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Vortrag, gehalten im Festsaal der Universität zu Wien am 11. November 1921.
Die Ehre und Freude, vor Ihnen erscheinen zu dürfen, wird von mir tief empfunden. Ihre auszeichnende Einladung erging an den Schriftsteller und Menschen, erging an den deutschen Schriftsteller und deutschen Menschen. Er steht vor Ihnen.
Es ist nicht zum erstenmal, daß ich die Ehre genieße, hier in Wien vor einer wissenschaftlichen Körperschaft zu reden. Es ist an mir, immer wieder dankbar mich zu erinnern, wie ich unter dem Schutze der Manen des erlauchten Namens Grillparzer durch die Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet worden bin.
Es waren damals andere Zeiten, sorgenlosere Zeiten, glänzendere Zeiten. Ein allgemeiner Aufschwung, eine allgemeine Gläubigkeit, darin der besondere und feste Glaube an den Fortschritt der Menschheit überhaupt eingeschlossen war, zeichnete die Epoche aus.
Aber es kann nichts nützen, kann zu nichts führen, diesen Vergleich weiter auszuspinnen, zum mindesten in dem Sinne auszuspinnen, der allzu schmerzlich naheliegend ist und alles Licht auf die entschwundene Epoche wirft.
Zwar ist uns der Rückblick ebensowenig wie der Einblick und der Blick in die Zukunft verwehrt, die Folgerungen dieser Geistestätigkeiten jedoch dürfen nicht dahin führen, unser Gemüt zu verdüstern oder gar es in Trübseligkeit oder Hoffnungslosigkeit zu versetzen. Unser Blick muß klar, unser Denken stark und dem Eindrucke gewachsen sein.
Wir leben, das heißt: wir sind da, während das Vergangene weder ist noch zurückzurufen ist, so wenig im Leben der Völker als im Leben des einzelnen Menschen. Wir würden gewiß den nicht weise nennen, der sich mit sechzig Jahren zwecklos und nutzlos in die Tage der Kindheit zurücksehnte.
Für die Gegenwart spricht zunächst, verglichen mit einer noch so glänzenden Vergangenheit, daß sich in ihr die Summe unseres Lebens lebendig zusammendrängt, daß sie das Leben des Lebendigen ist und nicht nur das Recht des Lebenden, sondern auch die Pflicht und die Kraft des Lebenden in sich schließt.
Wehe uns, wenn wir Recht, Pflicht und Kraft des Lebenden nicht mehr empfinden oder von dieser Dreieinigkeit keinen Gebrauch machen!
Von diesem uns durch Schicksalsschluß angewiesenen Orte aus, wo Recht, Pflicht und Kraft des Lebenden wirksam sind, darf auch ich mich allerdings vor Ihnen dem Rückblick, dem Einblick und dem Blick in die Zukunft einigermaßen hingeben.
Deutschland, darunter verstehe ich in diesem Augenblick weniger die durch politische Grenzen zusammengeschlossene, von Gebirgen durchzogene, von Strömen durchflossene Landschaft als die untrennbar einige deutsche Welt, die durch den Laut der deutschen Zunge, der deutschen Muttersprache gegeben ist ... dieses wie jenes Deutschland ist durch eine Katastrophe, die wir getrost als ein ungeheures Unglück bezeichnen dürfen, hindurchgegangen.
Indem ich dies sage, fühlen wir alle mit unsäglicher Bitterkeit, unter zahllosen inneren Protesten, dieses über alle Begriffe gehende furchtbare Geschehnis in uns aufsteigen. Es ist so groß, von so übermenschlicher Tragik, daß nur eine notwendige und wohltätige Verflachung uns ermöglicht, davon zu reden, ohne dabei zugrunde zu gehen. Wir sollen leben! Denn wenn dies nicht unsere Bestimmung wäre, gäbe es nach einer solchen nationalen Katastrophe, nach einer solchen Menschheitskatastrophe dafür keine Möglichkeit. Wir alle machen Augenblicke durch, die in Abgründe hineinführen, und wenden uns ab, von Entsetzen gepackt, und wenden uns dann, wie in Flucht, dem Leben und Treiben, der Menschen zu, um abermals und mit ebendemselben Entsetzen zurückzuschaudern: zurückzuschaudern vor menschlicher Empfindungslosigkeit, Vergeßlichkeit, Dünkelhaftigkeit, Unbelehrbarkeit, die der feierlichen Riesengröße des Erlebten ganz und gar unwürdig ist. Hier aber zeigt sich ein Grad der Verflachung, dem wir durchaus nicht das Wort reden.
Ich denke dabei weniger an die Masse. Ein Teil der Gesamtheit aller Länder ist noch heute von dem Nachzittern des großen Erdbebens tief erregt. Ein anderer Teil weiß nichts mehr davon und wird vielleicht nie etwas davon gewußt haben. Es kommt dabei auf Jahrgänge, individuelle Anlage, individuelle Schicksale an. Diese aber sind Legion. Ich denke vor allem an die, die Kopf und Herz der Völker, Kopf und Herz der Menschheit repräsentieren sollten und von denen man sagen müßte, daß sie beides in Wahrheit repräsentieren, wenn man nach der Machtentfaltung urteilen wollte, die sie in den Vordergrund alles öffentlichen Geschehens stellt. Nicht bei der Menge, sondern hier vor allem liegt die Verantwortung. Und darum packt uns Entsetzen an, wenn wir das Larvenhafte hier feststellen.
Wir sind nicht die Larven, von denen Friedrich Schiller redet, und, um weiter mit dem großen Deutschen zu reden, wir sind auch, Gott sei Dank, nicht »die einzig fühlende Brust«. Der Glanz und die Folgen des Krieges von 1870 und 1871 waren leicht zu werten und zu behalten. Aber jene fünf Jahre, in denen der Wagen des Jagernaut zermalmend über die europäische Menschheit gegangen ist, obgleich die Erinnerung daran furchtbar ist, soll noch mehr gepflegt und in einem weit tieferen, weit höheren Sinne für die Nation und Menschheit ausgewertet werden.
Als ich, im wilhelminischen Deutschland in mancher Beziehung als Spielverderber verschrien, von Wien verstanden, zu Ihnen kam und die Gastfreundschaft Wiens und der Akademie der Wissenschaften genoß, da war dies zwar eine Begegnung, wo die Liebe zugegen und der Ernst nicht ferne war. Trotzdem ist das, was uns heute zusammenführt, uns heute bindet, weit inniger. Inzwischen sind wir nämlich, auch ohne Dante, durch Höllen gegangen und versuchen eben, gemeinsam Boden zu gewinnen auf der äußersten Klippe des Purgatorio. Und wie diese Tatsache von der früheren, sonnenbeglänzten sich unterscheidet, braucht nicht gesagt zu werden. Alle unsere menschlichen Angelegenheiten sind dringlicher geworden und diese, nämlich den Berg der Läuterung zu betreten, im Nationalen wie im allgemein Menschlichen die dringlichste.
Dieser Versuch ist es, der uns heute die neuen Weihen gibt und ohne den, sei er auch millionenfach nutzlos wiederholt, der Gedanke der Menschheit nicht denkbar ist.
Aus verzweifelten Höllen durch läuternde Leiden: einen anderen Weg aufwärts gibt es nicht. Und niemand wird meinen, wir hätten die Epoche läuternder Leiden bereits überwunden. Dennoch ist das Purgatorio über das Inferno hoch erhaben, weil mit allen Leiden die Hoffnung auf Erlösung, ja die Gewißheit endlicher Erlösung verbunden ist.
Man würde mich mißverstehen, wenn man den hier ausgesprochenen Gedanken der Läuterung mit der Groteske von Versailles in Verbindung brächte und mit dem dort gepflegten Pharisäertum, in dem eine ganz gewiß noch nie dagewesene Mischung davon zutage trat. Nie hat man ein furchtbares Menschheitsgeschick mit einer so grausamen Farce beschlossen und degradiert. Nein, die uns von dort anempfohlene Buße und Läuterung, Reue und Zerknirschung meine ich nicht. Sie geht uns ebensowenig an wie etwa eine Messe, die von einem Tiger zelebriert würde. Vielmehr fußen wir auf wahrer Einkehr, wahrer Verinnerlichung, um auf diese Weise die verlorene, die besudelte Nationalität, die verlorene und besudelte Menschlichkeit, phönixartig geläutert, wiedererstehen zu sehen.
So kommt es im Nationalen unter anderm darauf an, daß wir unsere Selbstachtung behalten. Schicksale wie das erlebte, wenn sie auch für uns zu einer äußerlichen Erniedrigung ausgeschlagen sind, enthalten nichts, wodurch eine bewußte, einheitlich denkende Nation sich innerlich erniedrigt fühlen kann. Oder sollen wir, durch innere Erbärmlichkeit, uns der Millionen und aber Millionen toter Brüder unwürdig erweisen, die im heroischen Eintreten für die Idee des Vaterlandes, aufgerufen von ihren Führern, ihr Blut verspritzt haben? Ob es auch in der Bibel heißt, auch einem Toten gegenüber, der auferstünde, würden wir unbelehrbar sein: wir werden trotzdem den furchtbar lebendigen, betäubenden Entrüstungsschrei dieser zahllosen Blutzeugen nicht überhören, wenn uns würdeloser Kleinmut anwandeln sollte. Nochmals also, wir sind äußerlich besiegt, aber innerlich nicht erniedrigt worden. Das aber wäre kein starkes Volk, das sich von dem Verdienste seiner heroischen Leistung durch Geschwätz etwas abmarkten oder sich das stolze Bewußtsein davon von irgendwem stehlen lassen wollte.
Wir sind und bleiben als Volk, in der Gemeinsamkeit unserer Sprache, Art und Gesittung, so stark, widerstandskräftig und groß, wie wir nur jemals gewesen sind. Aber die neue Phase, die Phase der Verinnerlichung, stellt an unser Deutschtum eine weit höhere Anforderung als die wilhelminische Phase. Diese rechnete noch durchaus mit dem beschränkten Untertanenverstand. Ob für Zeit oder Dauer, im Augenblick ist nur, ganz auf sich selbst gestellt, der Civis Germanus übriggeblieben. Der nackte, auf sich selbst gestellte, sei es für Zeit oder Dauer mündig gemachte Deutsche trägt heute die Verantwortung, die man ihm 1914 ganz gewiß nicht zuschreiben konnte. Was damals beschlossen, ausgeführt und gründlich verfehlt wurde, geschah ohne ihn. Aufgerufen und zu ungeheurem, tätigem, aufopferungsfähigem Idealismus hingerissen, war doch dafür gesorgt, daß er letzten Endes gezwungen, gebunden und automatisch handeln mußte. Sein Idealismus wurde nicht höher gewertet als eine durch den Generalstab, und zwar lange nicht genug ausgenützte Äußerlichkeit, die übrigens nach und nach, zum Schaden der Machthaber, gänzlich ausgeschaltet, systematisch vernichtet wurde. Heute nun, bis auf weiteres, haben wir nur mehr das nationale Ideal. Der Deutsche sieht über sich im Augenblick keinen anderen als Gottes Thron. Und deshalb muß dieses nationale Ideal auf neue, freie und tiefere Weise gepflegt werden.
Das höchste moralische Gebot, dem der Einzelne, ebenso wie ein Volk, unentwegt nachleben muß, heißt: Werde wesentlich! Je mehr der Deutsche zum Deutschen wird, je mehr wird das deutsche Volk ein deutsches und starkes – je mehr wird Deutschland Deutschland sein.
Sollen wir es uns verhehlen, daß wir heute in gewissem Sinne bessere Deutsche sind als vor zehn Jahren? Es war im Grunde kein großes Verdienst, das mächtige, glückliche, üppige und durch glanzvolle Aufreizungen und dramatische Zwischenfälle der Repräsentation unterhaltsame Deutschland zu lieben. Anders steht es mit der Liebe, die Deutschland heute liebt. Diese viel, viel stärkere Liebe, die sich einem gar nicht mehr glanzvollen, äußerlich furchtbar mißhandelten, geplagten und kranken Deutschland zuwendet, ist erst aus dem beinahe gebrochenen deutschen Herzen als eine früher versteckte Wunderblüte hervorgebrochen. Für diese echte, innigste und tiefste Liebe, diese grundgründliche Liebe, hat die wilhelminische Zeit nicht gerade viel Sinn gehabt. Und doch ist sie der höchste deutsche Besitz, die Perle, die, in der Asche des zusammengebrochenen Hauses gefunden, den Schatz bedeutet, der dem verarmten Besitzer ermöglicht, ein besseres Anwesen aufzubauen.
Ich werde es niemals vergessen: Es war in den Tagen, als unsere Armeen zurückfluteten, der Kaiser das Land, die deutschen Fürsten ihre Herrschersitze verlassen hatten; es war in den Tagen, als Deutschlands Elend den tiefsten Grad erreicht hatte, seine Ohnmacht und, sagen wir ruhig, seine Schmach nur zu sehr eine vollständige Hoffnungslosigkeit begründete, es war in diesen Tagen, sage ich, als wir von jener unzerstörbaren, grundgründlichen Liebe, von der ich sprach, den wiederum ersten, mir fortan unvergeßlichen Beweis erhielten. Diese Woge köstlicher Liebeskraft ging von Deutschösterreich aus. In den Augen unserer Gegner nicht halb so belastet als wir, bekannte es sich trotzdem zu uns, ohne Rücksicht darauf, daß es seine Angelegenheiten in den Augen der Feinde dadurch verschlechterte, ohne Rücksicht darauf, daß Reich und Volk, zu dem es sich bekannte, im Augenblick des Bekenntnisses besiegt, geschlagen, zertreten, mit Schmach und Schande überhäuft am Boden lag. Wann wäre je die Sprache der Liebe, die Sprache des Blutes so machtvoll, so glorreich lebendig geworden! Hier meldete sich ein Gefühl, mit nichts verwandt, was wir bis dahin an Äußerungen der Volksseele erlebt hatten, die ja leider ein Spielball dämonisch und zynisch rechnender Willkür geworden war. Die meisten dieser Äußerungen vertrugen es nicht, auf Herz und Nieren, das heißt, auf ihre letzte Echtheit geprüft zu werden. Weil aber die Woge jenes Gefühles, von dem ich sprach, durch und durch elementar und lauter war, verband es mit jenen anderen Manifestationen nicht der geringste Verwandtschaftszug. Dagegen wird diese Woge, dieses kraftvolle, mutige Gefühlsmanifest, dieses elementare deutsche Bekenntnis eher dem Liebesschrei eines Kindes, dem Liebesmut eines Kindes zu vergleichen sein, dessen Mutter, von Feinden niedergestoßen, von Feinden umringt, mißhandelt, ja zertreten am Boden liegt.
Ich vergesse nie, welche Erschütterung dieser Ruf in mir hervorbrachte. Fast ging es mir einen Augenblick lang durch den Sinn, als habe die Vorsehung nur darum so gigantische Leiden über unser Volk verhängen müssen, um diesen Gefühlsquell zum Fließen zu bringen. Und die Erkenntnis gebar sich in mir, mit Frohlocken gebar sie sich in mir: Deutschland ist nicht tot, es lebt, es wird weiterleben, es ist auch nicht arm, es ist reich, weil es die Perle, seine beste Perle das heißt sein echtes, innerstes, unversehrtes, unzerstörbares Wesen im Schutt des Weltbrandes wiedergefunden hat.
An dieses echte, innerste, unversehrte Wesen unseres Volkstums wollen wir uns von nun an unlöslich anklammern. Wir können es tun durch Pflege der mitgebornen Treue, durch Ablehnen alles dessen, wodurch es, renommistisch entstellt, zur Entfachung innerer Zwietracht verwendet wird. Wir können es tun durch Ausschaltung jedweder Überheblichkeit, die ihm bei anderen Völkern geckenhaft falsche Geltung verschaffen will. Und lassen wir einmal, auch im ernsthaften Falle, die Welt auf sich beruhen. Es kommt zunächst darauf an, daß wir selber und nicht die Welt am deutschen Wesen genesen. Hoffen wir, daß die Welt auch ohne uns genesen kann. Und ist die Welt einmal kerngesund, der Segen wäre so allgemein, daß es gar nicht mehr darauf ankäme, ob wir oder wer immer ihr Arzt gewesen.
Es würde unmöglich sein, dieses echte, innerste Wesen unseres Volkstums und seinen unendlichen Reichtum in seiner Ganzheit zum Bewußtsein zu bringen, wenn nicht nach dem Grundsatz, der auch im Teile das Ganze sieht. So war es gegenwärtig, war da in seinem deutschösterreichischen Bekenntnis zu ihm. So konnten wir es umschreiben, indem wir feststellten, welche Eigenschaften in seinem Dienste nicht tauglich sind. Trotzdem zum Beispiel ein Deutscher, wie es heißt, Berthold Schwarz, das Pulver erfand, so werden wir doch nicht in der Kanone, in Krieg und Kriegsgeschrei einen besonders wertvollen Teil deutschen Wesens erblicken. Der Militarismus war nicht spezifisch deutsch, sonst wäre er nicht ebenso russisch, ebenso französisch gewesen. Er ist ein europäisches Gespenst, das durch das Licht der Vernunft in seine Abgrundshöhle gescheucht werden muß, und wir bedauern die Völker, die noch heute unter ihm seufzen. Es ist eine vollständig überflüssige Angstgeburt, die durch Angst allerdings eine furchtbare Realität erhält, durch die es seine Erzeuger knechtet. So ist meine Meinung. Andere mögen anderer Ansicht sein.
Wenn nach allem Erlebten der Kern des deutschen Wesens unversehrt geblieben ist: der europäische Militarismus und seine Vertreter haben gewiß kein Verdienst daran. Unbeachtet und still hat während seiner Herrschaft in dem geheiligten Raume zu Weimar, Goethes Arbeits- und Sterbegemach, der Teller mit Erde gewartet, den man sich gern als ein Symbol deutschen Wesens vorstellen wird. Erde hat der trotz allem olympische Greis und Mann wenige Tage, vielleicht wenige Stunden vor seinem Tode nachdenkend geprüft, jene Erde, aus der er geboren und in die er hinabsteigen sollte. Erde ist es, Muttererde, aus der wir genommen sind, zu Erde, zu Muttererde sollen wir wieder werden: Aus der Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden! Dies Wort, im Sinne einer Muttererde der Seele und des Geistes verstanden, möchte ich jedem heutigen Deutschen zurufen. Damit ist auf die Wiedergeburt des deutschen Wesens, die Wiedergeburt im deutschen Wesen hingewiesen.
Und da wir nun den Namen eines Erlauchten, den Namen Goethe, einmal genannt haben und gerade in ihm die umfassendste und herrlichste Inkarnation deutschen Wesens wunderbar Ereignis geworden ist, wird man sich gern dieses Wesen an ihm verdeutlichen. Dies hohe Beispiel wird uns auch lehren, wie weit das Gebiet des deutschen Wesens ist und, wenn auch vom festen Standort aus, wie allseitig über politische Grenzen hinausreichend.
In diesem Saale ist schwerlich jemand, der diesen wahren deutschen Fürsten so wenig kennt, daß ihm mein Hinweis allein nicht genügen sollte, um alles vom deutschen Wesen und seiner Weite Gesagte mit dem inneren Auge zu sehen. Im Bekenntnis zu Goethe liegt unter anderm zugleich die Absage gegen den Mißbrauch des Wortes »deutsch«. Entweder man ist deutsch, oder man ist es nicht. Und jemand, der es nicht ist, wird es nicht dadurch, daß er die Worte national und deutsch immerwährend im Munde führt. Wer aber deutsch ist, bleibt es, auch wenn er ohne Zunge geboren sein sollte. So war Goethe deutsch. Freilich daß er eher mit tausend Zungen als ohne Zunge geboren war.
Aus Erde bis du genommen, zu Erde sollst du werden: aus deutscher Muttererde bist du genommen, zu deutscher Muttererde sollst du werden! Dies Wort gilt auch im Geistigen. Und deutsches Wesen heißt nichts als deutsche Geistigkeit. Es gibt also einen Humus, der diese erzeugt, und einen Humus, den diese erzeugt. Humus ist aber diejenige Erde, in der Anorganisches durch Organisches umgebildet ist und so wiederum der Mutterboden neuen organischen Lebens wird. Man soll auf diesen Mull, auch wo er unser Pflanzenleben hervorbringt, nicht verächtlich herabblicken. Nur Unwissenheit kann das tun, weil ihr verborgen ist, welche Schöpfungswunder er in sich schließt. Dies fassen wir heute als den Sinn des Tellers mit Erde, den Goethe wenige Stunden vor seinem Tode denkend betrachtet hat und der noch heute in seinem Arbeits- und Sterbezimmer zu sehen ist.
Der Schatz im Acker, er ist es, um den sich noch heute, nach Jesu Beispiel, alles höhere Bemühen der Menschheit sowie der Nationen bewegen muß. Und wo wäre ein Wurzelsystem je in dieser Beziehung so alldurchdringend erfolgreich gewesen als das ebenjenes Baumes, der mit dem Namen Goethe bezeichnet wird. Er hat die edelsten Säfte, das edelste Mark aus dem Mutterboden gezogen und in Jahresringen ohnegleichen, in Blättern, in Blüten ohnegleichen zutage gebracht.
Deutsches Wesen heißt unter anderm auch, sich der zahllosen Emanationen deutschen Wesens bewußt werden. Alles stirbt, soweit es nicht in sich fortzeugend ist. Sofern es nicht Pflege erhält, wird es dahinsiechen. Darum heißt es, alle Hinweise Goethes, Wielands, Herders und vieler anderer Großer benutzen, Erwin von Steinbachs, des Münsters in Straßburg so wenig vergessen als des Sebaldusgrabs, Dürers so wenig als Schongauers. Das Feld ist weit, der Schatz Gott sei Dank unerschöpflich groß: in der Architektur, in der bildenden Kunst, der Dichtkunst und – eine besondere Unendlichkeit allerköstlichster deutscher Art – in der Musik. Endlich in der Philosophie und Wissenschaft.
Und hier streifen wir das Problem der Schule, die kommen muß. Sie muß mit der Ehrfurcht beginnen, der Ehrfurcht vor deutscher Geistigkeit. Sie muß nach Tiefe, Breite und Höhe einen einheitlichen Begriff davon vermitteln. Sie muß diesen Begriff vermitteln, trotz der unseligen vertikalen und horizontalen Spaltungen des deutschen Volkskörpers, trotz der unseligen Spaltungen der Volksseele. Von allen Seiten müssen sich Hände winken, Hände reichen, Zerrissenes muß verknüpft werden. Die tausendfältige Aufgabe der deutschen Schule heißt in einem bedeutenden Teil ihres Wirkungsgebietes: Wiederentdeckung, Wiederanknüpfung. Weil unser wahrer Besitz, unser wahrer Schatz zum größten Teil von uns losgetrennt, vergraben und begraben ist, brauchen wir Taucher, Brunnenfinder und Schatzgräber. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und die Schule ist wesentlich eine Geistigkeit. Alle großen Deutschen waren Wiederentdecker, Anknüpfer, Brunnenfinder und Schatzgräber. Die deutsche Schule muß damit anfangen, all dies zu sein, um überhaupt wieder zu sein. Es ist nicht getan allein mit dem Gedanken der platten Nützlichkeit. Es nützt dem Menschen nichts, im höhern Sinn, sofern er die ganze Welt gewinnt und nimmt doch Schaden an seiner Seele. Die Schule hat eine gewaltige, heilige Aufgabe. Sie muß dahin streben, etwas aufzubauen, was im Sinne einer kommenden Kirche ist. Es ist ein fast unerreichbares Ziel, aber um so wichtiger, daß man immer aufs neue unermüdlich darauf hinweise.
Und übrigens, dieses ideelle Streben entbehrt auch nicht einmal der Nützlichkeit. Die Einheit des Volkes, die stark macht, ist die gemeinsame Geistigkeit. Und ohne sie, was muß geschehen? Wir müssen notwendig ohne sie, trotz unserer märchenhaften und allgepriesenen Zivilisation, unter die Tierheit herabsinken. Schon heute kommt man nicht selten in den Fall, sich aus dieser seelenlosen Epoche inbrünstig nach dem sogenannten finsteren Mittelalter zurückzusehnen.
Das deutsche Sprichwort sagt: »Friede ernährt, Unfriede verzehrt.« Friede bedeutet Kultur, und Kulturaufgaben sind Friedensaufgaben. Wir lassen uns von diesen Aufgaben nicht abbringen, trotzdem es, um mit dem heiligen Augustinus zu reden, noch immer so aussieht, als ob ein Wettstreit zwischen Krieg und Frieden um die Palme der Grausamkeit stattfände und als ob unser Friede die Palme der Grausamkeit davontrüge.
Indem ich schließe, bitte ich Sie, an meine einfach gemeinten Worte ebendiesen einfachen Maßstab zu legen. Ich habe weder die Fähigkeit noch den Ehrgeiz, in diesen Gedankengängen neu, das heißt originell zu sein. Ich würde ja allerdings auch wünschen, daß mehr Einfachheit, mehr Simplizität in das immerwährend öffentlich tagende deutsche Konzilium hineinkäme. Es ist aber leicht möglich, daß ich nur aus einer mir eigenen Schwäche eine Tugend machen will. Wie es auch sei: es genügt mir, wenn Sie aus meinen Worten meine Liebe zum Deutschtum, meinen unzerstörbaren Glauben daran und meinen innigen Dank gegen Sie, meine Gastfreunde, heraushören.
Ich danke Eurer Magnifizenz, danke dem illustren Kreise der Wissenschaft und Kunst, danke der studierenden Jugend, danke Ihnen allen für die warme und ehrende Aufnahme.