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Rede zur Eröffnung der Goethe-Woche in Bochum am 21. Oktober 1928.
Zum zweiten Male bin ich heute Gast der Stadt Bochum, und zwar im Gefolge von Heroen, die uns vorangeschritten sind. Wie man Götterbilder von einem Orte zum andern trägt, so hat man im vorigen Jahre Shakespeare von Weimar hierhergetragen, ich möchte sagen, in Prozession, und das gleiche tut man heut mit Goethe, der ein noch echterer Weimaraner ist.
Der erste dieser Halbgötter hat zum Menschlichen, nicht aber zum Bürgerlichen Bezug. Seine Epiphanie ist die allerschmerzlichste: er endet als Timon von Athen unter jener markerstarrenden Dialektik gegen das Wesen des Menschen, häßlich, schlecht, böse von Jugend auf, die nicht ihresgleichen hat in der Weltliteratur. Wie groß muß eine Liebe gewesen sein, die so an sich verzweifelt und in Menschenverachtung ausgeschlagen ist! Dies ist die niemals zu überbietende Abrechnung mit dem Niederen im Menschen, ebensowenig zu überbieten wie die Abrechnung Hiobs oder des gefesselten Prometheus mit Gott.
Der zweite dieser Halbgötter ist ein Lar. Laren sind, wie wir wissen, gute Genien, Hüter des Herdes, wohlwollende Seelen edler Verstorbener. Und es handelt sich hier um einen, den man unter die Lares publici einordnen muß, deren reines und mächtiges Wohlwollen nicht nur einer Familie, sondern einem ganzen großen Volke zugute kommt.
Der Besuch des mächtigen Dämons, des hamletisch an seiner Mission verzweifelnden Heilands an dieser Stätte war bedeutungsvoll. Aber an die tiefe, warme und bleibende Bedeutung des zweiten Besuches reicht er nicht heran.
Ich brauche nicht zu sagen, daß ich kein Goetheforscher bin. Niemals war mir Goethe etwa das Objekt eines Studiums. Immer habe ich dagegen seines hohen Umgangs wie eines Lebenden genießen dürfen. Ich habe ihn weder durch Analyse im einzelnen zu verstehen noch synthetisch im ganzen zu begreifen versucht, weil schließlich das konstruktive Etwas, das ich damit gewonnen hätte, mir die Lebenswärme seiner Nähe nicht hätte ersetzen können. Und übrigens sage ich mit ihm selbst: »Individuum est ineffabile.«
Am liebsten aber nähere ich mich ihm nur menschlich und bürgerlich. Und auf die Gefahr hin, Sie zu erschrecken, muß ich doch sagen, in dieser Hinsicht ist das »Hm hm, ja ja! Hm hm, ja ja!«, womit er die Auskünfte seiner eng neben ihm auf dem Sofa festgenagelten Besucher entgegennahm oder begleitete, eines meiner liebsten Zitate geworden. Hm hm, ja ja! Hm hm, ja ja!
Wenn die Goethe-Gesellschaft ihre Tagung von Weimar nach Bochum verlegt, so möchte man gerne glauben, daß der Segen Weimars gleichsam überfließt. Falls eine solche Ortsverlegung einen Sinn haben soll, so ist es der einer Mission. Man will das hohe Kulturgut, das uns Deutschen mit Goethes Hinterlassenschaft in den Schoß gefallen ist, mehr und mehr zum Gemeingut machen. Man trägt es mitten in diese gigantische Welt der Arbeit hinein, damit es sich mit ihrer Atmosphäre verbinde und denen, die darin leben, irgendwie zum Besitz und zum Segen werde: denn ein solches Mitteilen, ein solches Wirken ins Allgemeine entspricht dem Geist der Zeit. Es kann heute nicht mehr genügen, einen ausschließenden Kultus zu treiben, der sich, im Kreise von gelehrten Meistern, begeisterten Jüngern und Jüngerinnen an seinem Objekte sättigt oder verzückt, sondern man muß auch immer und überall dem Volke geben, was des Volkes ist, der überall aufdringenden, seelenhungrigen, bildungsfordernden Jugend Genüge tun, die in die warme Sphäre der Humanität aufgenommen werden will.
Dieses Drängen ist wundervoll, noch wundervoller ist höchstens die schöne Pflicht, ihm entgegenzukommen in der Ausübung.
Es ist wirklich Zeit, daß der Segen Weimars nun endlich einmal überfließt. Nicht nur soweit er Goethe heißt, sondern das ganze große Vermächtnis, Herder vor allem inbegriffen, verlangt nach Ausschüttung. Mögen reife und gebildete Männer zusammentreten, eine Inventaraufnahme der tot in den Schatzkammern liegenden Erbmassen durchsetzen und die Verteilung vornehmen, und ich befürworte zwischen Weimar und den Schulen das weitestgehende Konkordat. Die Lehrer der Jugend aber werden zu bedenken haben, ob, in bezug auf diesen köstlichen Seelenbesitz, dem Geiste der Liebe und Ehrfurcht nicht der Vorzug einzuräumen ist gegenüber dem einer allenthalben sterilen Kritik, die oft, im engen Gesichtskreise ausgeübt, schlechthin kulturfeindlich ist.
Wenn die Stadt Bochum der Goethe-Gesellschaft ihre Tore weit und gastlich geöffnet hat und sie, die Gesellschaft, durch diese Tore ihren Einzug hält, so ist das in Richtung meiner Gedanken ein grundsätzlicher Schritt. Schiller hat seine Volkstümlichkeit. Die Goethes, wenn sie eines Tages erreicht ist, wird eine noch tiefere, allgemeinere sein. Schon spürt man allenthalben, unsichtbar-sichtbar, die Generationen, die ihr entgegen wachsen. Ich werde sie kaum noch erleben, aber für die Zukunft prophezeie ich Goethe eine Volkstümlichkeit wie in den Vereinigten Staaten die Benjamin Franklins, falls wir nicht in Wahrung unseres Selbstbestimmungsrechtes wieder nachlässig und gleichgültig werden. Der Arbeiter fand bisher den Weg zu Goethe nicht. Er pflegt ihm gelegentlich in seiner derben Art schlimme Namen zu geben, nennt ihn etwa Fürstenknecht. Aber Goethe war niemals ein Fürstenknecht. Knechtschaft zeigt sich vor allem im Geistigen. Und wer besaß je hierin eine größere Kühnheit, Freiheit und Unabhängigkeit! Nein, irgend etwas von Knechtsgesinnung wird sich in seinem Vermächtnis nicht nachweisen lassen, höchstens daß er ein Diener – freilich kein Knecht! – des Volkes gewesen ist. Oder würde es nicht organisch sein, wenn man mitten auf die Märkte dieses mächtigen Industriegebietes Goethedenkmäler stellte, eines Mannes, der »Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre« geschrieben hat und der wie wenig andere ein Arbeiter gewesen ist? Würde nicht jeder, der die Früchte dieses Lebens als eines langen Arbeitstages kennt, wissen, daß seine Teilnahme mit allem, was in den Tiefen der Schächte, in den Schmelzhütten, Hochöfen und Eisenhämmern geschieht, verbunden ist, daß es nichts gibt, wohin sein praktisches Verstehen und fördersames zustimmendes Denken nicht dringen würde? Ja, stellen wir ihn ganz niedrig auf den Markt, diesen göttlichen Mann – so etwa, wie Goldoni in Venedig steht –, diesen Arbeiter unter Arbeitern, daß ihn jeder von ihnen grüße im Vorübergehen, Worte im Geiste mit ihm wechsle und ihm die Hand reiche. Denn das ist es: er führt in die Arbeit hinein und dann auch über die Arbeit hinaus.
Eines Tages wird man es einsehen, daß Goethe einer der besten Erzieher der Deutschen ist. Der Mensch ist letzten Endes das Material seiner Bildnerkraft: »Daß ich mit Göttersinn und Menschenhand vermöge zu bilden, was bei meinem Weib ich animalisch kann und muß.« Nirgends zersprengt Goethe den Rahmen der Kultur oder des Nur-Menschlichen. Darin schreitet er fort, darin wünscht er das Fortschreiten aller, darin ist er gläubig, das heißt Optimist. Was ihm am Herzen liegt, sind alle Möglichkeiten menschlicher Steigerung. Zu diesem Zwecke hat er für sich und andere eine Lebensspanne unermüdlich ausgenützt.
Was Goethe schon in jungen Jahren von ähnlichen Feiern wie der unseren dachte, zeigen gewisse burschikose Sätze zu einem Shakespeare-Tag. Diese Großen schreiten mit Siebenmeilenstiefeln, sagt er ungefähr, die andern machen mit Wanderstäben sich auf. Aber jeder von diesen emsigen Stabwanderern »bleibt unser Freund ... unser Geselle, wenn wir die gigantischen Schritte jenes anstaunen und ehren, seinen Fußtapfen folgend ... Auf die Reise, meine Herren! Die Betrachtung so eines einzigen Tapfs macht unsere Seele feuriger und größer als das Angaffen eines tausendfüßigen königlichen Einzugs.« Und wir können weiter mit dem jugendlichen Goethe über den heute durch sein Vermächtnis wirkenden sagen: »Wir ehren heute das Andenken des größten Wandrers und tun uns dadurch selbst eine Ehre an. Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.« Heute abend werden wir sozusagen den ersten Tapf dieses großen Wanderers sehen in der Urform des »Götz von Berlichingen«.
Ich erhebe mein Glas und trinke auf die eisernen Pulse der gastlichen Stadt Bochum und füge hinzu: »... es ist vorteilhaft, den Genius bewirten: gibst du ihm ein Gastgeschenk, so läßt er dir ein schöneres zurück.«