn man mit vollem Munde nach dem Bilde im Wasser schnappt, Jenes, wenn man als Schaf mit dem Wolfe streitet, Jenes, wenn man als Hase mit dem König-Löwen jagt. Merke Dir's und ziehe Dir daraus vielfältige Lehren!« Bei jeder neuen Wendung der Begebenheit kommt eine andre zum Vorschein, die Du Dir selbst sagen magst; gnug, das Factum der Natur soll als Gesetz und Weltordnung Deinen Verstand üben, daß, wenn Du unter Menschen den Wolf, den Bock, den König-Löwen und Dich mit ihm in gleicher Situation antriffst, Du wissest, worauf es ankommt.

Diese Fabeln mögen logische oder lieber intellectuelle, d. i. den Verstand bildende Fabeln heißen; sie bilden ihn nach den großen Gesetzen der Natur in ihrer permanenten Ordnung an ewig feststehenden Charakteren.

Andre Fabeln mögen

2. sittlich heißen; aber wie kann man von Thieren, von Bäumen Sitten lernen? und von welchen Thieren? Vom Wolf? vom Fuchs? vom Marder? Nicht also ist's gemeint.

So contrastirend die Gattungen der Geschöpfe in der Natur über und gegen einander gesetzt sind, so daß Alles auf einem ewigen Kampfe und Widerspruch zu beruhen scheint, so hangt Alles, was Leben hat (und was hätte nicht Leben?), dennoch an einer Kette, der Liebe.

»Der Liebe?« Nicht anders, und zwar einer sich selbst erhaltenden, dem Ganzen sich aufopfernden Liebe. Jedes Lebende nämlich (da auf eine harte Weise die Gattungen der Lebendigen einander entgegenstehen) kämpft für seine Erhaltung; wozu aber strebt selbst dieser Kampf? Um in Seinesgleichen fortzuleben, also zum Ganzen. Unwissend und von der Natur gezwungen opfert jedes Einzelne sich diesem Zweck auf, zu welchem in und außer seiner Substanz alle Elemente wirken. Abblüht die Blume, sobald sie sich selbst in Samen dargestellt hat; nur zu Hervorbringung dieser keimte, wuchs, blühte sie. So die Geschlechter der Thiere in ihren verschiedenen mühsamen Haushaltungen, Kämpfen und Geschäften. Jugendliche, eheliche Liebe ist allen ihr Ziel, der Zweck ihrer Mühe, die fröhlichste Tendenz ihres Daseins. Hierauf geht ihr Fleiß, ihre Kunst, ihre väterliche und mütterliche Sorge.

Die Fabel, die diese große Haushaltung des Strebens und der Liebe in einzelnen ausgesuchten Fällen und Momenten darstellt, reich an tausend Lehren, ist sie sittlich und kann sogar rührend werden. Der alte Spruch: »Gehe hin zur Ameise, Du Träger!« ist in der Fabel von ihr und der CicadaVgl. Herder's Werke, II. S. 75 f. – D. ans Licht gestellt; so manche andre Fabel von der Erziehung der Jungen, vom geselligen Beistande, dem häuslichen Leben der verschiedenen Geschlechter unter einander, von ihrer Treue, ihrer Wachsamkeit, ihrer Freundschaft und Großmuth sind, da diese Sitten aus dem ewigen Naturcharakter und Instinct der Geschlechter stammen, Fabeln des großen Natur-Ethos, ethische Fabeln, die auch uns unsre Pflichten als Gesetze der Glückseligkeit aller Lebendigen in ewigen Charakteren vorzeichnen. Eben auf diesem tiefen Grunde eines Natur-Sittengesetzes beruht ihre mächtige Wirkung. Nur so ist die sittliche, d. i. die ethische Fabel denkbar.

3. Wie wären endlich die Fabeln zu nennen, die den höheren Gang des Schicksals unter den Lebendigen bezeichnen? Wir würden sie dämonische oder Schicksalsfabeln nennen, Fabeln der Adrastea oder Aisa.

Nicht immer nämlich kann im Naturgange selbst anschaulich gemacht werden, wie aus Diesem ein Andres durch innere Consequenz folge; da tritt nun die große höhere Folge der Begebenheiten, die wir bald Zufall, bald Schicksal nennen, ins Spiel und zeigt, wie Dies und Das, wo nicht aus, so nach einander folgt, durch eine höhere Anordnung. Natürlicherweise ist sie vermischt, theoretisch und praktisch. Der räuberische Adler trägt mit dem Raube einen Funken vom Altar in sein Nest, der es in Flammen setzt und seine unbefiederten Jungen Dem zur Beute giebt, dem er einst treulos die Jungen geraubt. Die Raubgier des Adlers ist permanent; zwischen seiner vorigen und dieser Unthat aber, wer konnte das Band knüpfen als die Zeit, das Verhängniß?Vgl. Herder's Werke, VII. S. 204 f. – D. Dieser Dürftige erzeigt einem unbekannten Todten seine letzte Pflicht und findet einen Schatz, der seiner Dürftigkeit abhilft; im Traume sagt es ihm Mercur selbst, wodurch er von den Göttern dies Glück verdiente. So erscheinen die Gottheiten, den Streit der Thiere unter einander zu entscheiden, sie über ihre ungerechten Klagen, über ihre müssigen Gebete, über ihre verstandlosen Wünsche hart oder sanft zu belehren, allenthalben aber das hohe Loos werfend, das jeder Art und Gattung der Sterblichen ihre Stelle anweist. Zeus, wie er das Leben der Menschen und Thiere gegen einander abmißt,Hagedorn's »Moralische Gedichte«, nach De Launay, S. 127. – H. Hercules, wie er dem betenden Fuhrmann,Fab. Aesop., edit. Hauptmann, p. 267. – H. Serapis, wie er dem glückträumenden Mörder erscheint,Anthol. Graec. [IX, 378.] – H. [Vgl. Herder's Werke, VII. S. 201 f. – D. in Lessing's Fabeln Zeus und das Pferd, Zeus und das Schaf,Lessing's »Fabeln«, I, 5; II. 18 [Werke, Th. I. S. 196 f., 212]. – H. in Gleim's Fabeln die Götter und die Bäume, die Raupe und der SchmetterlingGleim's »Fabeln«, IV. – 11. – H. u. s. w. sind solche Schicksalsfabeln – Natur-Ideen, die uns den Sinn und Gang der großen Mutter im Allgemeinen zeigen. Bei den schönsten Fabeln dieser Art wird unsre Seele groß und weit wie die Schöpfung; Adrastea-Nemesis, fühlen wir, ist Die, die im Verborgnen Alles vergilt, Alles lenkt, Alles regiert. Sie schützt den Unterdrückten und stürzt den Frevler; sie rächt und lohnt.


Fortsetzung.

Nach dieser dreifachen Eintheilung des Inhalts und Ganges der Fabel richtet sich natürlicherweise auch ihr Vortrag.Lessing handelt hierüber in der vierten seiner »Abhandlungen über die Fabel«. Vgl. Werke, Th. X. S. 77 ff. – D. Wer wollte mit Naturgesetzen spielen? wer über sie tändeln und die große Mutter in ihren Darstellungen äffend zu Spott machen? Gerade dieser Scherz, dieser ungesalzene Spott hat die Fabel tief erniedert. In wie manchen Fabulisten sieht man leibhaft den Thoren vor dem Delphischen Altar stehn, der mit dem Orakel Scherz treiben wollte! Apollo trieb mit ihm Scherz: er machte schlechte Fabeln.

Daß einer Erzählung, die uns Naturgesetze in einzelnen Begebenheiten und Vorfällen darstellt, die heiterste Klarheit und Congruität gebühre; daß die sittliche Fabel sich jeder Art und Gattung der Geschöpfe anschmiege und mit Wohlgefallen, mit Freude und Lust in der Schöpfung wohne, indem sie jede Pflicht sowol als jede edle Mühe um dieselbe als Naturbedürfniß darstellt und durch sich selbst lohnt, Irrthum und Thorheit dagegen in ihren Folgen auch enthüllt und straft: dies will der Begriff der Natur, ihrer Consequenz und Tiefe. Die dämonische Fabel endlich, die Götter und das Schicksal selbst auf den Schauplatz bringt, sie erhebt sich ohn' allen gesuchten Pomp oft zu einem kleinen Epos. Jene Erzählung bei Gellert über den Lauf und die Vergeltung des Schicksals:

»Als Moses einst vor Gott auf einem Berge trat«Vgl. Herder's Werke, VI. S. 181. – D. u. s. w.,

findet sich, das Feierliche hinweggerechnet, an erhabner Zusammenordnung fast in jeder Schicksalsfabel wieder.


»Wo dann bleibt aber das Lächerliche (γελοῖον) der Fabel, das ihr doch wesentlich angehört?«

Zuerst weiß man, daß, um Lachen zu erregen, es gerade nicht darauf ankommt, daß man selbst und zuerst lache, geschweige daß man sich kneife und,

»die Hände gestemmt in keuchende Seiten«,Nach Ramler:
                   »Komm, Lachen,
Die Hände« u. s. w. – D.

das antiquarische grobe Gelächter in Person darstelle. Etwa nur auf dem Markt des Pöbels, und auch da kaum dürfte man durch diese Mittel seinen Zweck erreichen.

Dagegen: gesetzt, eine Gesellschaft hätte über eine Materie lange, ernst und sogar zänkisch deraisonnirt; ein guter Freund am Ende der Tafel, der bisher geschwiegen, träte hintendrein mit einem Fabelchen hervor, das er trocken, dem Anschein nach zwecklos, aber sehr treffend, klar und naiv erzählt und damit jenen ganzen Zwist abthut: erreichte er damit nicht ein hohes Komisches, dem die Vernunft selbst zuspräche? Die kleinste Miene des verzerrenden Lachens hätte ihm geschadet; denn eben der feine Ernst war sein treffendes Salz, seine Grazie und Anmuth. Wollen Irrthümer und Fehler der Menschen mit lautem Lachen begrüßt sein? Warum gaben die Alten, zumal die Morgenländer, ihre Fabel Weisen oder Sclaven in den Mund? Wozu anders, als daß sie nicht ausgelassen, nicht ungezogen erzählt werden könnte. Manche Neuern haben die Sache anders verstanden; der Weise steckt in der Lehre, die Fabel erzählt der Geck oder an Saturnalien etwa der trunkne Sclave.

Zweitens. Da also das Lustige, das Scherzhafte der Fabel in ihrer Anwendung, mithin in der Beziehung liegt, in welcher sie gesagt wird, und diese an sich schon nicht zart genug genommen werden kann: was wäre in der Fabel selbst Lächerliches, wenn in ihr alle Wesen als Naturwesen handeln? Der Fuchs etwa? der Affe? der Esel? O der alten abgekommenen Späße, die den Fabeldichter selbst so oft zum Affen und Langohr gemacht haben! Kein Witz beinahe kann leichter abgeschmackt werden als der Fabelwitz, keine Späße sind trivialer als die Eselsspäße, zumal wenn der bleierne Dichter durch diese Masken spaßt. Wie kurz, wie ziemend sind in der Fabel die Scherze der Alten!

Drittens. Da überdem nichts vorübergehender und feinflüchtiger ist als der Scherz, da das sittsamste Lachen nur am Rande der Lippen hangt, wie der herz- und seelenvollste Wink am Blick des Auges; da zumal gereimte Bücherspäße fast durch sich schon von stereographisch-bleierner Natur sind und in ungeschickten oder übertriebenen Nachäffungen gar albern werden; da endlich das Entbehrliche zuerst und am Frühesten Ueberdruß macht und der Gott Jocus mit jedem Mondviertheil seine unwesenhafte Gestalt ändert: wer wollte ein Spaßmacher sein, wo er es nicht sein darf und nicht sein sollte? Selbst Lafontaine's Scherze, den die Natur doch selbst im Scherz gebildet zu haben schien, haben sich zum Theil überlebt; keiner seiner Nachäffer hat ihn erreicht. Und dann, wäre es wirklich amüsant und lustig, wenn ich lese:

»In einem alten Fabelbuche
(Der Titelbogen fehlt daran,
Sonst führt' ich's meinen Lesern an),
In einem alten Fabelbuche,
In welchem ich, wenn ich nicht schlafen kann
Und sonst zuweilen, mich Raths zu erholen suche,
In einem alten Fabelbuche –«Gellert's »Fabeln«, II. 50 (Werke, I. S. 152), wo aber V. 1 Aus einem steht, V. 4–6 lauten:
    »Aus dem ich mich Raths zu erholen suche,
    Wenn ich selbst nichts erfinden kann, –
    Aus diesem alten deutschen Buche« – D.

Ei, so wirf das alte Fabelbuch in den Winkel und erzähle, was Du darin fandst! Sind Langweiligkeit, Präambuln und Digressionen solcher Art naiver Scherz? Gehe man die Scherzdigressionen und Spaßpräambuln der Fabulisten durch, ohn' alle Rücksicht auf Theorie der Fabel wünscht man die meisten hinweg. Es sind platte Einschiebsel; auch dem Ausdruck nach haben sich die meisten selbst überlebt.

Einfalt ist die Grazie der Natur, hohe Naivetät die Grazie der Fabel. Sie ist's, die Alles würzt, vom Burlesken niedriger Naturen zum Erhabensten, dem Schweigen. Eben in dem Contrast von Bildungen und Sitten scherzt die Natur unaufhörlich; aber wie ernst scherzt sie, wie consequent ist ihr Persiflage! Die Naturfabel ahme ihr nach; ihr höchster und dauerndster Reiz ist stille Größe, schweigende Anmuth, besonders in den Fabeln des Schicksals.


Als eine zweite Ursache, warum die Fabel am Liebsten Thiere darstelle, führt Lessing, wiewol selbst nur zweifelhaft an, daß es geschehe, »um die Erregung der Leidenschaften so viel als möglich zu vermeiden.« Dies könne nicht anders geschehen, als wenn der Dichter »die Gegenstände des Mitleids unvollkommener macht und anstatt der Menschen Thiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt.«Lessing's »Fabeln«, S. 190 [Werke. Th. X. S. 63]. – H. Ich zweifle. Hassen wir den Wolf, den Tiger der Fabel nach Umständen nicht eben so inniger, weil er uns die ganze Gattung auch der Menschenwölfe und ‑Tiger unverlarvt in ihren Gesinnungen, Entschlüssen und Thaten charakteristisch darstellt? Bemitleiden wir nicht das unschuldig unglückliche Lamm um so mehr, da wir in ihm eine ganze Gattung gleich Unschuldiger dem Rachen des Wolfs, den Zähnen des Tigers hilf- und rettungslos hingegeben sehen? Und wer nähme in sittlichen Fabeln an der muntern Lerche, der liebenden Nachtigall, der treuen Turteltaube u. s. w. nicht für alle Charaktere ihrer Art herzlichen Antheil? um so mehr Antheil, da die Fabel in die Kinderwelt gehört und wir bei ihr in die Empfindungen der Kindheit zurücktreten? Nirgend fast sonst erscheinen die Charaktere lebendiger Wesen hassens- und liebenswerther als in der Fabel, eben weil sie diese Charaktere rein darstellt. Haß und Liebe in ihr werden Leidenschaften des Verstandes, so tiefgewurzelt, so allgemein und dauernd, als diese Typen der Natur selbst sind. Die Hyäne der Fabel hassen wir über und für alle Hyänen; die mütterliche Nachtigall lieben wir als Urbild aller Mutterliebe.


Da nach dieser Theorie die Fabel einen so tiefen Grund, einen so reinen Umriß bekommt, wie Vieles schneidet dieser Umriß weg, das, wenn man es genau prüft, die Fabel eben verächtlich gemacht hat! Er schneidet ab:

1. Jeden Schnickschnack, der nichts weniger als eine große, feste Ordnung der Natur in Lehre darstellt. Holberg's genannte Moral, »daß keine Creatur weniger in Zucht zu halten sei als eine Ziege,« hat in den Fabelbüchern viele Schwestern, denen Abschied zu geben ist, wenn je die wahre große Naturfabel ihren Werth wieder erhalten soll. Wir sind dieser Kindereien unwichtiger Lehren satt und müde. Abgeschnitten werden:

2. Alle Erzählungen zusammengeflickter Situationen, die darauf hinausgehen, daß Thier oder Mensch eine scharfsinnige Sentenz sage. Erscheint diese Sentenz nicht, in der Lebensweise der Dargestellten gegründet, jetzt in Handlung sichtbar, so möge der Einfall sein, was er wolle, seine Einkleidung ist keine Natur- und Kunstfabel. Wie manches witzige Histörchen schleicht sich hiemit weg aus dem strengen Gebiet der Fabel!

3. Die angebliche Moral der Fabel verschwindet als ein verführendes Scheinwort völlig. Von welchem Thier sollen wir Moral lernen? Vom Wolf oder vom Bär? Kein Thier ist der Moral fähig; keins muß ihrer fähig sein, wenn es fabelmäßig, d. i. charakteristisch handeln und die Fabel nicht selbst vernichten soll. Auch die sittlichen Fabeln nannten wir deshalb nicht moralische, sondern ethische Fabeln; an den Sitten, auch der gefälligsten Thiere, lernten wir nichts als Naturordnung. Moral sagt der Mensch sich selbst; sie entspringt aus seinem Verstande, aus seinem Herzen. Wozu der Dichter die Fabel darstellte, ist Lehre, aus der sodann nach jeder neuen Wendung Jeder sich seine Moral bilden möge. Die Moralisten in der Fabel sind langweilige, alberne Geschöpfe.


Wäre nach diesen Voraussetzungen eine geläuterte Fabellese nicht zu wünschen? Um so mehr zu wünschen, da die neueste, obwol von einem berühmten und verdienten Manne gesammelt, so sehr mißrathen ist.Ramler's Fabellese. In ihr liegen Fabeln, Erzählungen, Geschichtchen, Conversationsmärchen durch einander. Kindern muß sie äußerst langweilig werden, und die gebornen Richter der Fabel sind Kinder. – H. Sie wird erscheinen.Beim Verleger dieser Zeitschrift. – H. (J. Fr. Hartknoch in Leipzig. Sie ist nicht erschienen. – D.) Nicht Alles, was J. J. Rousseau in seinem »Emil« gegen den Gebrauch Lafontaine's bei der Jugend sagt, ist Declamation; in Manchem hat er sehr Recht, obwol nicht immer aus rechtem Grunde.

Noch ein Wort endlich vom Silbenmaße der Fabel. Soll sie in Prose oder poetisch erzählt werden? Nach Belieben, oder vielmehr nach Gelegenheit, Zweck und Inhalt. Die Morgenländer haben ihre schönsten Fabeln in Prose erzählt; bei Anlässen im Leben wird sie schwerlich Jemand anders erzählen. So Lokman, Aesop, Saadi, Vischnu-Sarma, Luther, Lessing, obgleich des Letzten glänzender Stil oft Poesie ist.

Jedermann fühlt indeß, daß, da die Fabel ein Kunstwerk ist, ihr auch wol in der Sprache wie in der Composition eine Kunstform gebühre, die dann von Zeit und Ort, am Meisten von der Sprache selbst bestimmt wird. Als bei den Griechen der Hexameter die Form poetischer Erzählung war, ward auch die Fabel in Hexametern erzählt, wie Hesiodus u. A. es beweisen. Erschien sie auf dem Theater, so bekam sie einen höheren Tritt; aus solchem entstand ohne Zweifel das schöne Silbenmaß, das wir in Bruchstücken des sogenannten BabriasOder vielmehr Babrius, von dem 123 Fabeln erst in unserer Zeit entdeckt und zuerst 1844 von Boissonade herausgegeben wurden. Vgl. Herder's Werke, VII. S. 28. Herder's Herleitung des choliambischen Versmaßes von der Bühne ist verfehlt. – D. finden. Wäre es unsrer Sprache zur Natur zu machen, so gäbe es vielleicht ein schöneres Kleid für die Fabel; leider aber ist unsre Prosodie und Declamation noch viel zu unbestimmt, als daß es sich nicht, auch sorgfältig angewandt, in eintönige Jamben verlöre. Uebrigens waren die Griechen hier, wie in Allem, das liberalste Volk; eine Fabel, die Epigramm war, ward Epigramm in elegischem Silbenmaße. Wir sollten es ihnen hierin nachthun und keiner Fabel das Gewand rauben, das ihr gebührt.

Die Fabeln der mittlern Zeit schlendern in ihren einförmigen Reimen etwas langsam daher; man ließ sich diesen Gang lange wohlbehagen. Die Engländer, treue Anhänger der alten Gewohnheit, gehen ihn noch constitutionsmäßig. Gay ist ihr Vorbild. Wir Deutsche ließen uns durch den sogenannt unregelmäßigen Vers der Franzosen, in welchem Lafontaine, Lamotte u. s. w. unsre Muster waren, unser altes naives Fabel-Silbenmaß zu bald verleiden, ohne zu bedenken, daß jene Nation, die keine eigentlich poetische, sondern nur eine Conversationssprache hat, einestheils nur aus Noth so unregelmäßig sprach, und daß anderntheils, was sie mit diesem Silbenmaß erreichte, wir nicht immer erreichen konnten. Aller Nachäffungen ohngeachtet ist noch kein Lafontaine unter uns aufgestanden; wir hinkten ihm nur nach.

Und fühlen es selbst, daß die deutsche Fabel eines regelmäßigen Silbenbaues bedürfe; daher unter unsern Fabulisten der so öftere Gebrauch des Liedes, des Epigramms u. s. w. Kleist war meines Wissens der Erste, der das Kunstwerk der Fabel in einem reinen Kunstbau des Versmaßes darstellte; seine zwei versificirten Schicksalsfabeln, mehrere in Gleim,Z. B. »Die kleine Biene«, »Adler und Lerche«, »Die fromme Nachtigall«, »Raupe und Schmetterling« u. s. w. – H. Pfeffel u. A. sind auch dem Versbau nach in hoher oder stiller Naivetät Muster.Hier folgte noch: »Die Land- und Stadtmaus. Eingeleitet und erzählt von Horaz« (Herder's Werke, VIII. S. 55-58). – D.


 << zurück weiter >>