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Rede, bestimmt für die Tagung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft in Bochum im Juni 1927.
Zu Stratford am Avon, und zwar am Ufer des Avon, habe ich mir ein Schilfrohr gebrochen. Es wird in meinem schlesischen Hause aufbewahrt. Wenn ich es ansehe oder in die Hand nehme, tritt mir das Leben Shakespeares, des schlichten Stratforder Bürgers, besonders nahe. Wie oft mag er in diesem Flüßchen Avon gebadet und sich eine Pfeife aus ebendemselben Schilfe geschnitten haben! Am Avon hat er als Kind gespielt und sicherlich nach seiner Flucht aus der Welt, nach seiner Heimkehr, oft und oft gestanden, von dem immer gleichen freundlichen Anhauch des Flüßchens beruhigt. Die wenigen Blätter des Kirchenbuches, die das Datum seiner Geburt von dem seines Todes trennen, besagen nichts: weder über das Werk, das sich inzwischen geboren, noch über das menschliche Schicksal, das sich vollendet hatte.
Es kann kein leicht zu tragendes Schicksal gewesen sein.
Der große Dichter kehrte sich ab von der Welt, er tat es mit Protest nicht nur gegen sie, sondern gegen sich selbst. Die Vernachlässigung seines Werkes durch ihn selbst, die an Verleugnung grenzte, ist bekannt. Zwar ging er nicht in ein Kloster, wie sein Hamlet anempfiehlt, aber er suchte ein ähnliches Quietiv nach seiner Art: das eingeschränkte, schlichte Landleben. Der aufgescheuchte, aufgeregte, durch die Enthüllungen seiner schmerzlichen Seher- und Gestalterkraft verstörte Mann hat, wie es scheint, den Versuch gemacht, das Pandämonium seines Innern zu ersticken, seinen Seherblick nicht mehr nach innen, sondern auf schlichte, naheliegende äußere Dinge zu richten, was ihm hoffentlich auch gelungen ist. Er hat seine Grenzen eingeengt, das grelle Licht seiner Seele gedämpft, weil er das tun müßte, um zu leben.
Warum ich dies erwähne? Um nur einen Augenblick unser Herz auf den Urheber eines überpersönlichen, fast unpersönlichen Werkes hinzulenken, der es schuf in einer höheren Mission, wie alle großen Werke geschaffen werden, einer Mission, unter der er, wie es scheint, fast zerbrach. Ich weiß, was es heißt, eine Mission als Dramatiker durchkämpfen. Ich glaube nicht, daß der Kampf Shakespeares leicht gewesen ist. Seine bitteren Erfahrungen in diesem Kampf waren gewiß von der Art, daß es ihn nicht einmal überraschen würde, wenn er wissen könnte, daß man ihm dreihundert Jahre nach seinem Tode sein Werk überhaupt abzustreiten versucht. Aber: »Tue dein Werk und zerbrich!«
Es ist das Werk, das heute in diesem Kreise, in dieser Stadt und Gegend allüberall seine Sprache spricht.
Von wohlwollenden und freundlichen Stimmen, berufen, den Sessel des Ehrenpräsidenten dieser festlichen Tagung einzunehmen, habe ich zunächst meinen herzlichen und gebührenden Dank auszusprechen. Die Shakespeare-Gesellschaft hat, umschlossen von der Gastfreundschaft dieser mächtig wirkenden Stadt und zusammen mit dieser Stadt, meine Wahl gutgeheißen, und ich bin mir der großen Auszeichnung voll bewußt, die ich damit genieße.
Von einer seltsamen Schönheit ist der Gedanke, hier in Bochum den Geist Shakespeares gefeiert zu sehen. Es gibt, obenhin gesehen, keinen größeren Gegensatz. Ringsum Eisenwerke, mächtige Schmelzöfen, ein Volk von Schmieden gleichsam, deren ernstes Schicksal unlöslich mit Eisen und Feuer verschwistert ist. Der Ernst dieses Schicksals und der Macht, die sich in ihm gebiert, ist so majestätisch, daß man sich fragt, wie sich irgendein Spiel dawider behaupten soll oder kann. Ist doch Shakespeare – das, was wir unter diesem Namen begreifen – als ein Spiel des Geistes aufzufassen.
Die Schönheit aber dieser Vorstellung liegt gerade in ihrem Gegensatz.
Größe ist hier, und Größe ist dort. Es wird Leute genug geben, die mit platten und gewöhnlichen Sinnen nichts Großes in diesen Hochöfen, Hütten und Bergwerken, Schornsteinen und Fabriksälen entdecken können. Aber die Größe ist da. Sie überragt das Gewöhnliche allenthalben, wo sich darauf ein Auge richtet, das es gewahr werden kann. Diese Größe schließt sich zusammen aus den Geräuschen und Stimmen der Arbeit zu einer fast betäubenden Arbeitssymphonie. Sie schließt sich zusammen ohne Absicht. Wer hineinhört, sich in sie vertieft, vernimmt alles, aber auch alles, was des Menschen Geschick an Wollen und Vollbringen, an Gelingen und Mißlingen, an Leid und Glück, Haß und Liebe, Irrtum und Wahrheit in sich schließt. Aber nicht nur die Stahlwerke Bochums und seines Umkreises, auch die Werke Shakespeares bilden eine solche Symphonie, nur daß ein einziges Haupt ihr Urheber ist. Die Vielfalt unzähliger Gestalten gebiert ein einziger Mensch und Geist, ebensowenig wie dieses weite Industriegebiet interessiert an einem symphonischen Zusammenklang und doch einen solchen dem höheren Sehen darbietend: einen solchen, in dem, so gut wie in jenem, Wollen und Vollbringen, Gelingen und Mißlingen, Leid und Glück, Haß und Liebe, Irrtum und Wahrheit, Leben und Tod ineinander verschlungen sind.
Hier freilich, hier in Bochum, ist Gegenwart, während das Werk Shakespeares vergangene Zeit spiegelt. Es spiegelt also Vergangenheit, wodurch es scheinbar zwiefach unwirklich ist. Der spiegelnde Spiegel, der magische Spiegel aber der Vergangenheit ist Shakespeare selbst. Die Magie seines Genies gibt der Vergangenheit eine besondere Art Gegenwart. Der Zauber verdoppelt sich, wenn wir erwägen, daß durch mystisches Verfahren das Bild von dem Spiegel losgelöst, aus ihm herausgenommen, abgedrückt und im Buch auf uns gekommen ist. Und wenn wir ferner dessen gedenken, was wir eben im Theater, im Schauspiel, erlebt haben, so haben wir durchaus eine neue Realität, die, wennschon gespielt, in ihrer Weise vollkommen ist. Der lebendige Geist des toten Dichters ist mittels der Kunst zur gegenwärtigen Wirklichkeit geworden.
Hat man nötig, den Dienst am Geiste Shakespeares in dieser eisendröhnenden Gegend zu entschuldigen oder zu verteidigen? »Erkenne dich selbst!« diese Inschrift hat über dem Tempel zu Delphi gestanden. Auf dem Wege dieser wichtigsten Funktion liegt ja die Geburt des Menschen mit der Geburt des menschlichen Geistes überhaupt. Sollen wir sagen, auch das Werk Shakespeares sei aus dem Bestreben zur Selbsterkenntnis hervorgegangen?
Gewiß ist es so, und damit allein schon wäre es legitimiert. Die Legitimation aller wahren Kunst liegt in diesem Ursprung, wahrscheinlich auch die aller Wissenschaft. Das Streben nach Selbsterkenntnis, ideell erhöht, hat die menschlichen Formen eines Zeus oder eines Apoll in Marmor ausgeprägt, und er hat sie zugleich in harmonischer Schönheit strahlen gemacht. Bleiben wir bei dem Bild des Apoll! Es ist das Symbol des Sonnengestirns. Dieser Gott gilt als der allsehende, womit auch die Verbindung mit dem Selbsterkenntnisdrang des Menschen gegeben ist. Auch ist es Apoll, dessen Geschenk jede echte Dichtung ist. Er strahlt aus dem Werke Shakespeares hervor mit der gleichen Glanzmacht, die es erschuf, so daß es die Licht-, Leucht- und Erkenntniseigenschaften einer Sonne an sich hat. Und da es so ist und da sie zahllose menschliche Geister bewegt, beglückt, verzückt und ernährt, die wie Planeten diese Sonne umkreisen, erübrigt es sich, die Frage nach der Berechtigung des Shakespeare-Kultes überhaupt zu erörtern.
»Man kann über Shakespeare gar nicht reden, es ist alles unzulänglich«, sagt Goethe. Indem er es aber sagt, redet er schon von ihm. Im »König Johann« haben wir seinen mächtigen Atem gespürt, und morgen werden wir aus berufenem Munde über ihn sprechen hören. Der Dichter ist – wer wüßte das nicht! – auch ein deutscher Nationalbesitz, dank dem Dienst am Wort seines Werkes, der bereits vor Goethe begonnen hat. Und jene Diener am Wort des großen Briten und größeren Menschen sind es, die bei uns in der hochberühmten Shakespeare-Gesellschaft vereinigt sind. Ich habe allen Grund, darauf zu verzichten, mit diesen gelehrten Männern in Wettstreit zu treten, diesen Shakespeareforschern und Shakespearepflegern, die zum Teil ihr Leben der einen edlen Aufgabe gewidmet haben. Freilich kreise auch ich mit ihnen wie mancher andere um das Sonnengestirn herum, belebt und erquickt von seinen Strahlen, ihm aber auf andere, wenn auch verwandte Weise verhaftet, so daß ich mich auf mehr innerlich klingende Weise ihrem Chorus anschließe. Seien und bleiben wir alle Diener am Werk und in diesem Zeichen des Lebens vereinigt!