Jeremias Gotthelf
Uli der Pächter
Jeremias Gotthelf

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Eines Abends wars, als ob der Arzt nicht fort könnte vom Bette, er nahm eine Prise nach der andern, endlich kehrte er sich um, stäubte den Schnupftabak von den Kleidern und sagte: «Fraueli, wenn es was geben sollte in der Nacht, so laß mich rufen.» «Mein Gott, Doktor, was meint Ihr? Stirbt er mir, stirbt er?» wimmerte Vreneli. «Kann es dir nicht sagen,» antwortete der Arzt, «aber endlich muß es einen Weg gehen, den oder diesen, so kann es nicht bleiben, die Zeit ist um, wo es sich entscheiden soll; vielleicht, daß es diese Nacht geschieht, und schaden tut es nichts, wenn der Arzt nicht weit ist, manchmal kann man helfen, manchmal nicht, manchmal kann man Diener der Natur sein, manchmal muß man es nehmen, wie Gott es will.»

«Guten Tag, Fraueli, guten Tag, geschlafen ein wenig? Es ist kein Wunder! Wie gehts? Mit Schein nicht bös?» Diese leisen, freundlichen Worte weckten Vreneli, welches vom Schlafe überwältigt worden war. Hochauf fuhr es vom Stuhle, es war helle im Stübchen; der Arzt, den die Teilnahme unberufen hergetrieben, stund am Bette und prüfte den Kranken. «Mein Gott, mein Gott!» rief Vreneli. Da legte der Arzt den Finger auf den Mund, winkte Vreneli vom Bette weg durch die Türe in die andere Stube und sagte leise: «Fraueli, er kömmt dir auf, die Sache ist gut, jetzt schläft er ruhig, schwitzt recht, jetzt nur nicht geredet.» Vreneli wollte laut auffahren, bachweise strömten ihm die Tränen über die Backen nieder. «Bsch, bsch,» machte der Arzt, «geh und mache mir ein Kaffee. Nehme sonst nichts bei den Patienten, sie meinten gleich, man wolle den Lohn doppelt. Aber ich möchte ihn erwachen sehen und hatte noch nichts diesen Morgen. Z'pressieren hast nicht, es wird noch eine Weile gehen; will unterdessen in den Stall, sehen, wie du haushast, und deine Knechte rühmen oder schelten, je nachdem sie es verdienen. Ein fremd Wort wirkt manchmal, zuweilen nehmen sie es einem übel, aber was frage ich den Hudelbuben nach!» Vreneli mußte wieder ins Stübchen, bevor es des Arztes Befehl nachkam. Was es dort machte, weiß Gott.

Der Arzt trappete mit den Händen in den Taschen ums Haus herum und las dem Dienstbotenpersonal in seiner barschen, aber heitern Weise tüchtig den Text. «Was zum Teufel, den Mist, welchen du gestern aus den Ställen gemacht, noch nicht verlegt! Wohl, das sollten mir meine Buben machen, ich führte sie beim Hagel am Hals auf den Misthaufen! Das Jaucheloch läuft ja über! Was ist das gemacht! Was gibt es doch einem von euch zu tun, ein Faß oder zwei auszuführen? Aber wenn man nicht immer hinten und vornen ist, so ist nichts gemacht; wohl, das wird sauber aussehen in den Ställen. Auf meine Seele, wenn ich es einmal so fände, ich jagte das ganze Pack mit dem Stecken vom Hof, ihr solltet euch schämen wie Laushunde! Auf die Ehre hättet ihr es nehmen sollen, die Sache recht zu machen. Das Fraueli hat sich fast getötet, aber an allen Orten kann es nicht sein. Ich habe einen alten, siebenzigjährigen Trappi und einen Jungen, nur so einen Löhl, aber es ist mir ein jeder von ihnen, der Alte und der Junge, am kleinen Finger lieber als ihr alle miteinander. Nein, hört, Buben, so geht das nicht, das muß anders aussehen und zwar heute noch! Ja, lacht nur, aber gebt acht, was ihr macht, es ist Ernst. Euer Meister kommt auf, wenn er Sorg hat und man Sorg zu ihm hat. Er ist durch die Gefahr, Gottlob! Aber kömmt er da heraus und sieht die Schweinerei und das Gesudel, so bekömmt er das Gallenfieber; dann streckt es ihn, dann heißts, der Doktor habe ihn getötet, und Frau und Kinder können ihm nachweinen. Das will ich nicht; habe ich ihn mit Gottes Hülfe gerettet, so soll solch Volk mir ihn nicht töten, da bin ich gut dafür. In zwei Tagen komme ich wieder, macht daß es dann aussieht, wie es sich gehört, sonst muß mein Seel die Frau alle ausjagen, ich will es verantworten. Ich komme alle Tage in zwanzig Dörfern herum, weiß Knechte für sieben solche Höfe, will dann aber auch allenthalben sagen, was ihr für Bursche seid.»

Unter der bekannten Ecke seines Stöckleins (so gleichsam sein Wartturm oder seine Sternwarte, wenn er ausgucken wollte, was im Hause vorging) stund Joggeli. Die laute Stimme des Arztes, dem er sonst aus dem Wege ging, hatte seine Neugierde gereizt. Als der Arzt ihn dort sah, marschierte er in langen Schritten auf ihn zu und sagte: «Früh, Papa, früh; so alte Manne sollten im Bette bleiben bis bald um Mittag. Sie sind den Leuten sonst nur zur Plage mit ihrer Wunderlichkeit, besonders wenn sie nichts tun. Ihr hättet aber jetzt etwas machen können, und es wäre Euch wohl angestanden, Ihr hättet es gemacht. Ja ja, Papa, seht mich nur so sauer an, ich sage meine Sache gerade heraus und fürchte mich nicht vor einem Paar sauren Augen, die haben noch niemand erstochen. Ihr hättet dem Fraueli an die Seite stehen sollen und die Lumpenbuben da in Ordnung halten, die Frau konnte nicht an allen Orten sein; Ihr hättet wohl Zeit gehabt, es wäre aufs Gleiche herausgekommen, ob Ihr hier ums Häuschen herumsteckelt oder dort bis zur Scheune hinunter. Aber so habt ihrs, ihr Hagels Bauern, wenn ihr nur Geld habt, so fragt ihr keinem Menschen was nach, dem eigenen Bruder nicht. Ja, ihr seid ein Volk, ihr, hab es erfahren! Rette ich Hunderten das Leben und bringe sie davon, so denkt mir kaum einer daran. Tut ihm der Bauch wieder weh, läuft er zu einem andern Arzt oder gar so zu einem verfluchten Wasserschmöcker.»

«Ja, ja,» sagte Joggeli, «zuweilen kömmt einer davon, und oft gehts dem Kirchhof zu, ihr tapfern Lieferanten, was ihr seid! Meine Frau selig, die brachtet Ihr nicht davon, und der drüben wird ihr wohl nach müssen, apartig glücklich seid Ihr hier nicht.» «Um Euere Frau ists schade; wenn sie nicht einen so wunderlichen Mann gehabt hätte, sie lebte vielleicht noch, aber um sie davonzubringen, hätte man Euch doktern sollen,» entgegnete der Arzt; «der drüben kömmt davon, ja freilich, wenn Ihr mir ihn nicht hintendrein tötet mit Plagen, Quälen, Kummern wegen dem Zins. Aber eben, das will ich Euch sagen, nehmt Euch in acht damit; so gewiß Ihr das tut, will ich Euere Zunge spannen, daß Ihr sieben Wochen das Reden lasset. Das Wasser gschauen tue ich nicht, aber vom Hexenwerk verstehe ich vielleicht mehr als ein Anderer, und wenn es nötig ist, mache ich, was ich kann. Jetzt wißt Ihr, woran Ihr seid, und behüt Euch Gott und lebet wohl.» Joggeli sah ihm mit offenem Maule nach. «Er wärs imstand, der Hagels Ketzer,» sagte er, steckelte in sein Stöcklein zurück und machte sorgsam die Türe zu.

Uli war erwacht, aber unendlich matt, es war ihm wie einem, der aus dem Grabe kömmt. Er schloß bald wieder die Augen. «Komm,» sagte der Arzt, «laß ihn machen, schlafen, so viel er will, rede nicht zu viel, freue dich nicht zu sichtlich, frage ihn um nichts, und was du ihm zu essen geben sollst und wieviel, will ich dir draußen sagen. Halte dich tapfer mit den Portionen; du wirst deine liebe Not haben mit dem Hunger, wenn der einmal erwacht, oft hören müssen, du gönnest ihm das Essen nicht. Aber dessen mußt du dich nicht achten. Sag nur, ich habs befohlen.»

Vreneli hatte das Herz voll von Dank und Freude, die Augen voll Tränen, aber reden konnte es nicht, es konnte dem Arzt bloß die Hand geben, als sie draußen waren. Der verstund das aber wohl, drehte sich um, stund ans Fenster, tat, als nehme er eine Prise und wische den überflüssigen Schnupf ab. Der Arzt war sehr rauh, aber nur auswendig; es gibt andere, welche es umgekehrt haben.

Uli war zum Kind geworden, mußte in jeglicher Beziehung ein neues Leben anfangen, so daß er es anfangs kaum merkte. Nachher beelendete es ihn, daß er darüber weinte, Vreneli auch, und den Arzt beschied. Der tröstete, schärfte aber aufs neue die größte Vorsicht ein, leibliche und geistige. Es fehlten Uli die Kräfte, er konnte nicht gehen, nicht einmal den Löffel zum Munde führen vor Zittern. Er hatte das Gedächtnis mehr oder weniger verloren, mußte seine Erinnerungen mühsam zusammenlesen wie ein Kind Glasperlen, welche es im hohen Grase verschüttet oder zwischen losen Steinen. Es war zum Weinen, wie das kleine Vreneli des Vaters wartete, ihn führte und half, fast als wäre er eine große Puppe. Joggeli hielt sich aus Respekt vor des Arztes Worten ferne, doch konnte er sich einmal nicht enthalten, Uli, der in der Sonne saß, näher zu treten und ihm etwas zu sagen. Die Antwort fiel etwas linkisch aus, daß Joggeli sagte: «Dir wärs besser, du lägest im Kirchhof.» Aber wie das Wort, welches Uli nicht einmal verstund, heraus war, erschrak er sehr, steckelte, so streng er es vermochte, seinem Stöcklein zu und schloß sorgfältig hinter sich die Türe.

Indessen ging es bei Uli rascher als bei einem Kinde, jeder Tag brachte seinen Fortschritt, derselbe ward immer entschiedener, und zwar hier auf erfreuliche Weise. Er konnte alle Tage besser gehen, das Gedächtnis stellte sich allmählich wieder ein, aber dazu auch ein Hunger, welcher Vreneli manchmal den Angstschweiß auf die Stirne trieb. Wenn ein Mann um Essen bittet, noch um ein Stücklein, um ein ganz kleines, ganz wie Kinder es tun, und die Frau sagen muß, ganz wie einem Kinde: «Ich darf weiß Gott nicht, warte nur eine Stunde, dann gebe ich dir wieder,» und der Mann die Minuten zählt, so ist es allerdings ein schwer Ding für eine Frau, fest zu bleiben und nicht an das Sprüchwort sich zu halten: Wenig schadet wenig, nicht zu denken, daß aus vielem Wenigen viel wird und endlich um eines einzigen Tropfens willen ein Glas überfließt. Was Vreneli ganz besonders freute, war eine Weichheit des Gemütes, eine Ergebung in seine Lage, von der Uli in letzter Zeit so himmelweit entfernt schien. Anfangs erschrak es darob, hielt sie für kindische Teilnahmlosigkeit, für Mangel an Begreifen, in welcher Lage sie seien, aber es stellte sich alle Tage deutlicher heraus, daß es was anderes war.

Vor seiner Krankheit waren alle seine Kräfte überspannt, seine Stimmung unnatürlich gereizt; er glich einem Schwimmer, welcher alle seine Kräfte zusammennimmt, die Strömung zu durchschneiden, das Ufer zu gewinnen. Je schwerer es ihm wird, desto größer werden seine Anstrengungen, alles bietet er auf, das Letzte setzt er daran, bis plötzlich die Kräfte brechen, einem zu stark gespannten Bogen gleich, und der Strom ihn verschlingt. So war auch Uli zusammengebrochen im Kampf mit seinem Geschick, ein Krankheitsstrom war ihm über Seele und Körper gegangen. Als er wieder auftauchte aus demselben, aus langer Ohnmacht zu neuem Leben erwachte, war die Spannung vorüber, die Stimmung eine ergebene, dankbare; es stellte sich das Vertrauen ein, die Züchtigung sei vorüber, der Herr, der in die Hölle führt und wieder heraus, der bis hierher geholfen, werde auch ferner helfen. Uli konnte sagen: «In Gottes Namen, komme was da wolle, wir wollen es annehmen, wir wollen das Mögliche machen, daß niemand an uns verliert, auch haben wir ja gute Leute, welche Geduld haben werden. Wir sind jung, und wenn uns Gott gesund läßt, so ist nichts verloren und es macht mir keinen Kummer, uns mit Ehren durchzubringen, was will man mehr? Das Reichwerden wollen wir aufgeben, was hat man davon als Angst und Not und Zorn und Streit?»

Diesem pflichtete Vreneli vollkommen bei. Wenn sie nicht zappelten und hasteten, nicht allzu nötlich täten und Gott ihnen ein oder zwei bessere Jahre sende, so werde es so schlimm nicht gehen; wenn man einander treulich helfe, sei viel zu machen und alles zu ertragen, es danke dem lieben Gott, daß es so gekommen. Uli war auch dieser Meinung. Wohl kam ihm zuweilen eine Hast an, daß er aufsprang, meinte, er müsse dran hin, müsse alle seine Kräfte anspannen, um den steckengebliebenen Wagen zu heben und zu stoßen, aber Vreneli konnte ihm durch ein freundlich Wort die ihm noch so nötige Ruhe geben, daß er wieder nachließ und sagte: «Du hast recht!»


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