Johann Gottfried Herder
Adrastea
Johann Gottfried Herder

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1. Geschichte.

Unter Ludwig XIV. existirte sie nicht. Historiographen besoldete er; weise aber unterließen sie es, ihr Amt zu verwalten. Er nahm sie mit zu Felde, seine Thaten zu sehen; Boileau stieß laut in die Drommete: »Großer König, höre auf zu siegen, oder ich – höre auf zu schreiben!« (an dergleichen Lob war Ludwig's Ohr gewöhnt); der Satiren- und Odenmacher schrieb aber keine Geschichte. Racine, der zarte, blöde Racine fiel fast in Ohnmacht, als er in Gegenwart des Königes und der Maintenon den Namen Scarron als eines Possenreißers unvorsichtig genannt hatte, und als der König in einem von ihm namenlos aufgesetzten, der Maintenon anvertrauten Memorial über die damalige Noth Frankreichs ihn höchst ungnädig erkannte, grämte sich der arme Dichter zu Tode. Racine also schrieb keine Geschichte. Pater Daniel, ein Jesuit, verstand das Ding besser. In seiner »Geschichte von Frankreich« machte er von der Familie d'Aubigné, zu der sich die Maintenon zählte, eine so glänzende Erwähnung, daß sein Buch bei den Höflingen und durch sie weiterhin schnellen Lauf gewann. Er ward königlicher Historiograph und genoß seine Pension schweigend.

Wie kann man auch nur denken, daß ein Monarch wie Ludwig bei seinen Lebzeiten einen Geschichtschreiber habe? Ist die erste Pflicht dieses, Wahrheit zu sagen, Falsches nicht zu sagen, mit kühner Hand Glanz und Schimmer hinwegzuthun, wo diese die Begebenheiten entstellen, Charaktere verfälschen: wie war ein Geschichtschreiber an einem Hofe, unter einer Regierung denkbar, die ganz Schimmer, Schimmer von so betäubender, blendender Kraft war, daß er die Welt um sich her zu einer Zauberhöhle machte, in welcher allenthalben nur der Name des großen Monarchen glänzte? Das einzige Wort Ludwig's: »L'État c'est moi!«, verbot unter seinen Augen alle Geschichte.

Und wie fernhin reichten diese Augen! Er, der die Holländer einiger öffentlichen Spöttereien wegen mit einer fürchterlichen Kriegsmacht anfiel, er, der Bussy-Rabutin eines ungezognen Couplets wegen verbannte und des »Telemach's« wegen Fénélon's unversöhnlicher Feind war: ein Machthaber wie er litt keine Geschichte.

Keine andre wenigstens, als die ihm aus seinen eignen, auf seine eignen Kosten dargebracht ward, eine metallische, goldne, aus Denkmünzen, die er auf sich hatte prägen lassen, mit Aufschriften, dazu er eine eigne Akademie bestellt hatte, eine vollwichtig goldne Geschichte.Histoire métallique de Louis XIV. – H.

Desto hämischer neckten ihn dafür seine Feinde; desto lauter schrieen seine Verfolgten. Von beiden Seiten war also keine Geschichte zu erwarten, die in gemäßigtem Licht einen ruhigen Anblick fordert.

Aber die Scenen rücken vorbei; die Zeiten ändern sich und erscheinen in ihren Folgen; dann erst beginnt eine vergleichende Geschichte. Verzweifle Niemand daran, daß wir oder unsre Nachkommen die großen Begebenheiten unsrer Zeit nicht auch als Geschichte sollten kennen lernen! Auch sie werden in die Entfernung treten, in der allein sie ein Maß mit reinem Anblick gewähren. Was im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts Ludwig, Wilhelm, Eugen, Marlborough und Andre, waren in Mitte des Jahrhunderts andre Helden; Alle haben ihr Maß gefunden.

Die schädlichste Krankheit der Geschichte ist ein epidemischer Zeit- und Nationalwahnsinn, zu dem in allen Zeitaltern die schwache Menschheit geneigt ist. Nichts dünkt uns wichtiger als die Gegenwart, nichts seltner und größer, als was wir erleben. Treten nun zu diesem engen Gefühl noch aufblühender Nationalstolz, alte Vorurtheile von mancherlei Art, Verachtung andrer Völker und Zeiten, von außen anmaßende Unternehmungen, Eroberungen, Siege, vor Allem endlich jene behagliche oder vornehme Selbstgefälligkeit hinzu, die sich selbst als den Mittelpunkt der Welt auf dem Gipfel der Vollkommenheit wähnt und nach dieser Voraussetzung Alles beäugt: so kommt in dies ganze chinesische Gemälde eine Verzogenheit der Begebenheiten und Figuren, die bei angewandtem Talent zwar unterhalten, vielleicht auch bezaubern kann, am Ende aber doch ermüdet. Wir fühlen uns durch die glänzende Darstellung getäuscht und sind unwillig über diese Täuschung; denn die Folgezeit hat den falschen Firniß abgestrichen, die Begebenheiten anders gerückt und die Gestalten rein modellirt. Wie wenige Geschichten des vorigen und der ihm vorangegangenen Jahrhunderte lassen sich jetzt noch mit zustimmendem Urtheil vom Werth der Dinge lesen! Anmaßungen, Entwürfe, Schlachten, Lobsprüche, Siege – Alles hat mit dem Ende des Jahrhunderts ein andres Maß erhalten; und wer bürgt uns dafür, ja, wer darf es sich anmaßen, daß er dies Maß schon in der bestimmtesten Reinheit der Absichten und der Schätzung der Dinge habe? Auf jeden Fall indeß sind wir weiter.

Die Geschichte Wilhelm's von Oranien und der Königin Anna hatte, obwol aus andern Ursachen, dasselbe Schicksal. Die Gährung der Whigs und Torys, die hundert Dinge in einander mischten und ihre Bestrebungen mit jedem neuen Minister änderten, ja, die oft selbst nicht wußten, was sie wollten, machten lange Zeit jede reine Ansicht der Begebenheiten und Charaktere unmöglich. Swift's Geschichte der letzten Jahre dieser Königin ist das trockenste seiner Werke, und da es das aufrichtigste sein will, doch auch einseitig, parteilich. Es gehört ein Erwachen dazu, den Traum und Drang der Begebenheiten zu ordnen, wenn er – geträumt ist.

Wie viel gehört überhaupt zum leicht ausgesprochenen Wort Geschichte neuerer Zeiten! Ein schätzbarer Schulmann ließ eine Rede über den Satz halten, »daß die neuere Geschichte zwar angenehmer, bei Weitem aber ungewisser sei als die alte,«Job. Mich. Heinzens kleine deutsche Schriften, II. 228 ff. – H. und führte zu dessen Bestärkung als ein eifriger Verehrer der Alten manche Gründe an. Das Ungewisse beiseite gesetzt, in welches sich die alte und neue Geschichte verhältnißmäßig wol theilen möchte, ist die neuere Geschichte viel zusammengesetzter und verflochtner als die alte. Die Führung unsrer Geschäfte, ihre Hilfswerkzeuge und Maschinen, noch mehr die Entwürfe und Charaktere der jüngeren Welt haben jene plane Evidenz verloren, die uns in der Geschichte der Griechen und Römer bezaubernd festhält. Alle Begebenheiten Europa's laufen in einander, und ihre ersten Triebfedern sind oft, wo man sie am Wenigsten sucht, im dunkelsten Winkel, nicht etwa eines Cabinets, sondern einer Gesindstube oder in einem noch heimlichern Raume. Die Register eines Staats, Departements genannt, tönen oft in einem solchen Gewirr, oder eins, gewöhnlich das Kriegswesen, ruft allen andern so laut vor, daß eine Geschichte der Zeit, d. i. eine Harmonie zu ziehen, gewiß das Werk nur eines Orpheus, Amphion's oder gar eines himmlischen Genius sein möchte. Hätte Boulainvilliers z. B. aus den zweiundvierzig Foliobänden von Berichten, die über den Zustand Frankreichs auf Befehl des Herzogs von Bourgogne einlangten, ein Gemälde entwerfen wollen, wie aristokratisch wäre es geworden! Hätte Bossuet eine Geschichte seiner Zeit geschrieben, welch eine klerikalische Gestalt würde sie gewonnen haben, da z. B. der Abt de Choisy seinen König zu einem förmlichen David und Salomo machte! Die jüngste, späteste Tochter Mnemosynens ist die Muse einer wahren Geschichte; wenn wir in Mitte oder zu Ende des Jahrhunderts an sie oder an Vorläuferinnen derselben kommen werden, mit welcher Freude wollen wir sie begrüßen! mit welcher hoffnungsreichen Aussicht auf zukünftige Zeiten wollen wir sie umarmen!

Damit wird den Geschichtsforschern Frankreichs und Englands unter Ludwig, Wilhelm und Anna an ihren Verdiensten nichts geraubt. Sie übten sich in ältern Zeiträumen, über die sie frei schreiben durften. Der brave Mézeray in Frankreich, Rapin de Thoyras in England thaten, so viel sie konnten; St. Réal's Geschichte der Verschwörung in Venedig, Dubos' Geschichte der Ligue von Cambray, Vertot's Revolution mehrerer Völker, Rollin u. s. w. werden immer noch mit Wohlgefallen gelesen. Die zum Apparat der Geschichte in Bibliotheken, Sammlungen oder in historischer Kritik beigetragen, Lelong, Lauriére, Launoy, Mabillon und so viel andre Sammler in Frankreich und den britannischen Inseln sind durch ihre Mühe oder durch ihre Kritik sehr schätzbar. Die Akademie der Aufschriften lieferte treffliche Discussionen über die alte und mittlere Geschichte, insonderheit Frankreichs; aus Furcht der Unsicherheit in den nächsten Gegenden besuchte die historische Muse entlegnere Reviere. »Wie werden Sie es machen,« fragte der Herzog von Bourgogne den Abt Choisy, »um zu sagen, daß Karl VI. närrisch war?« »Monseigneur,« antwortete dieser, »ich werde sagen: er war närrisch.« So, als Ludwig XIV. den Geschichtschreiber Mézeray fragte: »warum er Ludwig XI. zum Tyrannen gemacht habe?« antwortete dieser demüthig: »Sire, pourquoi l'était-il?« Damit hatte das Gespräch ein Ende; beim grand Alcandre selbst wäre es damit nicht beendet gewesen.Hier folgte in der Adrastea das Gedicht: »Geschichte und Dichtkunst« (Herder's Werke, I. S. 146–148). – D.


Beilage.
Baco von der Geschichte.De augmentis scientiarum, L. II. Cap. 5. – H.

»Unter menschlichen Schriften ragt an Würde und Ansehn die bürgerliche Geschichte hoch hervor. Ihrer Treue nämlich sind die Beispiele der Vorfahren, der Wechsel der Dinge, die Grundfesten bürgerlicher Klugheit, der Menschen Name und Gerücht anvertraut. Zu ihrer Würde tritt ihre Schwierigkeit, die ebenso groß ist. Denn den Geist in das Vergangene zurückziehen und ihn gleichsam alt machen, die Bewegungen der Zeiten, die Charaktere der Personen, der Rathschläge Gefahren, der Handlungen (als wären sie Gewässer) verborgene Leitungen, das Innere äußerer Vorwände, die Geheimnisse der Regierung mit Fleiß zu erforschen, sie treu und frei zu erzählen, hell endlich vor Augen zu stellen, dazu gehört große Mühe und ein großes Urtheil, insonderheit da alles Alte ungewiß, das Neuere mit Gefahr umwunden ist. Daher denn auch dieser Geschichte viel Fehler umherstehn, indem Einige statt ihrer dürftige, gemeine, sogar unanständige Erzählungen vortragen, Andre Particularberichte und Geschwätz darüber eilfertig in ungleichem Gewebe zusammenflicken, Andre die Titel der Begebenheiten nur durchlaufen, wiederum Andre jede Kleinigkeit, die zur Sache nichts thut, verfolgen, Einige aus gar zu großer Nachsicht gegen ihren eignen Witz Vieles kühn erdichten, Andre zwar nicht das Gepräge ihres Geistes, desto mehr aber ihrer Affecten den Begebenheiten eindrücken und zufügen, ihrer Partei wohl eingedenk, über die Dinge selbst aber untreue Zeugen. Manche, die sich in der Politik gar wohl gefallen, bringen allenthalben Staatsklugheit an, und da sie zu dieser Ostentation Auswege suchen, unterbrechen sie gar zu leichtsinnig den Faden der Erzählung; Andre schalten lange Reden und Predigten, wol auch lange Actenstücke ein, mit wenigem Urtheil. So daß offenbar unter allen menschlichen Schriften nichts seltner ist als eine eigentliche, gesetzmäßige, vollkommne Geschichte


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