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Goethe

Rede, gehalten an der Columbia-Universität zu New York am 1. März 1932.

Der, den Sie zum Redner Ihrer Goethe-Feier ausersehen haben, ist in Ihren Augen nur durch das Verwandte seiner Bestrebungen und seiner Natur dazu berufen. Er ist weder Literarhistoriker noch gar Goethephilologe, ebensowenig philosophischer Betrachter, im Sinne Emersons und am allerwenigsten ein Redner.

Aber nicht nur aus diesem Grunde wird seine Aufgabe eine fast erdrückende, sondern auch darum, weil er die Seele Deutschlands, verkörpert in einem Namen und einer Person, vor der Weltmacht der Vereinigten Staaten vertreten soll. Dies würde zweierlei voraussetzen: ein universelles Begreifen des universellen Objekts und eine Kraft des Worts, die ein solches Objekt gegenwärtig zu machen imstande wäre. Ich aber befinde mich auch ohne diese Eignungen auf der Rednerbühne.

So wende ich mich denn zu dem wenigen, was ich statt dessen einzusetzen habe. Es dürfte mein ein und alles sein, nämlich: ein starkes Bewußtsein von Goethes Wesen und Person, bedingt durch Heimatsgemeinschaft, Sprache, verwandte Art und verwandtes Bürgertum, bedingt durch das Verhältnis von Eltern und Verwandten zu Goethe, das ihn mir schon als Kind gegenwärtig machte wie einen ehrfurchtgebietenden väterlichen Freund. Daß dieser Goethe schon im Jahre 1832 gestorben war, wußte ich und wußten meine Geschwister im Jahre 1869 nicht. Und so kannte und kenne auch ich ihn nur als Lebenden.

Und dieser Lebende, dessen »Erlkönig« der Knabe mit Schaudern hersagte, zog auch den Jüngling an. Es sproßte, wie man sagt, noch nicht der erste Bartflaum um mein Kinn, als ich mit meinem Bruder Carl gemeinsam in Jena die Universität besuchte. Sie wissen, daß Jena nicht weit von Weimar gelegen ist, beides Orte, die man als die wesentlichen Schauplätze von Goethes irdischem Wirken ansprechen kann.

Nach Platon haben gewisse Orte dämonische Natur, was mich bereits die ersten Wochen in Jena lehrten. Dieses Thüringer Städtchen war damals noch wie ein erweiterter Garten des Epikur. Die schwarze, viel besungene, schweigende Saale durchrinnt ein helles und freundliches Geisterreich, darin die Lebenden mit den Abgeschiedenen in heiter-innigem Verkehr stehen. Die Manen Goethes, Schillers, Alexander von Humboldts, Fichtes, Schellings, Hegels erscheinen hinter jedem Katheder, sitzen unter den Studenten in den Hörsälen, spazieren, Hände auf dem Rücken, Lebende unter den Lebenden, in den Straßen und im Stadtpark an der Saale, dem sogenannten Paradies, umher und machen einander den Raum nicht streitig.

Der Goethe von Weimar ist nicht der jenensische. Der Pilger, der das Weichbild von Weimar betritt, fühlt zunächst den Minister mit dem Ordensstern auf sich wirken. Der Goethe von Jena ist er selbst, allem Menschlichen nah und zugänglich. Es war nur ein Allgemeingefühl, das man von seinem Dasein hatte, durch seine persönliche Aura bedingt, die sich allem Traulichen und Vertraulichen dieses unendlich lieblichen Saale-Athens mitteilte. Man sah das Gasthäuschen, in dem sich der Minister einmal wochenlang vor der Welt verbarg. Man ging bei Mondschein die nebelnden Leuthrawiesen entlang, die ihm den »Erlkönig« geschenkt hatten.

Es war eine mysteriöse Nacht, die mich zum erstenmal auf den allen echten Deutschen geheiligten Boden von Weimar brachte, auf dem sich vor anderthalbhundert Jahren Männer, darunter Goethe, zusammengefunden hatten, die man die Großen von Weimar zu nennen wohl berechtigt ist. Ströme des Geistes sind davon ausgegangen, dahinein Geister aller Nationen ihre Fackeln getaucht und entzündet haben.

Es war eine mysteriöse Nacht! Stellen Sie sich ein kleines Gasthaus vor, das am Waldrand auf einer Höhe gelegen ist! Nehmen Sie an dem Trinktisch unter uns Studenten Platz, wo man bei heiteren Reden und Gesängen bis Mitternacht pokuliert! Elektrisches Licht gibt es nicht, aber es werden Ihnen beim Verlassen des Gasthauses – der Weg ist steil, und die Nacht ist schwarz – besonders präparierte Kienfackeln eingehändigt. Solche Studentengelage bedeuteten uns damals Begeisterung: in dieser Begeisterung fassen Sie mit uns den Entschluß, trotz Wind und Wetter nach Weimar zu wallfahrten, was bei der Entfernung von über zwanzig Kilometern eine Aufgabe ist! Bei Morgengrauen marschieren Sie, körperlich abgeschlagen, geistig frisch, in die Stadt. Nun befinden Sie sich auf klassischem Boden.

Es folgt ein mysteriöser Morgen einer mysteriösen nächtlichen Wanderung und ein ebenso mysteriöser Tag. Wir sehen Goethes Wohnhaus am Frauenplan, wir sehen das andre, das Gartenhaus. Da wie dort haben sich Goethes Enkel, die noch leben, eingesargt. Die Fenster sind durch Läden verschlossen, von den menschenscheuen Bewohnern werden die Haustüren nur den Lieferanten von Lebensmitteln halb geöffnet. Jedenfalls geht so das Gerücht. Der Gedanke an diese welt- und menschenscheuen Sonderlinge, in denen das Goethe-Blut verebbt, macht die graue, winterliche Stadt nicht freundlicher und breitet über Goethes lebendiges Andenken einen trüben Schleier aus. Es wird geraunt, die Häuser, besonders das Haus am Frauenplan, enthielten Wunderdinge, aber erst nach dem Tode der Enkel könne man hoffen, sie der Allgemeinheit aufzuschließen.

Dieser Tag, der mit einem Besuch in der Fürstengruft endete, darin Goethe und Schiller bestattet sind, hat mir Goethes Tod eigentlich erst zum Bewußtsein gebracht. Und wenn Sie sich mit mir in diesen Tag hineindenken, so werden Sie finden, daß er einer Totengedächtnisfeier ähnlich sieht. Verweilen wir einen Augenblick! Gedenken wir einfach des Abgeschiedenen, und zahlen wir schweigend unseren Tribut an den innersten Sinn der feierlichen Stunde, die uns vereint ...

Dann treten wir ins Leben zurück.

Das eben Berührte erlebten wir im Jahre 1883. Schon im Jahre 1885 taten Läden, Fenster und Türen des Hauses am Frauenplan sich auf, die frische Luft der Zeit konnte eindringen, der Muff und Moder eines stockenden Magazins, einer durcheinandergehäuften Hinterlassenschaft wurde aufgelöst und hinweggefegt, und gleichsam ein großes Fiat der Goethe-Liebe weckte verstaubte Sammlungen von vielerlei Objekten und Scharteken zu erneutem geistigem Dasein auf: ein zauberhafter Vorgang, wie er sich wohl selten irgendwo in der Welt ereignet hat. Man könnte ein Beispiel in dem qualmenden Zustand eines flammenlosen Brandes finden, der im nahezu luftdicht abgeschlossenen Innern schwelt und, durch plötzlichen Zutritt von Licht und Luft zu gewaltigen Flammen befreit, sich ausbreitet, weithin die Nacht durchdringt und erhellt. Nur ist dieses wiedererstandene Feuer des Geistes durchaus nicht zerstörend, sondern allenthalben schöpferisch.

Vergessen wir dieses ins Allgemeine gehende Bild!

Wir überspringen dreieinhalb Jahrzehnte, finden uns abermals in Weimar und werden in Goethes Wohnhaus eintreten, das, obgleich Nationalmuseum, heute immer noch nichts weiter als Goethes Wohnhaus ist. Es ist seinerzeit Goethen von seinem Freunde, dem Herzog Karl August, geschenkt worden. Goethe hat eine schöne, breite, leicht zu ersteigende, unverhältnismäßig große Treppe eingebaut, was einer Liebhaberei von ihm zu entsprechen scheint. In den übrigen Räumen überläßt sich Goethe dem spielerischen Empire, soweit es der hochbürgerlichen Staffel, die er erstiegen hat, dienstbar wird. Hier fügt er sich überall ins Gegebene. Wohinein Goethe nie zurückfällt oder vorschreitet, ist das Barock, das sogar einen Shakespeare gefangenhält.

Aber da findet sich schon auf der Treppe etwas Seltsames. Wiederum viel zu große Abgüsse für den verhältnismäßig kleinen Raum stehen auf der Treppenruhe: Abgüsse griechischer Bildwerke, ein sitzender Bluthund der Artemis und der sogenannte Faun vom Belvedere. Weiter oben die Gruppe der Dioskuren, die, sagen wir ruhig mit einem Lieblingswort Goethes und seines Lehrers Winckelmann, dem Treppenhaus eine Großheit mitteilen. Sie zeigen weder den Staatsmann noch den Patrizier, sondern den einmaligen, eigentümlichen Menschen, der damit eine Dominante seiner Einmaligkeit ausspricht: diesmal im ästhetischen Kultus griechischer Vorstellungs- und Gestaltungswelt wurzelnde Naturverbundenheit.

Von diesem Hauch der Großheit in den Propyläen Goethescher Welt einigermaßen kühl und doch lebendig angeweht, müssen wir es bewenden lassen: er ist peripherischer Natur. Wir wollen zum Zentrum des Goethehauses durchdringen, das ja irgendwie ein Symbol und Bild der Seele seines Besitzers ist. Wir unternehmen diesen Versuch, um nicht dem aussichtslosen anderen zu verfallen, der die unzähligen, wipfelhaften Verzweigungen dieses unendlichen Geistes sich zu verfolgen bemüht, was notgedrungen zumeist in der Leere endet. So schreiten wir denn über ein Salve! auf blauem Grunde hinweg in Gemächer, ausgestaltet in kühlem Empire, mit der Hoffnung, den Dichter darin zu finden. Etwas anderes als seine Nähe erhoffen wir nicht. Aber er wird uns nicht gegenwärtig. Erst, von Ehrfurcht zurückgehalten, an einer vor uns offenen Tür, erblicken wir einen schweigenden alten Mann, in einem kleinen Gemache sitzend. Die düstere Kammer, obgleich ohne Deckengewölbe, erinnert Sie sofort an das »enge, gotische Zimmer«, in das die Tragödie »Faust« uns unmittelbar nach dem Vorspiel führt. Sie hat zu dem übrigen Hause keinen Bezug, Sie werden eher an einen kleinen Kramladen, ein Apothekerstübchen mit Schüben, Fächern und einigen Folianten, auch wohl an eine Alchimistenküche erinnert. In der Tat, diese faustische Kammer, dieses wesentlich gotische Podest, diese mittelalterliche Mönchs- und Gelehrtenzelle ist Goethe als eine Art Urzelle treu geblieben, wie und wohin er sich außer ihr auch immer bewegen mochte. Sie blieb ihm im Leben und im Tode treu.

Goethe ist Faust, wie niemand bestreiten wird, wenn auch Faust nicht überall identisch mit der Persönlichkeit Goethe ist. Dieser Goethe verstand sich unwillkürlich und willkürlich als Faust, wo und wann er sein tiefstes Leben lebte. In den Wohn- und Repräsentationsräumen empfing er viele Besucher, darunter die Träger größter Namen der damaligen Welt. Ganz anders geartet waren die, die er in seinem Fauststübchen empfing. Der Arzt und Zeitgenosse Goethes, Carl Gustav Carus, zugleich Dichter und Maler, hat eine Abhandlung, »Goethes Dämonen«, verfaßt. Hier besuchten Goethe seine Dämonen. Es waren keine anderen als jene Dämonen, die man auf Notre Dame de Paris und um jede Kathedrale, jeden gotischen Dom gestaltet sieht. Es war überwundenes und entstelltes griechisches Heidentum des Mittelalters, dem bodenständigen, europäisch-nordischen Heidentum und seiner Dämonen- und Götterwelt vermählt. Und es waren Geister, wie sie in jenen geheimnisvollen Büchern spukten, denen wir noch heut in der Bodleiana zu Oxford, wo sie mit Ketten angeschlossen sind, begegnen. Wenn aber dies die Wahrheit wäre, so hätte Goethe seine Wurzeln tief in die Gotik versenkt, um alsdann Stamm und Wipfel in die Klarheit, Reinheit und Freiheit heller und glücklicher Griechenhimmel emporzutreiben – und so scheint es mir in der Tat.

Wir hören den faustischen Grübler flüstern, der bisher schweigend inmitten des Stübchens saß:

Flieh! Auf! Hinaus ins weite Land!
Und dies geheimnisvolle Buch,
von Nostradamus' eigner Hand,
ist dir es nicht Geleit genug?
Erkennest dann der Sterne Lauf,
und wenn Natur dich unterweist,
dann geht die Seelenkraft dir auf,
wie spricht ein Geist zum andern Geist.
Umsonst, daß trocknes Sinnen hier
die heil'gen Zeichen dir erklärt:
ihr schwebt, ihr Geister, neben mir;
antwortet mir, wenn ihr mich hört!

Das ist Geisterbeschwörung, ist Magie und stammt aus dem Anfangsmonolog der Faust-Tragödie.

»Individuum est ineffabile« – ein Goethewort. Es will soviel heißen, als daß keine Geistesmacht der Welt die Persönlichkeit erschöpfend nachzubilden vermag, nicht einmal sie selbst. In diesem Bestreben hat es gerade Goethe weiter als irgendein anderer uns bekannter Mensch gebracht. Hundert- und tausendfältig, sofern wir ihn einigermaßen begreifen wollen, müssen wir immer wieder auf seine Verba ipsissima zurückgehen. Kein Wort eines anderen kann ergründen, was er selbst in sich ergründet hat. Denn er ist wahr gegen sich, wie er schlicht und wahr in seinem Verhältnis zur Natur, zu den Menschen und auch als Dichter ist. So viel können wir trotzdem sagen: ohne den »Faust« würde das Irrationale, Wachstumshafte, Aufwärtsringende Goetheschen Wesens nicht zu erkennen sein. Ohne dieses Gestalt und Gehalt gewordene Pandämonium würde der geistige Organismus Goethe, den wir heute verehren, ohne Rückgrat und also molluskenhaft geblieben sein. Keines der Werke Goethes ist so aus den tiefsten chthonischen Tiefen seines Wesens und Lebens heraufgequollen, ist so durchaus gleichsam sein Wachsen und Werden selbst und so bis zum Ende eins mit seiner göttlichen Mission. Man kann dieses Weltgedicht einem jener Blitze vergleichen, deren Feuerstrom aus der Erde bricht, die Wolken durchflammt und über ihnen im Unendlichen schwindet, während der kostbare Schatz der übrigen Goethewerke einer köstlichen Flora zu vergleichen ist, die eine fruchtbare Erde in ruhigem, vegetativem Wachstum zeitigt.

Dem negativen Satz »Individuum est ineffabile«: können wir den positiven hinzufügen: »Persönlichkeit ist ein Mysterium.« Und so faßt sie Goethe im »Faust« als Mysterium. Das Gedicht selbst ist ein Mysterium und hat in den so geheißenen Spielen des Mittelalters seine Vorfahren. Aber es hat auch andre Verwandte, die, wie zum Beispiel das Sebaldusgrab in der Sebalduskirche zu Nürnberg, in Erz gegossen sind. Wie dieses von Peter Vischer errichtete Wunderwerk ist es gleichsam ein Seelenkristall, aus der Gesamtheit des Seeleninhalts zusammengezogen. Die gleichen Elemente, die hier in Form der Sprache dramatisch glutflüssig sind, sind in dem Werke Peter Vischers erstarrt und stumm. Aber dem einen wie dem anderen wird man gerecht durch den Chorus mysticus:

Alles Vergängliche
ist nur ein Gleichnis;
das Unzulängliche,
hier wird's Ereignis;
das Unbeschreibliche,
hier ist's getan;
das Ewig-Weibliche
zieht uns hinan.

Peter Vischer wie Goethe, zweieinhalbes Jahrhundert voneinander getrennt, sind deutsche Renaissance. Heidentum, katholisches Christentum: freies Denken über die höchsten Dinge sind bei beiden eine Verbindung eingegangen. Der Entschluß zum Individuellen hat den einen dazu geführt, ein Weltbild in Erz nach eigener unabhängiger innerer Schau aufzubauen, in Form eines Seelenkristalls und stummen Symbols, den anderen, die Agonie zu gestalten, in die der Mensch sich hineingezwungen sieht mit dem Wunsche, Gott und Welt zu umfassen und anders als bisher zu begreifen.

Nehmen wir an, wir belauschten den großen alten Mann in dem vor uns liegenden düsteren Studierstübchen, und er spräche laut, was ihm sicherlich täglich schweigend durch den Kopf gegangen ist. Von Goethe ist es bekannt, daß er, der seine Werke diktierte, auch wenn er allein in seiner Faust-Kammer war, gelegentlich laut mit sich selbst zu sprechen pflegte. Vielleicht hörten wir folgenden Dialog:

Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
Du, Geist der Erde, bist mir näher;
schon fühl' ich meine Kräfte höher,
schon glüh' ich wie von neuem Wein.
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
mit Stürmen mich herumzuschlagen
und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
Es wölkt sich über mir –
der Mond verbirgt sein Licht –
die Lampe schwindet!
Es dampft! – Es zucken rote Strahlen
mir um das Haupt – Es weht
ein Schauer vom Gewölb' herab
und faßt mich an!
Ich fühl's, du schwebst um mich, erflehter Geist.
Enthülle dich!
Ha! wie's in meinem Herzen reißt!
Zu neuen Gefühlen
all meine Sinnen sich erwühlen!
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt! du mußt! und kostet' es mein Leben! ...

Geist:

Wer ruft mir?

Faust:

Schreckliches Gesicht!

Geist:

Du hast mich mächtig angezogen,
an meiner Sphäre lang gesogen,
und nun –

Faust:

Weh! ich ertrag' dich nicht!

Geist:

Du flehst eratmend, mich zu schauen,
meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn;
mich neigt dein mächtig Seelenflehn,
da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen
faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf?
Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf
und trug und hegte, die mit Freudebeben
erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?
Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang,
der sich an mich mit allen Kräften drang?
Bist du es, der, von meinem Hauch umwittert,
in allen Lebenstiefen zittert,
ein furchtsam weggekrümmter Wurm?

Faust:

Soll ich dir, Flammenbildung, weichen?
Ich bin's, bin Faust, bin deinesgleichen!

Geist:

In Lebensfluten, im Tatensturm
wall' ich auf und ab,
webe hin und her!
Geburt und Grab,
ein ewiges Meer,
ein wechselnd Weben,
ein glühend Leben,
so schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit
und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Faust:

Der du die weite Welt umschweifst,
geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir!

Geist:

Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
nicht mir!

Diesen Kampf mit dem Erdgeist hat Goethe, in der Jugend begonnen, ein langes Leben hindurch nicht aufgegeben. Immer wieder bis in seine letzten Stunden hinein wird er ausrufen:

Wo fass' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
an denen Himmel und Erde hängt,
dahin die welke Brust sich drängt –
ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht' ich so vergebens?

Es ist erschütternd, wenn wir heut, hundert Jahre nach Goethes Tode, den Teller mit Erde am Fenster des Geisterstübchens sehen, auf dem Goethes Augen noch Sekunden vor seinem Tode forschend ruhten, als letzte Phase dieses Kampfs.

Aber auch ein andrer als der Erdgeist ist in der Magierzelle heimisch gewesen, allerdings ein Untergebener von ihm. Unzählige Male ist er, sich tief herabbeugend, durch die niedere Tür eingetreten, nämlich der Geist, der sich selbst bezeichnet als »Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«.

Von dem gesamten polytheistischen Hausrat der alten Welt hat sich allein dieser Dämon und Gegengott, Satanas nämlich, durch das gesamte Mittelalter durchgesetzt. Die Verheerungen sind bekannt, die er in Hirnen und Herzen anrichtete. Noch dem gewaltigen Doktor Martin Luther schlägt er ein Schnippchen und macht ihm fast täglich die Hölle heiß. Hekatomben schuldloser Menschen wurden in einem schrecklichen, fast ununterbrochenen Opferdienst dieser »Spottgeburt aus Dreck und Feuer« zum Opfer gebracht.

Und hier ist der Ort, etwas einzuschalten.

In Goethe lebt zwar die mittelalterliche Vorstellungswelt, doch »die ich rief, die Geister werd' ich nun nicht los« heißt es bei ihm nicht. Er beherrscht sie als seine eigenen Schöpfungen. Ihr Schöpfer und Herr kennt keinerlei mittelalterliche Besessenheit. So hat auch Mephisto in der immerwährenden unwillkürlichen Selbstanalyse Goetheschen Geistes eben nur eine Funktion:

Dieser Mephistopheles, dieser Geist, der stets verneint, ist die Gestalt und Fleisch gewordene Skepsis und Ironie. In ihm ist aber auch dieser Teil der Erdnatur verkörpert, den allenthalben der Fluch der Kirche, ohne ihn je vernichten zu können, trifft. »Schon schwillt es auf mit borstigen Haaren«, wird von ihm gesagt, als er seine Form noch nicht gewonnen hat, was auf das sogenannte unreinste aller Tiere deutet. Dabei wird er »Verworfnes Wesen!« genannt. Nun, dieses Unreine in uns, diese Sünde in uns, die er bejaht, und der Zweifel an allem anderen, die Ironie allem Übermenschentum gegenüber, das sich über das Tier erheben will, das ist Mephistopheles.

Die menschliche Sprache enthält das Ja und enthält das Nein. Und wo die menschliche Sprache lebt, nämlich im menschlichen Geist, dort sind das Ja und das Nein zwei entgegengesetzte Parteiführer. Der Streit oder Dialog dieser beiden Mächte beginnt im Kinde, wenn das Denken beginnt, und er endet erst mit dem Tode. In diesem Ja und Nein haben wir die ersten. Akteure des menschlichen Urdramas, zwei Worte, die sich dann wohl auch in das Ich und Nicht-Ich oder das Du verkleiden. Von diesem Urdrama, dessen Personenverzeichnis im Laufe des Lebens immer zahlreicher wird und das länger als das chinesische Drama, nämlich ein ganzes Leben, fast ununterbrochen auf der Bühne des Bewußtseins spielt, ließe sich viel sagen. Leider gebricht es an Zeit dazu. Der »Faust« ist ein solches objektiviertes, Gestalt gewordenes Urdrama, Faust selber das eigensinnige Ja, Mephisto das eigensinnige Nein darin.

Das ganze Faust-Gedicht, und also auch das Leben Goethes, dem es folgt, ist άγωνία, ist Agonie, was soviel wie Kampf im furchtbarsten, höchsten und heiligsten Sinne bedeutet. Aus diesem Grunde liegt über dem ganzen Gedicht wie über dem ganzen Leben Goethes eine erhabene Traurigkeit, obwohl Goethe als Weltkind galt und sich selber zuweilen so nannte. Schon Carlyle schrieb an Ihren Emerson: »Es kommt ein Tag, wo Sie begreifen werden, daß dieser sonnige, höfische Goethe eine prophetische Trauer verschleiert in sich trug, so tief wie die Dantes ... Kein Mensch kann sehen, was Goethe sieht, wenn er nicht gelitten und gekämpft hat wie selten ein Mann.«

Seltsam genug, wenn das besonders in Deutschland übersehen wurde, wie es in der Tat geschehen ist. Man hätte sich müssen an Werther erinnern, an »Die Leiden des jungen Werthers«, wie der Titel heißt. Und ich setze hinzu: an sein Ende. Man hätte ferner an den Faust-Monolog denken sollen, mit dem das eigentliche Werk beginnt und von dem ich Ihnen einen Teil als Monolog des alten großen Mannes im Apothekerstübchen am Frauenplan vorgetragen habe. Hier wie dort verfällt der Held einer gefährlichen Sehnsucht nach dem Tode. Werther verfällt ihr und tötet sich, während Faust dem Leben erhalten bleibt, um sich dem Kampfe des Lebens entschlossen zu stellen.

Man darf nicht sagen, das Ende Werthers sei die Folge einer Liebe, der keine Erfüllung winkt. Es ist eine tiefere Goethesche Konfession. Das beweist auch die ungeheure Wirkung, die sein Erscheinen hervorbrachte. Abgesehen von dem Welterfolge des Buches, bewirkte es eine Art Selbstmord-Epidemie, der besonders junge Leute zum Opfer fielen. Wer kennt nicht die berühmte Stelle im Faust, als er dem Leben entsagen will? Sie beginnt mit den Worten:

Nun komm herab, kristallne, reine Schale!

Dann empfängt diese Schale das Gift. Sie wird von der Hand Faustens mit den Worten erhoben:

Der letzte Trunk sei nun, mit ganzer Seele,
als festlich hoher Gruß, dem Morgen zugebracht!

Dann klingen die Osterglocken mit dem Chorgesang »Christ ist erstanden!« Und es heißt:

O! tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!

Aber auch im persönlichen Bekenntnis von »Dichtung und Wahrheit« bestätigt Goethe einen Ekel vor dem Leben, den er als junger Mensch empfunden habe. Zuweilen betrachtet er das Leben als eine »ekelhafte Last«, ihn peinigt »Lebensüberdruß«. »Unter einer ansehnlichen Waffensammlung«, schreibt er, »besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch; diesen legte ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das Licht auslöschte, versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte, die scharfe Spitze ein paar Zoll tief in die Brust zu senken.« Schließlich wirft er »alle hypochondrischen Fratzen hinweg« und beschließt zu leben.

Und wir wissen es heute: er hat gelebt!

Noch kann ich mich von dem Magier und Doctor universalis nicht losmachen. Hier, in dem kleinen Faust-Stübchen seines repräsentativen Hauses am Frauenplan, hat er mit Dämonen Umgang gepflogen und als geistiger Schöpfer Gestalten über Gestalten in die Welt entsandt. Sie sind heute noch da, und wir können mit ihnen verkehren. Er wird auch den Stein der Weisen gesucht haben, obgleich er auch wieder die Worte sagt: »Wenn sie den Stein der Weisen hätten, der Weise mangelte dem Stein.« Hier hat er seine Farbenexperimente gemacht, Pflanzen untersucht, die Urpflanze gedacht, Schillers Schädel in der Hand gehalten. Und nachdem er bekannt hat: »Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt«, kann es uns nicht mehr wundern, wenn er wünscht: »daß ich vermöge zu bilden mit Göttersinn und Menschenhand, was bei meinem Weib ich animalisch kann und muß«. Ein schwaches Symbolum dieses Wunsches ist der Homunculus, ein stärkeres seine Gestaltungskraft überhaupt, soweit sie in der Dichtung sichtbar wird, ein weiteres sein didaktischer Trieb, der ihn zu einem überall leidenschaftlichen und bewußten Lehrer und Bildner der Jugend macht. Die Kühnheit seiner Intuition geht aber noch darüber hinaus; es ist, als hielte er dafür, der Mensch sei am sechsten Schöpfungstage noch nicht vollendet gewesen, und man müsse verbesserte Exemplare zu schaffen versuchen.

Er, dessen Denken der Idee Darwins so nahegekommen war, der den Menschen in einer Aufwärtsentwicklung durch Jahrmillionen zeigt, spürte vielleicht als erster halbbewußt den Trieb, ihn mit allen psychischen und geistigen Mitteln weiter und schneller emporzuzüchten. Einmal in Goethe tiefer als sonst hineinverwühlt, kam mir diese Erkenntnis unter einer tiefen Erschütterung. All sein Denken und Dichten ist Arbeit am Menschen. Mit der Arbeit an sich selbst fängt er an, was man so oft und mißverständlich als unerlaubt egoistischen Persönlichkeitskult gedeutet hat.

Hier sitz' ich, forme Menschen
nach meinem Bilde,
ein Geschlecht, das mir gleich sei:
zu leiden, zu weinen,
zu genießen und zu freuen sich ...

So sagt Goethes Prometheus von sich. Auch Gott in der Bibel formt den Menschen aus einem Erdenkloß. Die ersten Bildhauer, Deukalion und Dädalus und wieder Prometheus, waren Halbgötter und benutzten das gleiche Material. Dann hauchten sie ihren Gebilden Leben ein. Vom Schlage dieser Former und Halbgötter ist der Dichter- und Denkerfürst. Wir wissen, wie eng sein ganzes Wirken in die Welt der bildenden Künste verschlungen ist. Allenthalben zeigen es seine Gedichte und Prosaschriften. Mit seiner Apostrophe an Erwin von Steinbach und das Straßburger Münster angefangen bis zu seiner Erwähnung der Beschreibung Polygnotischer Gemälde, von da bis zu seinem Ende, die Romreise inbegriffen, gibt es in seinem Leben kein stärkeres Interesse als das für bildende Kunst.

Er suchte Menschen nach seinem Bilde zu formen, ich wiederhole es, ein Geschlecht, das ihm gleich sei, dem Nachkommen jenes Titanenbluts, dessen Stolz selbst im Aufblick zum olympischen Herrn der Welt nicht erlosch. Nennen wir es eine Fiktion, die ihm innewohnt, aber diese ist eingefleischt und großartig.

Dieses vorausgesetzt, werden wir uns nicht wundern, wenn er sich überall erziehlich zu wirken bemüht, so im Geistigen als im Physischen. Auch tritt er in die Reihe derer ein, die von Platon zu Thomas Morus und weiter herauf Zukunftsbilder eines Idealstaates haben. Im zweiten Teile des »Meister«-Romans, den sogenannten »Wanderjahren«, findet sich eine Erziehungsprovinz, der allerhand Fruchtbares zu entnehmen ist. Er lehrt darin unter anderem dreierlei Ehrfurchten, worin er sich von seinem früheren Gottestrotz abwendet zu jener Empfindung den irdischen und himmlischen Dingen gegenüber, mit der sich sein ganzes Leben adelt. Dieses aber sind die dreierlei Ehrfurchten: Ehrfurcht vor dem, was über uns ist, Ehrfurcht vor dem, was neben uns ist, Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist.

Wir stehen noch immer vor Faustens Studierzimmer, das Goethe selbst in einem Briefe seine »stille Forschergrotte« nennt. Und während sich der Magier selbst, der vorhin noch am Tische saß, verflüchtigt hat, werden wir uns darüber klar, daß Magie dort beginnt, wo sich alle natürlichen Mittel der Erkenntnis und des Wirkens erschöpft haben. Der magische Nerv, der Mögliches und Unmögliches in einer brennenden Empfindung schöpferischer Art gleichsam identifiziert, enthüllt immer wieder Goethes Grundwesen.

Wir treten in das Studierzimmer ein, und hier wartet Ihrer eine neue Erschütterung, wenn Sie nämlich das kleine Gehäuse, das winzige Schlafkämmerchen sehen, in das der sogenannte Minister und Hofmann allabendlich zurückgekrochen ist. Es ist so niedrig, daß man mit der Hand die Decke erreichen kann, und etwa so breit wie das mäßige Lager, auf das Goethe seinen irdischen Körper zum Schlummer ausstreckte. Hier ist etwas wie eine dem lebenden Tode und der täglichen Auferstehung dienende Gruft.

Diastole und Systole hat Goethe die ewige Formel des Lebens genannt. Das ist nichts anderes als der Puls, das Sichdehnen und Zusammenziehen des Herzmuskels. Auch im Geistigen sieht er ebendiese Kontrastbewegung als Voraussetzung alles Lebens an. So kann man Schlaf und Wachen, Nacht und Tag als Systole und Diastole ansprechen. Hier, nämlich in seiner winzigen Schlafhöhle, war er zur engsten Enge zusammengezogen. Erhob er sich, so trat er nicht in die wirkliche, sondern in seine Dämonenwelt, die vor der wirklichen gleichsam als Leibwache lagert.

Der Einsiedler in Goethe war eine Gegebenheit. Aber bei dem Reichtum und der Weite Goetheschen Wesens und der Spaltung Goetheschen Wesens und der Neigung zur Ausbreitung in Goethes Wesen bewegt er sich in einem immer weiter werdenden Kreise unausgesetzt vom Zentrum zur Peripherie und wiederum ins Zentrum zurück.

Aber wie gesagt, das »hochgewölbte, enge, gotische Zimmer«, aus dem der Faust hervorgeht und das, wie eine Schale die Frucht, Goethe selber ein Leben lang umschließt, wurde nicht hinweggespült. Hier hat das in seinem Heiligsten streng umhegte Wesen, hat das, was er die Fortifikationslinie seines Daseins nennt, seinen, sinnlich-symbolischen Ausdruck gefunden. Ein Zeitgenosse vergleicht die geistige Eremitage Goethes mit einer Darstellung Giottos in Assisi, wo man die reine Seele in einer Art von Burg wohnen sieht, nur mit umschwebenden Geistern, Engeln in diesem Falle, Gemeinschaft pflegend. Daß auch Engel in Goethes Klause Zutritt hatten – wer wüßte das nicht!

Die christliche Kirche hat das menschliche Wesen in ein geistliches und ein weltliches geteilt. Nicht nur sie hat ein Recht dazu. Wenn auch das geistliche Wesen nicht durchaus nur von der Art eines frommen Christen gewesen ist, so war es doch ein geistliches Wesen. Auch die geweihte Stätte dafür war eine Gegebenheit. Ebenso kennen wir auch sein weltliches Wesen, das mehr peripherisch und mit seinem wirkenden, tätigen Dasein verflochten ist. Bei dieser Ausbreitung seines Wesens, das enzyklopädisch war und zu universellem Wissen hin strebte, ist er Frankreich viel schuldig geworden. Unzählige seiner Wurzeln verbinden ihn mit dem Humus der berühmten Enzyklopädie. Ihr Prospekt erschien, als Goethe das erste Jahr seines Lebens zurückgelegt hatte. Unter Kämpfen wurde sie begonnen und jahrzehntelang unter öffentlichen Debatten, an denen die ganze Kulturwelt teilnahm, fortgesetzt. Unter den Verfassern der einzelnen Abschnitte stehen Diderot und d'Alembert obenan. Sonst finden Sie unter ihnen Namen wie Montesquieu, Fresnoy, Mallet, Rousseau, Marmontel, Holbach, Voltaire und viele andere.

In dieser weltlichen Verbundenheit zahlte Goethe seinen Tribut an die Zeit, in seinem faustischen Wesen den an die Ewigkeit.

Die Enzyklopädie hatte zum Zweck die Verbreitung von Kenntnissen auf allen Gebieten. Es war ein Kampf gegen Aberglauben und Unwissenheit. Der gewollten Verdummung der Massen sollte Aufklärung abhelfen. Und wenn Friedrich Nietzsche von der Umwertung aller Werte spricht, so steht das zwar nicht auf dem Schilde der Enzyklopädisten, etwas Ähnliches aber haben sie schließlich erreicht. Mit ihnen beginnt das moderne Zeitalter.

Diese Enzyklopädie ist das, was Faust in den dreiundzwanzig Versen, als er sich der Magie ergibt, verwirft, worin ihn der größere Magier Mephistopheles bestärkt, wenn er sagt:

Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
des Menschen allerhöchste Kraft,
laß nur in Blend- und Zauberwerken
dich von dem Lügengeist bestärken,
so hab' ich dich schon unbedingt.

Es ist also Mephisto, der Faust und somit Goethe in seinem eigentlichen faustischen Wesen und Weg bestärkt, womit dieses Wesen und dieser Weg sich als Unwesen und Irrweg selbst richten würden. Wird jedoch Faust von Mephisto bis ans Ende geführt und verführt, vermöge des Blutpakts, der geschlossen ist – mit Goethe selbst ist es etwas anderes. Zwar, die Elemente des Urdramas bleiben in ihm, das Ja und das Nein, das Ich und das Du. Aber er ist ein Bejaher des Lebens, und der Verneiner geht nur wie ein Begleiter neben ihm her. Ihm selber bleibt »Vernunft und Wissenschaft des Menschen allerhöchste Kraft«, der er als einer solchen allezeit huldigt.

Wenn er nun aber trotzdem auch das Faust-Drama in seinem Alchimistenstübchen bis zu Ende lebt, so sind dies zwei verschiedene Arten und Weisen, im Chaos den Kosmos zu begreifen. Das Licht der Vernunft und sein Kind, die Wissenschaft, sind das eine Medium, das andere das Bewußtsein des Mysteriums, das Goethe in die Worte kleidet:

Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,
das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht
den alten Rang, den Raum ihr streitig macht.

Aus der Grotte des Erdgeistes – es muß gesagt werden – sind Goethes tiefste Dinge, darunter die Wunder seiner Dichtungen, hervorgegangen. Sie sind, wie man heute sagen würde, sein dionysisches Teil. Der Schoß der Erde, die Finsternis, das Irrationale, drängt seine Wundergebilde ans Licht. Sein apollinisches Teil, die Sonne, der Tag, die Vernunft, hat seine oberirdischen Wirkungen gezeitigt, seine Bestrebungen, Erkenntnisse und Erfolge auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft. Hier überall wirkt er im Menschlichen aufklärend.

Und wie die Oberfläche der Erde sich mit Gräsern, Blumen und Früchten aller Arten schmückt, so gibt der immer wache Goethesche Geist dem Tage, dem Leben auf seine unzähligen lauten und leisen Fragen Antwort. So haben wir seine unzähligen Antworten, die eine scheinbar immer wachsende Ernte sind. Sie sind es, die auf eine überraschende Weise, übrigens von Ihrem Ralph Waldo Emerson schon früh erkannt, in Goethe einen der größten Weisen aller Zeit erkennen lassen.

Wie aber wird sie genossen, wie verstanden, eine solche Persönlichkeit? Inwieweit geht sie etwa in den Kreislauf des Lebens ein? Inwieweit wird sie gesucht? inwieweit geliebt? Inwieweit wird Lehre, Beispiel, geistiges Gut dieser Art in unserer Epoche nutzbar gemacht, in der es von allen Seiten in seinem Werte bestritten wird? Wer wird eine solche Erscheinung heute als »bedeutendes Organ des Menschheitslebens« ansprechen?

Nun, meine Damen und Herren, zunächst wir, die wir hier versammelt sind! Was soll es nützen, sich gegenüber den singulären Geschenken des Himmels an die Menschheit, durch die sie allein ihren Sinn erhält, den Standpunkt der Blindheit zu eigen zu machen? Wenn Goethe heute lebte, er würde, ohne Anspruch darauf zu erheben, wiederum ein großer Führer sein. Er starb an der Schwelle jenes gewaltigen Zeitalters, das allerdings jetzt in eine peinliche Verlegenheitspause eingetreten ist. In diesem Jahrhundert seit Goethes Tode sind fast alle Sehnsuchtsträume der Menschheit erfüllt worden. Trennende Entfernungen sind angesichts der Verkehrswunder aufgehoben. Tausend Meilen, die wir früher in kalten, rumpelnden und stoßenden Postkutschen unter wochenlangen Quälereien und Strapazen zurücklegten, kosten uns heut eine wohlige Nacht im durchwärmten Schlafwagen. Fünf Tage, auf einem schwimmenden Hotel erster Ordnung verbracht, tragen uns über den Atlantischen Ozean. Früher taten das kleine Hühnerställe in monatelanger Fahrt: man begreift heute nicht, wie sie überhaupt jemals heil über den Ozean gelangen und wie die Menschen die unaussprechlichen Qualen einer solchen Fahrt überstehen konnten. Ein Bürger Berlins, Hamburgs oder Münchens hat einen Vater, Freund, Bruder, Sohn in Amerika. Vor unserer Zeit hätte er, um ihn zu sprechen, eine monatelange Reise unternehmen müssen. Heute bleibt er geruhig in seinem Zimmer und tut nur einen Griff nach dem Fernsprecher: eine Viertelstunde später hört er die Stimme seines Vaters, Freundes, Bruders, Sohnes im Apparat, und dieser wieder hört seine Stimme. Die Entfernung ist fort: als ob sie alle im gleichen Zimmer wären, können sie sich miteinander verständigen. Das lenkbare Luftschiff, der Zeppelin, umkreist in acht Tagen die Erdkugel, Flugzeuge überbieten ihn, denn das Flugproblem ist gelöst worden. Lindbergh überflog in einem Tage den Atlantischen Ozean. Briefe besorgt der Telegraph, eine Erfindung, die ermöglicht, daß sie, in New York in einem Augenblick aufgegeben, im nächsten bereits in Kalkutta, Peking oder in Kapstadt sind. Man kann die Glocken von Kopenhagen vermöge des Radio in jedem italienischen oder deutschen Hause hören und in Moskau einer großen Messe im Kölner Dom beiwohnen. Zu alledem kommen die hygienischen Fortschritte: Wasserspülungen, rationelle Erwärmungen ganzer Häuser, die elektrische Birne, welche die Luft nicht verdirbt und die Nacht zum Tage macht. Goethe noch las bei zwei Stearinkerzen. Früher berauschte und verzückte uns die übermäßige Helle des Weihnachtsbaumes: um ihn zu sehen, müssen wir heute das elektrische Licht löschen, und dann freuen wir uns an der schummrigen Düsternis.

Alles dieses hat Goethe nicht erlebt. Einer der größten unter den Sehern konnte diese Entwicklung nicht voraussehen! Dazu kommen die Fortschritte in der Bekämpfung von Krankheiten, auf dem Gebiete der Hygiene, der Bakteriologie und Chemie, die Wunder der Chirurgie nicht zu vergessen. Hätte sein sterbendes Seherauge das alles erblickt, er würde schwerer als so gestorben sein. Hätte aber ein Eingriff der oberen Mächte seinem Leben ein Jahrhundert zugesetzt, wie würde er die Enttäuschung, die sich leider an uns herannestelt, ertragen haben? Oder ist der Mensch mit seinen Fortschritten fortgeschritten? Ist er ihrer würdig geworden?

Ich wiederhole: Wenn Goethe heut lebte, er würde uns wieder, und heut mehr als einst, der große Führer sein. Er bewies, sagte Emerson, daß die Nachteile einer Epoche nur für den Schwachherzigen vorhanden sind. Also würde er uns sein starkes Herz beweisen. Und nun befreie ich Sie und mich von dem Drucke des Kleinmuts, der sich auf uns legen will, indem ich einen Helfer herbeirufe, der besser als ich diese Gedenkrede halten würde und vor hundert Jahren gehalten hat. Wen kann ich anders meinen als Thomas Carlyle, die erlauchteste Stütze Goetheschen Andenkens?

Ich würde mich schämen, hier dem Cherub vorzugreifen oder ihn zu verschweigen, der vor hundert Jahren im Auftrag höherer Mächte sich über der Bahre Goethes erhoben hat.

Diese Worte hat er gesprochen:

Unter den Todesanzeigen dieser Tage steht eine von ganz besonderer Bedeutung: Zeit, Ort und Besonderheiten dieses Todes werden oft wiederholt und immer wieder nachgeschrieben werden müssen: nämlich daß Johann Wolfgang Goethe am 22. März 1832 in Weimar gestorben ist. Das geschah um elf Uhr morgens. Seine letzten Worte grüßten die zu neuem Leben erwachte Erde. Die letzte Regung gilt der Arbeit an der vorgesetzten Aufgabe.

So ist denn unser größter Dichter dahin. Die himmlische Kraft, die so vieler Dinge Herr wurde, weilt hier nicht länger. Der Werktagsmann, der bisher zu uns gehörte, hat das Ewigkeitsgewand angelegt und strahlt in triumphierender Glorie. Sein Schwinden glich dem Untergang der Sonne. Die Sonne offenbart körperliche Dinge, der Weltpoet ist Auge und Offenbarer aller Dinge in ihrer Geistigkeit. Wie groß ist der Zeitraum, den die Tätigkeit dieses Mannes annäherungsweise etwa beeinflussen wird? – Heute ist das erste Jahrhundert vergangen! – Es war für uns Zeitgenossen schon eine Art Auszeichnung, an die Existenz eines solchen Dichters glauben zu dürfen. Er sah in das größte aller Geheimnisse, das offene, hinein. Was er gesprochen hat, wird Tat werden. Das achtzehnte Jahrhundert war eine todkranke Zeit. Die neue Epoche begann in dem Augenblick, da ein Weiser geboren wurde. Kraft göttlicher Vorbestimmung wurde ein solcher Mensch der Erlöser seiner Zeit. Lag nicht der Fluch der Zeit auf ihm? Es war Erlösung durch Güte; denn Größe ist Güte.

Es gibt nicht vieles in dem seither vergangenen Jahrhundert über Goethe Gesprochenes, das an Wahrheit und Größe der Empfindung diesem Nachruf ebenbürtig ist, in Europa nicht und ebensowenig in Goethes Vaterlande. Mit tiefer Scham der Seele wollen wir alles das dem Orkus des Vergessens überlassen, was im entgegengesetzten Sinne geleistet worden ist.

Und achten Sie darauf, wie der edle Geist Carlyles, der Ehrfurcht mit Klarheit verbindet, an den beliebten Fehlurteilen mißwüchsiger Engherzigkeit über Goethe selbst ohne Achselzucken vorübergeht: Goethe sei Egoist gewesen, Goethe habe keinen Sinn für seine Nation, für sein Volk, für soziale Leiden der Menge gehabt. Fürstendiener, ja Fürstenknecht wird er gescholten. So schlug man der Wahrheit ins Gesicht, die aus jeder Zeile seines reinen, wahren und allumfassenden Werkes spricht. »Was er tat«, sagte Carlyle dagegen, »ist Herzlichkeit und mit hohem Fluge gepaarte Einfachheit.« Und er nennt ihn einen Werktagsmann, der mitten hinein in den Werktag und das werktätige Volk gehörte. Das tut Carlyle, der sich selbst als Werktagsmann versteht und dessen Vater ein Maurer und Ackerbauer in Schottland gewesen ist. Sprach ich Ihnen am Anfang von einem zentralen Gefühl, das mir die Person Goethes zu einer nahe vertrauten mache, aus dem ich den Mut nähme, über Goethe zu Ihnen zu reden, so ist es auch bei Carlyle, dem schottischen Maurerssohn, eine gleich elementare Verbundenheit. Um so erstaunlicher, als der Schotte erst durch die Wand einer fremden Sprache zu seinem Bruder hindurchdringen konnte. Welch ein Zeugnis aber für Goethe und gegen seine Afterkritiker ist dieses in Carlyle kräftige elementare Gefühl! Das pochende Herz des schottischen Maurerssohnes antwortet auf das Obskurantengezisch lauer Ungeister, und der herrliche Sturm, vom Cherubsflügel seiner adligen Seele erzeugt, fegt sie wie dumpfe Spreu hinweg.

Carlyles Prophetie hat erst ein Jahrhundert hinter sich. Aber wenn auch noch immer einander zerfleischende Parteien ein zerfahrenes, absterbendes Gesellschaftssystem unter Stürmen bald hierhin, bald dorthin zerren, hat sich das Bewußtsein von dem, was Goethe ist und für die Welt einst noch bedeuten muß, in steigender Welle durchgesetzt. Es sind Gegenminen genug gelegt worden, keine aber konnte sie aufhalten. Sie ist, wie Carlyle sagt, ähnlich einer allumspannenden Bewegung, von Natur so tief wie ruhig, die sich langsam mitteilt, aber unaufhaltsam majestätisch vorwärtsdringt. Carlyle sieht, einen neuen Gesellschaftsbau, dessen Eckstein Goethe ist.

Sie mögen es hören, alle die schätzbaren Herrn von Paris bis Petersburg, von Hammerfest bis Südafrika, und was in Ihrem tatgewaltigen Kontinent meinen Worten ein Ohr zu leihen willens ist: Die Welt wird weder mit Gold noch durch Gewalttat erlöst, sondern allein durch Menschlichkeit, durch Menschenachtung, durch Humanität. Immer waren es einzelne, die uns die frohe Botschaft gebracht und zur Humanität ermutigt haben, die als reiner Gedanke die größte, ja fast einzige Legitimation des Menschen als Menschen ist. Nicht Revolutionen bringen die Fortschritte, aber eine immerwährende, wie das Leben selber gegenwärtige, stille Reformation. Es wäre verlockend, einen Vergleich anzustellen zwischen der, die mit dem Namen Luthers, und unserer, die mit dem Namen Goethes verbunden ist. Ich nenne nur einen Unterschied: keine Art Fanatismus, keine Art Geistesknechtung, keine Art Menschenfeindschaft, keine Art Verfolgung kann in der neuen einen Platz finden. Nicht die abstrakte Masse, sondern der einzelne Mensch ist, wie ich sagte, das wahre Objekt Goetheschen Bildnertriebs. Aber vor allem war es er selbst. Und so mag jeder Mensch seine eigene Reformation im Sinne Goethes zunächst selbst in die Hand nehmen, sein eigener Herr und sein Souverän, nicht aber das Spielzeug und Opfer fanatischer Mächte.

Für was wir eintreten, das ist Kultur. Es ist der einzige Klang, in dem die übertierische Bedeutung der Menschheit beschlossen ist. Blickt man aber, hört und fühlt man in das noch heute lebendige Goethesche Wesen tief hinein, so erkennt man, daß es bereits in einem höheren oder tieferen, wie man will, Kulturbereich heimisch ist, einem, an dessen Schwelle wir jetzt stehen, wie ich unentwegt zu hoffen nicht ablasse, wo die Mechanisierung und Materialisierung ihr gewiß beachtenswertes, aber keineswegs endgültiges Wort gesprochen hat. Heute heißt es: Vergessenes nachholen!

Gehen wir an die Arbeit, meine Damen und Herren!

Wir verlassen somit das Goethehaus, nachdem wir noch einen letzten Blick in die »stille Forschergrotte« getan haben, die den lebenslangen Kampf Goethes mit dem Erdgeist gesehen hat und darin er seine Augen für immer schloß. Wenn wir Faustens Mantel benutzen, so trägt er uns in einer Sekunde von Weimar hierher über den Ozean, wo wir gleichsam aus einem Traum erwachen. In das gewaltig fordernde Dasein dieser Welt gestellt, trennen wir uns, um, wie Goethe empfiehlt, »im Ganzen, Guten, Wahren resolut zu leben«!


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