Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Paulinzelle

Keine Regel ohne Ausnahme. Nach Paulinzelle wollte ich, und da bin ich nun wirklich.

Der Weg von Schwarzburg nach Paulinzelle über die Berge soll sehr hübsch sein, und ich hätte gewiß gestern nur meinen Koffer auf die Bahn gesetzt und nicht auch mich selber, wenn nicht die Wolken so niedrig herabgehangen hätten. Aber kaum, daß das Züglein abgedampft war, brach draußen die Sonne durch, während im Coupé ein Platzregen über mich niederging. Mir gegenüber saß nämlich ein Ehepaar, das sichtlich erregt war. »Das gehört in die Zeitung«, sagte er, und sie: »Ein Roman, Max!« Zeitungsromane sind ja sehr einträglich, dennoch widerstand ich der Versuchung, da billig einen Stoff einzuheimsen, und schwieg. Sie aber begannen mir trotzdem ihre Schwarzburger Erlebnisse mitzuteilen. Sie waren dort in einer Pension, wo es nach ihrer Darstellung »herrliche Bilder, sogar Landschaften«, aber sehr schlechtes Essen gab – »ist das nicht ein Roman?« Man muß auch mündlich immer zur Klärung über die wichtigsten Lehren der Poetik beitragen, und so erwiderte ich bescheiden, mir persönlich wären in einer Pension schlechte Bilder und gutes Essen lieber, aber ein Roman sei das eigentlich nicht. »So?« rief die Dame. »Und was mir dort mit dem Zimmermädchen passiert ist? Das ist ein Roman, das müssen Sie hören!« Sie hatte sich nämlich mit dem Mädchen gezankt, weil die Museumsassistentin die Gemälderahmen sauberer hielt als anderes, was allerdings nicht mit der Kunst zusammenhängt. Nun, anhören mußte ich diesen thüringischen Pensionsroman allerdings, denn das Bahnchen hat keine Durchgangscoupés, und so behaglich sein Tempo ist, so muß man sich doch das Aussteigen während der Fahrt überlegen. Als die beiden jedoch in Oberrottenbach – das letzte Kapitel der Dichtung war noch lange nicht in Sicht – gleichfalls ausstiegen und mir zu meiner freudigen Überraschung mitteilten, daß sie auch nach Paulinzelle wollten, da ließ ich sie in den neuen Zug klettern und stieg dann im letzten Augenblick in ein anderes Coupé.

Nun war ich allein, und während vor meinem Aug die sanften Hänge des Rottenbachtals und die Hütten von Milbitz vorbeiglitten, aus deren gedrücktem Häuflein die Kirche mit der seltsamen Schweifkuppel hoch emporragt, konnte ich mich endlich darüber freuen, daß ich eine Stätte betreten sollte, deren Anblick ich mir schon so lange gewünscht hatte. Nicht deshalb, weil sie in allen Reisebüchern den Stern hat und »eine der schönsten Kirchenruinen Deutschlands« genannt wird; ich gehe diesen Sternen, wenn ich mich sachte zu meinem Vergnügen durch die Welt schiebe, weder aus dem Weg, noch jage ich ihnen nach, und »eine der...«, das weckt keine Sehnsucht. Aber da hatte mir vor Jahrzehnten einer gesagt: »Paulinzelle, das müssen Sie sehen. Der bröckelnde Wunderbau im einsamen Waldtal – mir war ehrfürchtig zumut; es ist wie ein steingewordenes Gebet aus dem alten deutschen Volksgemüt. Ich bin kein Kunstmensch; Italien hat wenig auf mich gewirkt, die großen Dome schon gar nicht; ich hatte nur immer die Empfindung der kalten, dumpfen Luft und den Gedanken: die dies gebaut haben und nun drin Messe lesen, sind gegebene Männer, fremdem Willen so knechtisch untertan, daß sie nicht einmal aus der eigenen Seele heraus richtig fromm sein können. Paulinzelle aber – nächst der wackeren Hroswitha von Gandersheim, deren Dramen ich in meiner Doktordissertation so fürtrefflich traktiert habe, hat mir keine andere Nonne der Welt so imponiert wie die Beata Paulina de Schraplau, obwohl sie ihrem wackeren und geduldigen Eheherrn das Leben schwer genug gemacht hat.« Es war Gustav Freytag, der mir das sagte. Dann ein Eindruck, den ich selbst empfangen hatte. Ich war zu Hirsau in Schwaben und sah mir die Ruinen des Klosters an, aus denen die Ulme wächst, die Uhland besungen hat; der Mordbrenner Mélac hat hier noch viel gründlichere Arbeit getan als im Heidelberger Schloß – aber wie schön sind diese romanischen Säulenbogen! »Wenn Sie sich dafür interessieren«, hatte mir der Pfarrer gesagt, »müssen Sie nach Paulinzelle gehen; das Hirsauer war sein Mutterkloster, auch für den Stil maßgebend, aber die Tochter hat die Mutter an Schönheit weit übertroffen...« Gespannt lugte ich aus dem Coupéfenster; eine Biegung der Bahn, nun ein tiefgrünes Waldtal und mittendrin, wie Riesen über den höchsten Wipfeln aufragend, ein herrliches Portal und ragende Mauern, aber nur eine Sekunde lang; die Bahn tritt dicht an den Wald, biegt wieder, dann geht der Zug langsamer: die Station.

Außer meinem Dichterpaar stieg noch ein großer Haufe Menschen aus, denn wer durch Thüringen kommt, hält hier an und bleibt von einem Zug zum andern; dagewesen sind sie dann, und gesehen haben sie's in ihrer Art, und die meisten von ihnen würden nicht mehr sehen, wenn sie drei Wochen dort blieben; die Leute haben also recht. Aber auch ich schien mir nicht töricht, wenn ich den Troß den Dauerlauf auf der staubigen Straße antreten ließ und gemächlich hintendrein ging. Ein Kirchhöflein liegt am Wege, klein und armselig; seit Jahrhunderten begraben die Dörfler dort ihre Toten, und es ist noch sehr viel Platz, denn Paulinzelle, »Ort: Paulinzella, Bezirk: Stadtilm, Fürstentum: Schwarzburg-Rudolstadt«, hat nur »24 Häuser, 117 Seelen un etliches Viechzeug«, wie mir ein stattlicher Bauer sagte, der desselben Weges ging. »Vom Viechzeug«, fügte er bei, »wäre no mehr zu gebrauchen, aber Menschen sind grad genug« – es war eine individuell nicht unrichtige Meinung, denn er hatte »bis heut elf lebige Kinder, aber morgen sind's zwölfe«. Ehrfürchtig besah ich mir den Mann, der ein Zehntel der gesamten Bevölkerung des Dorfs geleistet hatte, und fragte dann, wovon die Leute in Paulinzelle lebten. »Dieses«, erwiderte er mit jener halb ernsten, halb schalkhaften Lehrhaftigkeit, die man unter den Bauern dieses Gaus so häufig findet, »is verschieden. Der Herr Friedrich Schulze« – er deutete auf ein stattliches Haus abseit vom Wege – »lebt von dene Orgeln, die er bauet, das hochfürstliche Oberforstamt aus unserem Steuersäcklein, und wir andern, nor der Herr Menger nech, wir müssen so in Nödhen vom bißchen Acker und bißchen Viechzeug und einigem Torfstechen leben dhun. Früher«, fuhr er fort, »hat's o (auch) no etwas Weinbau gegeben, aber das hat die Polizei verboten, denn die armen Essighändler, die wollen o leben.« Ja, sagte ich, schon Luther habe in ähnlichen Worten den Wein von Paulinzelle gerühmt. Worauf er: »Mit Verlaub, aber wenn Se solches wissen, denn sollten Se ›la‹ sagen, un nech ›le‹, Paulinzella. So steht's im Kirchenbuch un o an der Statschon un is so richtig. Nämlich: erstens Paulina un zweitens Zella. Die Paulina, das war nu also so 'ne Gadohl'sche, da ist nichts weiter zu sagen. Aber Zella, das heißt Se in einer alten Sprache – ob's nu lateinisch is oder römisch oder gar Klostersprache – 'ne Kirche. Paulinzella.« Ich dankte und fragte dann, wovon der Herr Menger lebe. »Von der Ruine«, war die Antwort. »Denn er is der Gastwirt hier, der hat was von der Sach, wir nech!« Nun, meinte ich, den Stolz und Ruhm hätten sie doch alle. Er lächelte. »Mech machet's nech Stolz, mech machet's demütiglich. Wenn ech so seh, wie se laufen un schwitzen, un wenn se dort sind, sagen se ›Ah!‹ un schaun auf d'Uhr und jagen redhur, beim Menger ä Würstchen un wieder schwups in 'n Zug, da denk ech immerzu: Herre Gott, du bist gerecht! Uns hast du d'Arbeit zugedheilet un dene die Narrheit!« Ob denn nicht welche, fragte ich, über Nacht blieben. »Ja«, erwiderte er, »Geschäftsreisende«, worunter er aber Leute verstand, die einen verständigen Zweck verfolgten, zum Beispiel Künstler, die Wald und Ruine malten, und Sommerfrischler, die hier »billech rodhe Backen« kriegen. »Ohne Geschäft«, fügte er bei, »wär's do gar zu närrisch«, und holte mich dann aus, was ich hier wollte, denn hinter mir her brachte der Stationsbote mein Kofferchen. Ich war aber dunkel wie ein Diplomat, der nach etwas gefragt wird, was er selber nicht weiß, denn ob ich »zu närrisch« war oder aus »Gschäft« die Ruine in Worten abmalte, stand noch nicht fest, das hing davon ab, wie sie auf mich wirkte. Diese Zurückhaltung machte den Mehrer von Paulinzelle sehr nachdenklich, und er musterte mich nun scharf, bis wir vor dem Gasthof Abschied nahmen.

Ich ließ mir ein Zimmer anweisen, dann im Garten vorm Haus ein Frühstück rüsten und sah nun zu, welche Schatten der bevorstehende Rückmarsch der Fremdenarmee vorauswarf. Der Karle, der Kellnerbursch, zog über seine sauberen Hemdärmel einen schmierigen Frack, auch Minchens Erscheinung – sie trägt aber diesen niedlichen Namen schon recht lange – gewann durch eine vorgebundene Schürze nicht sonderlich, dann brachten sie Bier, Kaffee, Schinkenbrote und warme Würstchen herbei; es ist die Sorte, die man in ganz Mitteldeutschland Wiener, in ganz Österreich aber Frankfurter nennt, denn so ist der Mensch: selbst die Würste müssen einen Namen von weither haben, sonst schmecken sie nicht. Alles wie auf einem Bahnhof; auch Photographien und Ansichtskarten werden ja jetzt ins Coupé gereicht. »Wir haben zwanzig Arten Grüße aus Paulinzelle«, sagte der Karle stolz; die Ruine ist auf allen, nur ist sie hier gelb, dort blau und hier wieder rot bemalt; auf einer bildet sie sogar einen grünen Klecks, weil das Mondschein ist. Auch die Sprüche sind verschieden, einige blitzen nur so von Witz, eignen sich aber eigentlich mehr zur Versendung in geschlossenem Kuvert, denn es ist kaum zu sagen, wieviel Zartgefühl und keuscher Humor bereits im Dienste dieser noch jungen Industrie stehen. Nun aber kam das Heer gezogen. Als Vorhut ein alter, nervöser Herr, der seine Frau und drei Töchter vor sich hertrieb: »Der Zug!... der Zug!« Aber Ansichtskarten kauften die Fräulein doch in fliegender Hast und zogen dann im Laufen den Bleistift. Nun das Hauptkorps; drei Minuten sah und hörte man nichts als kauende hochrote Menschen, die über die Hitze klagten; nur eine Gruppe schwelgte im Nachgenuß der Ruine: ein dicker, ältlicher Herr mit seiner jungen Frau und einem gleichfalls jüngeren Herrn mit roter Krawatte und geöltem Haar. Der Alte schwelgte eigentlich nur in Würstchen, sie aber sagte: »Herr Meyer, war das nu nich einfach göttlich?« – worauf der geölte Meyer: »Gnädige Frau! es war doppelt göttlich! Aber was sagten Sie nur, als wir zwischen den Säulen standen, es war reizend, ich möchte es mir aufschreiben.« Er zog sein Notizbuch hervor. »Ich sagte«, erwiderte sie mit gespitztem Munde, »es sei alles im edelsten romantischen Stil!« – »Herrlich!« rief Meyer notierend, und auch der glückliche Besitzer von so viel Bildung meinte bewundernd: »Trudchen, wo hast du denn das wieder her?« Ich hätte es ihm sagen können, aus dem Baedeker hatte sie's, nur steht dort: »im edelsten roman. Stil«, und das ist die Abkürzung für »romanisch«... Meine Reisegenossen aber? Ganz bang spähte ich umher: sollten sie in der Ruine zurückgeblieben sein, wohin ich nun wollte? Gottlob, da standen sie kauend im Gewühl. Aber nun hatten sie auch mich erspäht und traten auf mich zu: »Wo waren Sie denn? Nun haben Sie den Schluß nicht gehört! Aber Sie kommen wohl mit?« Ich bedauerte, ich bliebe hier. Die Frau starrte mich verblüfft an, mußte nun aber fortstürzen. »Der Mensch bleibt in Paulinzelle«, hörte ich sie ihrem Gatten sagen, »Max, das ist ein Roman!« Glückliche Frau, der aus den bescheidensten Keimen auf Schritt und Tritt Dichtungen ersprießen!

Als alles stille war, ging ich zu der Ruine. Rechts vom Gasthof führt der Weg ins Waldtal hinein. Zunächst trifft man auf eine niedrige, zerfallene Mauer, die Grenzmauer des Klosters. Dann geht es, sacht ansteigend, am Amtshaus vorbei, und wie man um seine vorspringende Ecke biegt, da steht's vor einem wie aus der Erde gewachsen: das herrliche, säulengetragene Westportal in einer reich gegliederten Giebelwand und ein gewaltiger Turm. Tritt man durchs Portal ins Mittelschiff mit den ragenden, hohe Mauern tragenden Säulen, so steigert sich nur der Eindruck, aber das schönste Bild bietet sich erst dem entzückten Auge, wenn man von der Ostseite her das Ganze überschaut. Hier erst vermag man die edlen Verhältnisse der Säulen wie der ganzen Anlage recht zu erkennen. Es ist alles so licht und schön, stolz und schön, ernst und schön; ich wiederhole immer dasselbe Wort; ich weiß hier kein anderes. Die klare Schönheit ist's, die einen vor allem fesselt, doch nein, in noch stärkeren Bann zwingt die Stimmung, die der Raum atmet, das Gemüt: der feierliche und doch lichte Ernst, die weihevolle Anmut. Und was diese Stimmung noch mehrt: rings tiefste Stille und kein Laut des Lebens, kein Haus, nur überall Wald, der ernste, ernste Tannenwald. Es ist wie im Märchen: da stehst du allein im tiefen Forst, und was du hörst, ist nur das leise, klingende Rauschen seiner Nadeln, aber was du siehst, ist ein Wunderbau an Wucht und Schönheit. Freilich, bröckelnde Wucht, versehrte Schönheit, aber weil du selbst nur ein armer schwacher Mensch bist, so greift dir vielleicht gerade dies am tiefsten ins Gemüt. Ehrfürchtig ward auch mir zumut, als säh ich einen Herrlichen, der sich aus der Welt geflüchtet hat, in der Stille zu verbluten... Ich werde den Eindruck dieser ersten Stunden nie vergessen; nur eine Ruine auf deutscher Erde hat so tief auf mich gewirkt; sie ist reicher, schöner, interessanter; sie beschwört ganz andere Erinnerungen herauf, gewiß; aber so einheitlich, so das Herz aufwühlend ist die Wirkung nicht – dort ist's eben eine Symphonie und hier ein Choral... Die Sonne rückte höher, zuweilen klang der Hall eines Uhrglöckchens durch die große Stille, zaghaft und leise, als wüßte es, daß man hier die Zeit nicht nach Stunden mißt; ich achtete nicht darauf... Erst als von fern ein leises Donnern an mein Ohr schlug und dumpf anwuchs, horchte ich auf; nun ein langgezogener, gellender Pfiff; seufzend erhob ich mich – der zweite Zug, diesmal von Arnstadt her, bald waren sie da. Ich bin kein Menschenfeind, kein Menschenverächter – hier hätte ich das fröhliche Schwatzen nicht ertragen. Ich ging heim; nah dem Gasthof begegneten sie mir, diesmal ein noch größerer Haufe, wohl Amerikaner unter Cookscher Führung; »make haste, if you please«, mahnte der Leithammel, und dabei lief die arme Herde ohnehin schon im Trab.

So habe ich es in diesen beiden Tagen gehalten; ich kam, wenn die andern gingen, und ging, wenn sie kamen. Viele Stunden, aber sie waren mir reich ausgefüllt. Nun, wo das Gesamtbild feststand, suchte ich die Einzelheiten zu erfassen, nun, wo ich die Stimmung unvertilgbar im Gemüt trug, zu erkunden, woher sie rührte. Das ist nur bei Falschem und Kleinem gefährlich, bei Großem und Echtem erhöht es die Freude.

Nie ist – gottlob! – der Gedanke aufgetaucht, die Ruine wieder auszubauen, nie hat meines Wissens auch nur ein Maler dies mit dem Pinsel versucht, aber das erste wäre mögliche, wenn auch törichte, das letzte unschwere Arbeit, so viel ist erhalten, so bewunderungswürdig klar ist die Anlage des Ganzen. Eine dreischiffige Säulenbasilika mit Querhaus, also in Kreuzesform; das Chor mit dem Hauptaltar gegen Osten gestellt, also das Hauptportal gegen Westen; hier schloß sich eine Vorkirche an. Einiges nun liegt in Trümmern, vieles ist spurlos verschwunden, aber es steht mehr aufrecht als an den anderen Kirchenruinen Deutschlands und jedenfalls so viel, um der Phantasie die reizvolle Arbeit des Ergänzens und Aufbauens zu ermöglichen. Die Vorkirche war von zwei wuchtigen Türmen, Wehr- und Glockentürmen zugleich, flankiert und durch zwei auf Pfeilern ruhende Rundbogenreihen ebenfalls in drei Schiffe geteilt wie das Langhaus der Kirche. Hiervon ist genau die Hälfte erhalten: ein Turm, eine Pfeilerreihe und die südliche Hauptwand; der Maler oder der Architekt – aber nein! mit diesen Gedanken sollte man in Tagen wie den unsrigen, da man die schönsten Ruinen durch Ausbau verschimpfieren will, nicht einmal spielen – der Maler also brauchte auf der Nordseite nur zu kopieren, was er auf der Südseite nach der Natur malen kann. Noch besser steht es um das Hauptportal; es ist ganz erhalten; die Giebelwand, die sich darüber erhebt, mußte vor etwa zwanzig Jahren abgetragen werden, ist aber dann sorglich wieder aufgemauert worden. Das Wichtigste und Erfreulichste aber ist, daß das Langhaus fast unversehrt dasteht; wer im Südschiff steht, darf sich, was den Bau an sich betrifft, genau desselben herrlichen Bildes freuen wie der Pilger vor achthundert Jahren; noch ragt die Doppelreihe schöner stolzer Säulen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennen und über kühnen Rundbogen die Scheidewände tragen, noch die nördliche Außenmauer; nur die südliche, die der Pilger im Rücken hatte, ist verschwunden. Das Bild des Baus, sagt ich, ist dasselbe, nur liegt es heut im vollen Licht, während der Dom einst trotz der zahlreichen Fenster etwas dämmrig gewesen sein muß, denn über den gewaltigen Mauern, die in voller Höhe erhalten sind, blinkt nun das Blau des Himmels; einst spannte sich eine flache Decke darüber wie über allen Bauten streng romanischen Stils jener frühen Zeit. Völlig erhalten ist ferner der Querbalken des Kreuzes; dies Querhaus hat auch noch beide Außenmauern mit ihren Giebeln. Nur das Chor ist bis auf Mauerreste, die seine Anlage zeigen, verschwunden; ein unersetzlicher Verlust für das Auge des Genießenden wie für unsere Kenntnis alter deutscher Baukunst, denn gerade die Ostfassade mit ihren fünf mächtig ausladenden Apsiden, die im Innern Altäre bargen, war offenbar die schönste des Doms. Immerhin hat die Phantasie auch hier Stützpunkte genug, um nachzuschaffen, und gewiß liegt auch darin eine Erklärung für den Zauber, den die Ruine übt. Rätselhafte, scheinbar regellose Trümmerstätten atmen auch schwächere Stimmung; die Wehmut, die uns Ruinen einflößen, ist um so stärker, je klarer wir erkennen, was wir verloren haben.

Der stärkste Zauber freilich, den Paulinzelle übt, liegt nicht in der Wehmut über das Verlorene, sondern in der Freude an dem Erhaltenen. Der Dom gehört wie zu den ältesten so zu den schönsten und größten Werken romanischen Stils auf deutscher Erde und verbildlicht die reinste Zeit dieses Stils, den Hochromanismus. Schon die Maße imponieren an sich, wie sie durch ihr Verhältnis zueinander das Auge laben: an so kühnen, schlanken Formen darf es sich selten erfreuen. Der Hirsauer Mönch, der den Bauriß entwarf – keine Urkunde nennt seinen Namen –, war ein ebenso trefflicher wie wagemutiger Künstler: das Langhaus ist fast doppelt so hoch, als es breit ist, selbst das Querhaus (Kreuzschiff) noch immer etwas höher als breit, der ganze Bau vom Hochaltar bis zur Eingangspforte der Vorkirche etwa viermal so lang als breit und nur wenig über das Doppelte länger, als er hoch ist. Zur Vergleichung ziehe ich einen gleichfalls herrlichen allbekannten Dom an, St. Stefan zu Wien, und zwar eben deshalb, weil schon er im Innern den Eindruck kühn und leicht aufstrebender Maße macht. Das Innere von St. Stefan ist um etwa 2 Meter niedriger als das von Paulinzelle, hingegen um 28 Meter länger; die Breite des Kreuzschiffs übertrifft die Höhe um nahezu das Dreifache. Bei dieser ungemeinen Neigung des Paulinzeller Künstlers zum Schlanken und Hohen wäre der Eindruck seines Werks ein minder feierlicher, wenn nicht der Säulenbau ein so wuchtiger wäre; das stellt die Harmonie wieder her.


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