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Rede, bestimmt für die vierte Volta-Tagung der Königlichen Akademie zu Rom im Oktober 1934.
Die Volta-Tagung der hohen Königlichen Akademie zu Rom und ihre ehrenvolle Einladung gibt mir Gelegenheit, über »Das Drama im geistigen Leben der Völker« zu sprechen. Der erste Blick auf das mit dieser Frage berührte Gebiet zeigt seine Weite, der zweite seine Unendlichkeit.
Das wenige, was ich und irgendein Mensch darüber zu sagen vermag, kann höchstens da und dort scheinwerferartig hineinleuchten.
Das Drama ist eine der vielen Bemühungen des Menschengeistes, aus dem Chaos den Kosmos zu bilden. Dieses Bestreben fängt schon im Kinde an und setzt sich fort durch das ganze Leben. Die Bühne im Menschenhaupt wächst Jahr um Jahr, und die Schauspielgesellschaft wird größer und größer. Ihr Direktor, der Intellekt, überblickt sie sehr bald nicht mehr, da die Akteure zu unzählbarer Menge anwachsen.
Die frühesten Mitglieder des großen-kleinen Welttheaters im Kindskopf sind Mutter, Vater, Geschwister, Anverwandte und was sonst an Menschen in den Kreis der Sinnenerfahrung tritt. Im kindlichen Spiel beginnt dieses Drama schauspielerisch nach außen zu schlagen: es ahmt die Mutter, den Vater und ihr Verhältnis zu den Kindern nach. Und weiter und weiter erstreckt sich dieser Nachahmungstrieb, womit das Kind seine dramatische Welt aufbaut und fundiert. Diese Welt hat durchaus universellen Charakter. Es werden in ihr kleine Analogien zum Größten der Kunst im Ganzen gefunden, da sie sich immer zugleich äußerlich darzustellen sucht. Nicht nur die dramatischen Spiele auf den Brettern, die die Welt bedeuten, gehen auf sie zurück, sondern ebenso der »Olympische Zeus« des Pheidias, der »Moses«, die »Pietà« und die »Höllenstürze« des Michelangelo.
Das, woraus jedes Gebilde der Kunst seinen Ursprung nimmt und was im Haupte des Menschen wirkt, solange er lebt, nenne ich: das Urdrama! Davon findet man bei Aristoteles nichts, und doch stand sein Geist mitten darin. Wenn es sich ins Gebiet der Kunst erhebt, so materialisiert es intuitiv, aber seine Intuitionen haben sich sublimiert in allen Religionen und allen Himmeln. Unnütz zu sagen, daß auch die Hölle aus ihm hervorgegangen ist.
So gesehen, wäre das Drama im geistigen Leben des Menschen überhaupt sein geistiger Lebensprozeß, und es würde sich fragen, ob auch im geistigen Leben der Völker. Daß es auch hier der Fall ist, glaube ich. Wie die besonderen, gehen auch die allgemeinen Anliegen darauf zurück. Im ganzen Gebiet des Denkens wirkt es sich aus: in der Kunst, in der Wissenschaft, der Philosophie und Religion und in der Tat, nicht zu vergessen: also wäre das Drama im Geiste der Völker gewissermaßen an sich ihr Geist.
Da ich als Dramatiker gelte, haben Sie wahrscheinlich, als Sie von mir etwas über »Das Drama im geistigen Leben der Völker« hören wollten, nur an eine seiner Kunstformen, die des Theaters, gedacht. Aber das Mehr oder Weniger, das Stärkere oder Schwächere, das Leise oder Lärmende seines Daseins und seiner Volksverbundenheit ist eine allzu schwankende Größe. Das Urdrama, immer und überall gegenwärtig, drückt sich bald zart, bald gewaltig, je nachdem durch das Wort, durch Musik oder durch Kanonendonner aus – und große Dichter sind nur göttliche Zufälle!
Wenn wir die Absicht haben, uns auf die Kunst des Theaters zu beschränken, so kompliziert sich auch hier schon bei flüchtigem Hinblick die Aufgabe. Zeitlich, also historisch genommen, gibt es das indische, griechische, römische, italienische, französische, spanische, englische und deutsche Theater. Ihre Gipfelungen könnte man etwa mit folgenden Namen bezeichnen: Kalidasa, Aischylos, Plautus, Goldoni, Molière, Calderon, Shakespeare, Goethe und Richard Wagner. Aber es würde sich hierbei nur um einige Glücksfälle handeln, wie gesagt, Einmaligkeiten, in denen große Dichter das Theater veredeln und seinen Beruf ins Göttliche steigern, wobei sowohl die menschliche Tragödie als die menschliche Komödie ihren höchsten Ausdruck hat. Im übrigen aber ist das aus dem Sensationsbedürfnis der Menge geborene Theater überaus vielfältig. Das Altertum anlangend, weise ich nur auf das römische Kolosseum hin. Von dem Karren des Thespis bis herüber zu ihm – welch ungeheure Spannweite! Innerhalb des modernen Theaters läßt sich eine ähnliche Spannweite feststellen: von Verdi und Richard Wagner etwa zum Puppentheater, von der kleinen Wanderbühne zur Reinhardtschen Ausstattungsfreudigkeit in Drama und Pantomime und von da bis zu Barnum und Bailey und ihrer universalen Zirkuswelt.
In der Befriedigung des menschlichen Schaubedürfnisses leistet das Höchste, und zwar durch das Kino, die neue Zeit. Es beherrscht in unzähligen Theatern alle fünf Erdteile. Millionen von Menschen aller Rassen drängen sich täglich vor ihren Eingängen. Wen sollte nicht Schwindel ergreifen gegenüber diesem ganzen und allgemeinen theatralischen Phänomen, wenn er sich über seine Bedeutung im Geiste der Völker und im einzelnen des Volkes klarzuwerden hätte? Bliebe noch übrig die Befriedigung der allgemeinen großen Weltliebe zum Potpourri, der das Radio universell entgegenkommt, indem es durch Millionen und aber Millionen unsichtbarer Kanäle alles, was gesprochen, gesungen, gegeigt und trompetet wird, in Paläste und Bürgerhäuser, ja in die verschneite Hütte des armen Bergbewohners leitet.
Wir wagen uns also nicht an dieses ebenso riesenhafte als chaotische Phänomen, das allerdings seine gemeinsame Wurzel hat im Urdrama und so gewissermaßen, wie ich schon sagte, an sich der wirkende Geist der Völker ist. Konstruieren wir in ihm ein Exoterium und ein Esoterium, und wenden wir uns allein zu diesem. Dann würde mein Thema »Das Drama im geistigen Leben der Völker« sich auf die Werke von Kalidasa über Calderon, Shakespeare bis zu Verdi und Richard Wagner und den übrigen hohen Olymp großer Künstler beziehen, die ein Esoterium darstellen. Diese Kunst darf nicht zum Volke herab-, sondern das Volk muß zu ihr hinaufsteigen.
Gleichwie ein guter Wein, ja der seltenste, allerköstlichste, als höchstes Produkt eines Bodens zu bewerten ist, so ist auch der große Dichter und Dichter-Musiker als das höchste Produkt eines Volkstums zu achten. Mit unzähligen Wurzeln nahm er seine Kraft aus ihm, und das Volkstum trieb ihn empor, um sich durch ihn seiner selbst und des Reichtums seines Urdramas bewußt zu werden. Kann sein, daß ein solcher Baum, unten immer mehr um sich greifend, nach Höhe und Breite immer mehr ausladend, diesem und jenem schwächeren Raum und Nahrung nimmt. Aber für die Gesamtheit des Volksgeistes und Volksbewußtseins bleibt er eine Lebensnotwendigkeit.
Und wenn in heiligen Büchern von Beschattung durch den Geist gesprochen wird, so ist zu sagen, daß auch der Schatten des Genies allenthalben befruchtend wirkt. Und nur durch ihn, den frei entwickelten Baum des Genies, durch einen Dante, Leonardo, Bach oder Beethoven, erhebt sich das Haupt eines Volkes bis in die Sterne.
In diesem Sinne vom Drama im Geiste der Völker reden heißt: vom Genie im Geiste der Völker reden. Wenn aber das Genie auch wesentlich esoterisch ist, so zeigen Gestalten wie Leonardo und Goethe, daß es auch im Exoterischen weit und breit um sich greift. Nichts würde verkehrter sein, als Abseitigkeit zu einer Eigenschaft des Genies zu stempeln. Ist es abseitig, so ist es auch einseitig. Es ist aber vielseitig, wenn es, wie bei Leonardo und Goethe, voll entwickelt ist. Seiner eigenen Vielseitigkeit hat Goethe, selbst bis in allerlei Schwächen, willig nachgegeben. In einer Unmenge kleiner Reimeleien bewegt er sich, in der primitiven Art des Schusters Hans Sachs, in allerlei dramatischen Szenen auf dem Gebiet des Puppentheaters mit seinen Hanswurstiaden in derbster Volkskomik. Als ein Erzieher zu ihr ein Meister, als ihr Schüler ein Dilettant, verband er sich mit der bildenden Kunst. Er war Minister und danach Theaterleiter Dies alles und auch sein wissenschaftliches Wirken ist bekannt. Also sei wiederholt: das esoterische Wesen des Genies ist in seinen Früchten keinesfalls beschränkt auf dies Esoterium. Es würde andererseits auch nicht weiter zu wachsen vermögen, wenn es nicht immer wieder Luftwurzeln in den Volksboden absenkte.
Ich habe am 21. Juli 1928 bei den Festspielen zu Heidelberg eine kleine Rede, wie diese, gehalten. Man nannte sie später »Der Baum von Gallowayshire«. Auf den Mauerruinen von New Abbey in Gallowayshire befindet sich eine Art Ahorn. Von Mangel an Raum und Nahrung gedrängt, schickte er eine starke Wurzel, welche sich in den Boden unten festsetzte und in einen Stamm verwandelt wurde. Und nachdem er die übrigen Wurzeln von der Höhe der Mauer losgemacht hatte, wurde der ganze Baum, von der Mauer abstehend, unabhängig. Der Baum ging auf diese Weise von seinem ursprünglichen Platze. Er suchte die Kraft des Mutterbodens auf und durchdrang ihn mit allen Wurzeln.
Das deutsche Drama hat seit etwas über anderthalb Jahrhunderten diesen Prozeß durchgemacht. Vollständig hat es erst in neuerer Zeit deutschen Wurzelboden wieder erreicht. So habe ich bäurische Zustände der Heimatscholle in »Vor Sonnenaufgang«, in »Fuhrmann Henschel«, in »Rose Bernd«, den Jammer kleiner Gebirgsweber, den Lebenskampf einer Waschfrau, das Leiden eines Bettelkindes in »Hanneles Himmelfahrt«, zweier Armenhäusler »Schluck und Jau« im Drama behandelt, in »Die Ratten« eine unterirdische Welt des Leidens, der Laster und Verbrechen.
Ich habe dann, mit »Florian Geyer«, mein Drama in die Leidenshistorie unseres Volkes hinein verbreitert. Aber ich werde nicht weiter von mir reden, es mußte, um der Wahrheit die Ehre zu geben, geschehen: weil ich als eine der Wurzeln des Baumes von Gallowayshire zu werten bin.
Der einzelne wird in das urdramatische Sein seines Volkes hineingeboren, dessen mehr oder weniger klarer, mehr oder weniger umfassender natürlicher Spiegel er ist. Das Genie aber ist ein göttlich-magischer Spiegel und so, wie Shakespeare sagt, im lebendigen Drama der Spiegel des Zeitalters.
Man hat das Theater eine Teufelskirche genannt, die der böse Geist neben die Kirche gestellt habe. Darum stand es auch lange, samt Dichtern und Schauspielern, im kirchlichen Bann. Den Höhepunkt der Verfolgung erlitt es durch Calvin und seine Anhänger, während Luther, wohl mit durch Melanchthon bewogen, es gebilligt, ja verteidigt hat. Wenn es aber im Geiste des Volkes noch immer, das Theater und also das Drama betreffend, sogar ein Für und Wider gibt, ein Wider, das seine Berechtigung überhaupt in Frage stellt, so darf ich auf meine am Anfang des kleinen Vortrags stehenden Sätze hinweisen: der erste Blick auf mein Thema zeige seine Weite, der zweite seine Unendlichkeit.
Kampf ist der Vater aller Dinge und das Drama eine der vielen Formen, diesen Kampf in seiner Tragik, seiner Komik oder in seiner Tragikomik darzustellen. Ein Drama steht um so höher, je parteiloser es ist. So sagt Goethe von Shakespeare, daß man meist derjenigen seiner Gestalten recht gebe, die zuletzt gesprochen habe. Ein Zwang zum Kampf ist vorauszusetzen, und der schlechte Kampf wird mitunter den Guten wie den Schlechten unentrinnbar aufgedrängt. Eine Art Sieg über das Leben soll am Schlusse des Dramas, tragisch oder komisch, erreicht werden. Vertretung von Dogmen als wesentlicher Zweck macht ein Drama zweitrangig. Beweise zu führen ist es nicht bestimmt, und wenn es dazu mißbraucht wird, so ist es als Kunstform vernichtet.
Eines der edelsten menschlichen Kulturvermögen ist die Festivitas. Sie gehört in den Geist eines Volkes hinein. Ihre Verwirklichung, seit es Menschen gibt, ist auf unendlich viele Arten, auch die furchtbarsten, erreicht worden. Diese furchtbaren und blutigen Arten gibt es nicht mehr. Die Religion erreicht Festivitas mit Hilfe der Kunst. Die Kathedralen Italiens, Frankreichs und Deutschlands sind die Zeugen. Die Plastik und Malerei Griechenlands und Italiens ebenfalls. Am reinsten und höchsten ist sie für den mit dem göttlichen Musiksinn Begabten durch Musik erreicht worden. So ist das Drama und die dramatische Dichtung im Geiste des Volkes auch dessen Festivitas.
Die Prosa eines kurzen Vortrags ist kein Medium, um in die Tiefe der dramatischen Dichtung hinabzudringen. Es geht nicht anders, man muß es festhalten, daß die Tiefe echter Kunst voller Wunder ist. Ein Mysterium aufzulösen: davon kann hier ebensowenig als in religiösen Dingen die Rede sein, die sich aufs engste damit berühren. Im Gegenteil: wir respektieren in Ehrfurcht das tiefe Mysterium. Und so habe ich nichts mehr hinzuzusetzen.
Mit dem Wunsche, der Festivitas dieser Stunde auf dem heiligen Boden des ewigen Rom wenigstens der Absicht nach gerecht geworden zu sein, sei diese kurze Erörterung abgeschlossen.