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Deutsche Einheit

Ansprache zur Feier der fünfzigsten Wiederkehr des Tages der Reichsgründung, gehalten zu Hirschberg in Schlesien am 18.Januar 1921.

Wir begehen als eine schwer geprüfte, tief bedrückte Nation begreiflicherweise nicht das Andenken eines äußeren Sieges. Wir feiern einen viel größeren, freilich damit verbundenen inneren Sieg, der in der Einigung Deutschlands besteht. Und so schwer wir auch heut von einer äußeren Niederlage betroffen sind, man hat uns die Früchte des damaligen inneren Sieges nicht rauben können. Somit erstreckt sich die Erniedrigung, unter der wir seufzen, nicht auf diesen inneren Sieg, und wir haben ein volles Recht, diesen inneren, im höchsten Sinne friedlichen Sieg miteinander zu feiern. Oder was könnte dem Wesen des Friedens näher kommen, als wenn Getrenntes, Zerstreutes, untereinander Feindliches sich einigt, sich zur festen Einheit verbindet? Die Römer, welche Begriffen göttliche Ehren erwiesen, scheinen mir, wenn es sich um den Begriff der Einigkeit handelt, die zur Einheit wird, in hohem Grade nachahmenswert. Wir sollten dem Begriffe der Einheit, der deutschen Einheit, die höchsten nationalen Ehren erweisen. Wir sollten sie nicht alle fünfzig Jahr, sondern jährlich feiern.

Dieses jährliche Fest der Einigkeit hätte einen hohen inneren Beruf zu erfüllen. Und gerade in Deutschland wie in keinem anderen Lande der Welt. Insofern war das Deutschland vor 1870 zu dem heute zerschlagenen Österreich das Gegenstück: hier Völker aller Sprachen geeint, dort Völker einer Sprache kläglich zerspalten und getrennt. Wer das Schicksal Deutschlands, nicht etwa das augenblickliche, sondern seit Jahrhunderten, rückblickend mit bitterem Schmerz ermißt, der weiß, daß uns Deutschen aller Stämme nichts so not tut als die Beherzigung des Vermächtnisses des alten Attinghausen in Schillers »Wilhelm Tell«: Seid einig!

Ich werde Ihnen nichts von meinen deutschen Schmerzen erzählen. Wer von Einigkeit reden, Einigkeit empfehlen will, der muß sich hüten, Bitterkeiten mit einfließen zu lassen, die alte Seelenwunden erzeugen, welche der herrschende Zustand der Uneinigkeit jedem unter uns geschlagen hat: er muß sich hüten, Vorwürfe zu erheben, weil solche nur neue Bitterkeit in anderen und somit neue Uneinigkeit hervorrufen würden. Wir haben am heutigen Tage jedoch keinen äußeren Feind und dürfen keinen inneren haben, einen einzigen ausgenommen: die Zwietracht. Die Zwietracht ist nicht nur unser stärkster innerer, sondern überhaupt unser stärkster Feind. Und er ist es vor allem, den es gilt, heute und immer zu bekämpfen.

Dies ist ein sehr einfacher Gedanke, der durchaus nichts Originelles hat. Es ist ein Gedanke, den sehr viele Menschen gedacht haben und denken und, was mehr ist, für richtig halten. Es kommt aber nicht darauf an, ob ein Gedanke neu oder eigenartig sei, ja nicht einmal darauf, daß viele ihn gedacht und seine Wahrheit erkannt haben, sondern es kommt darauf an, dem wahren Gedanken die wahre Folge zu geben. Und das ist es, was leider nur höchst selten geschieht. Ich verweise auf die unzweifelhaft deutlichen, anerkannten Wahrheiten der Ethik des Christentums. Ganz gewiß wird niemand behaupten wollen, es könne viele Menschen geben, die den Mut und die Anmaßung besäßen, sich in diesem Betracht wahre Christen zu nennen. Alles, was wir können in dieser Beziehung, ist höchstens, an unsre Brust schlagen und ausrufen: Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms. Dies ist, was wir können, und ist auch beinahe das Beste, was wir können. Denn in dieser Selbsterkenntnis, wenn sie mit Inbrunst verbunden ist, ist, wenn auch kein Aufstieg, so doch ein fester Grund gewonnen, von dem aus der Aufstieg möglich wird. Deutschland ist uneins, Deutschland ist zerklüftet und zerrissen. Dies wollen wir uns, an unsre Brust schlagend, eingestehen. Es geht durch Deutschland, außer den dynastischen Gegensätzen, die vielleicht noch nicht ausgeschaltet sind, jener abgrundtiefe, furchtbare Spalt, der sich seit der Reformation gähnend eröffnet hat, der das Land in zwei Teile teilt, die einander furchtbar fremd gegenüberstehen, und für den ein Curtius, ihn durch das Opfer seines Lebens zu schließen, noch nicht erschienen ist. Wir haben in Deutschland die Menschen diesseits und jenseits der Kluft, von denen jede Partei, im biblischen Sinne, sich selbst für die Partei der Schafe, die andere für die Partei der Böcke, das heißt der Verdammten, hält. Man bedenke das wohl: der Verdammten! Und man erwäge, ob die Einheit der Nation durch eine solche Anschauung gefördert werden kann.

Wer wollte bestreiten, daß jener abgrundtiefe Spalt einer schweren offenen Wunde am nationalen Körper gleichzuachten ist? Ihre Vernarbung ist nie eine feste gewesen. Sie ist immer wieder, in schweren Krisen, aufgebrochen. Die furchtbarste dieser Krisen war der Dreißigjährige Krieg, der Deutschland ausgesogen und beinahe völlig entkräftet zurückgelassen hat.

Es scheint, als wären wir den Fremden heimgestorben
und gehn zur Schlachtbank hin als wie das dumme Vieh.
Was sind? ach, was sind wir? Ein Scheusal unsren Freunden,
den Nachbarn ein Gespött, ein Anstoß unsern Feinden ...

O Untreu, falsche Treu! Der Christen größte Seuche,
Zerrüttung aller Ständ', Zergliederung im Reiche:
ein' solche Christenheit, die ärger als Türkei!
O du armes Deutschland du,
wie bist du gerichtet zu!
Vor warst du an allen Gütern reich!
Jetzt bist du mehr als einer Witwen gleich.

So reimt der Elsässer Moscherosch im Jahre 1652, ein Mann, der das deutsche Schicksal im Herzen trug.

Ich habe von rein dynastischen Gegensätzen gesprochen, die vielleicht noch nicht ausgeschaltet seien. Säßen aber auch die sechsundzwanzig letzten deutschen Fürsten noch auf ihren Thronen, so würde ihr nationales Gefühl und auch unser nationales Gefühl nicht zulassen, innere deutsche Kriege zu führen, wie es noch 1866 zwischen Preußen und Baden geschehen konnte, oder gar gegen die deutsche Idee Krieg zu führen, wie es damals geschehen ist. In dieser Beziehung ist das verflossene halbe Jahrhundert, trotz alledem und alledem, nicht vergebens gelebt worden.

Es ist unumgänglich, in diesem Zusammenhang von Bismarck zu reden. Er sagt wörtlich von diesem Einheitsgefühl: »Ich sehe in dem deutschen Nationalgefühl immer die stärkere Kraft überall, wo sie mit dem Partikularismus in Kampf gerät, weil der letztere, auch der preußische, selbst doch nur entstanden ist in Auflehnung gegen das gesamtdeutsche Gemeinwesen ...« Und in ebendemselben Kapitel seiner »Gedanken und Erinnerungen« legt er das großartigste Zeugnis von der Stärke dieses Einheitsgefühls in ihm selber ab, indem er den Fall erwägt, daß diese heilige Empfindung mit seiner sattsam bekannten preußisch-dynastischen Dienstmannentreue in Konflikt käme. Er sagt: »Aber ich würde auch in diesem Falle immer der Wirkung des nationalen deutschen Gefühls mich nicht entziehen können und mich nicht wundern, wenn die vis maior der Gesamtnationalität meine dynastische Mannestreue und persönliche Vorliebe schonungslos vernichtete.«

Wie man auch immer zu Bismarck stehen darf, hier ist er der Deutsche, wie er sein soll, weiter nichts! Hier wird ihm jeder beipflichten, der dem deutschen Eintrachtsgedanken unbedingt ergeben ist. Wer ihm jedoch nicht so unbedingt, sondern nur bedingt anhängt und zum Beispiel sein dynastisches Gefühl höher stellt, wird sich durch diese Äußerung Bismarcks verletzt fühlen. Ja, es hat trübe und finstere Zeiten gegeben, wo das dynastische Gefühl zu gebieten schien, den deutschen Einheitsgedanken mit Feuer und Schwert zu verfolgen, und diese Verfolgung wirklich stattgefunden hat. Unter solcher Verfolgung schwer zu leiden hatte seinerzeit mancher ausgezeichnete Mensch und Mann, Fritz Reuter zum Beispiel, der, seiner deutschen Gesinnung wegen nach einjähriger Untersuchung zum Tode verurteilt, vom König zu dreißigjähriger Festungshaft begnadigt wurde. Solche Tatsachen scheinen uns heute, Gott sei Dank, in jeder Beziehung absurd, und es liegt darin auch wiederum der Beweis, wie tief, trotz allen bitteren Geschicks, das Einheitsbewußtsein im deutschen Volke Wurzel geschlagen hat.

Ich mag nicht glauben und werde nicht glauben, daß es heute und zukünftig jemals wieder möglich sein könnte, deutsche Stämme gegeneinander ins Feld zu stellen, und Bismarck hat für heut und alle Zukunft nicht mehr recht mit dem furchtbaren Wort, das man ebenfalls in seinen »Gedanken und Erinnerungen« nachlesen mag, wonach das Ergebnis dynastisch-partikularistischer Tendenzen die Tatsache bleibe, »daß der einzelne Deutsche leicht bereit ist, seinen deutschen Nachbarn und Stammesgenossen mit Feuer und Schwert zu bekämpfen und persönlich zu töten, wenn infolge von Streitigkeiten, die ihm selbst nicht verständlich sind, der dynastische Befehl dazu ergeht«. Dazu ist der Deutsche heut und in Zukunft nicht mehr bereit.

Man denkt im übrigen, wenn man sich zur Reichseinheit bekennt, nicht an die Ausschaltung aller Gegensätze, die ja, innerhalb eines gesetzmäßigen Zustandes, dem Ganzen nur fruchtbringend sind: Gegensätze der Landschaften und Stämme, der politischen und religiösen Gemeinschaften! Aber das Trennende darf das Gemeinsame nicht verdunkeln, was in Volkstum und Sprache so überwiegend vorhanden ist. Klüfte können überbrückt, Gegensätze ausgeglichen werden. Es muß ein herrschender guter Wille dazu vorhanden sein. Der stärkste Feind des Reichsgedankens ist vielleicht das gewaltige Kontingent derer, die ihrem Wesen nach gleichgültig sind. Ich erspare es mir und Ihnen anzuführen, was alles diesen Menschen leider vollkommen gleichgültig ist. Es kommen dazu jene Trübseligen und Hoffnungslosen, die eine Zeit notwendigerweise hervorbringt, in der sich, mit unserem schlesischen Landsmann Gryphius zu reden, unser Vaterland gleichsam in seine eigene Asche verscharrt. Aber auch diese müssen zum Glauben, zur Liebe, zum sozial-nationalen Leben erweckt werden. Denn nur Umfang und Gedeihen der gesamten Nation bedingt Umfang und Gedeihen des einzelnen. Es ist nach innen und außen etwas ganz anderes, einer zerrütteten, zersprengten und deshalb verarmten kleinen Familie anzugehören als einer großen, gesunden, von starkem Zusammenhalt: diese bietet dem einzelnen unabschätzbare Segnungen. Gedenken wir der abgesprengten Teile unseres Volkstums und insonderheit unserer österreichischen Sprach- und Blutsbrüder, gedenken wir der Leiden, die sie zu erdulden haben, der Sehnsucht, mit dem Ganzen des Reiches vereint zu werden, die sie bewegt, und wir werden den Wert der deutschen Einheit nicht weiter bezweifeln.

Man muß es sich versagen, im Rahmen einer kurzen Ansprache das Mysterium des Deutschtums anders als oberflächlich zu berühren: es ist unerschöpflich tief. Der Weg des Deutschtums in der Geschichte ist ein breiter Leidensweg und Ruhmesweg. Wir sind durch Glanz und Elend, durch Triumphpforten und Höllentore hindurchgegangen. Wir haben an furchtbaren Irrtümern wie an Krebsgeschwüren gekrankt und deswegen schreckliche Kuren durchmachen müssen: wir sind aber immer wieder auf die Beine gekommen. Wir stehen augenblicklich in einer Umbildung, einer ungeheuren organischen Krisis, die nur die stärkste Natur überwinden kann. Doch wir werden sie überwinden. Wir sind verpflichtet zu glauben, daß diese Umbildung schließlich und endlich zu unserem Besten ausschlagen wird. Überhaupt: wir sind zum Glauben verpflichtet! Zum Glauben an unsere reiche und ehrenvolle Zukunft, die sich auf unserer Kraft zur Einheit erheben wird. Die Zellen und Gewebe eines kranken Körpers zerfallen ohne Zusammenhalt. Unsere Parole sei: Innerer Friede! Äußerer Friede! Arbeit an uns! Arbeit für uns! Arbeit für den menschlichen Fortschritt überhaupt! – Halten wir Einkehr, besinnen wir uns auf uns selbst! auf den Reichtum der deutschen Volksseele! Vertiefen wir uns in den deutschen Kulturbesitz! Und wir werden Schätze genug finden, unser Selbstbewußtsein zu stärken, unseren natürlichen Mut und Stolz wiederzugewinnen: wir haben in dieser Beziehung keinen Grund, hinter irgendeinem Volke der Welt zurückzustehen.

Ich bin, wie Sie bemerkt haben werden, überzeugt von der deutschen Wiedergeburt. Ich würde nicht hier stehen, wäre ich ein Schwarzseher. Dabei verhehle ich mit die dunklen Wolkenbildungen nicht, wovon ein großer Teil unseres Horizontes noch umlagert ist. Aber ich setze ihnen die Kraft der neuen Tage, die Kraft der kommenden Sonnen, entgegen. Ich glaube nicht an die Politiker, die behaupten, bereits das Gras auf dem Grabe des deutschen Volkes wachsen zu hören. Es ist überhaupt nicht gut, allzuviel Gras wachsen zu hören. Viel besser ist, tätig und gläubig zuzugreifen und von der Jugend zu nehmen, was uns ein sorgenschweres, enttäuschtes, überkritisches Alter nicht geben kann. Neue Generationen müssen uns verjüngen, ehe sie uns ablösen. Die Zukunft kann nur das Werk der Verjüngung sein. Möchten sich die Zeichen der Verjüngung von Tag zu Tag mehren in unserer Nation! Daß es so sein wird, wer zweifelt daran? Die da heraufkommen und das neue Reich, die neue Welt bilden und von unseren heutigen Leiden nichts mehr wissen werden, können freilich auch nur wieder Menschen sein, dem allgemeinen Lose der Menschheit verfallen. Niemand kann Licht ohne Schatten beschert werden. Aber sie werden bei aller Sorge und Plage, wie es Lebenden zukommt, die Kraft und den Mut zum Dasein, die Freude am Dasein nicht einbüßen und im ganzen dankbar dafür sein wie wir. Jene aber, das wollen wir nicht vergessen, die im furchtbaren Blutsturme des Krieges vor uns hingerafft worden sind, haben durch ihren Opfertod die Stärke des deutschen Gedankens auf eine unzweideutige Weise verkündet. Nie dürfen sie von uns vergessen oder gar innerlich verraten werden. Sie mahnen uns keineswegs zum Krieg, aber sie fordern von uns, und zwar in einer ehernen Sprache, die friedliche Treue zum deutschen Gedanken.


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