Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Auch im Innern des Doms wird man die Fragen, die zwiespältige Empfindung nicht los. Der erste Eindruck bringt eine Enttäuschung; da ist nichts von der lichten Majestät des Straßburger, dem mystischen Zauber des Wiener Münsters. Ein recht freundlicher Raum, dem etwas Trivial-Behagliches anhaftet; das empfindet man sofort, aber es währt lange, bis man sich über die Gründe klar wird. Vor allem, der Raum ist fast quadratisch, nur winzig länger als breit; die beiden Seitenschiffe zudem viel breiter als das Mittelschiff; diese Form sind wir an Wohnräumen gewohnt, nicht an Kirchen. Auch stehen alle drei Schiffe unter einem Dache, und die Fenster sind in geringerer Höhe angebracht als sonst an Gotteshäusern; so fehlt das feierliche Licht von oben. Endlich aber, das im Winkel anstoßende Chor ist viel höher und heller; so hat man zunächst den Eindruck, als stände man in einem schief angebauten Vorraum des Chors. Erst allmählich überwindet man diesen Eindruck und kann das viele Schöne besehen, das hier zu finden ist.

Man kann es oder kann es nicht... Die Art, wie der Fremde hier behandelt wird, ist wirklich nicht nett und gottlob beispiellos. Es ist ein schöner, tiefsinniger Brauch der katholischen Kirche, die Gotteshäuser immer offen zu halten; am Erfurter Dom ist nur während der Messe ein Pförtchen unverschlossen. Zufällig kam ich das erste Mal zu solcher Stunde, fand das Pförtchen und trat ein. Da stürzte mir ein Bediensteter der Kirche entgegen: Der Eintritt sei nur für Erfurter frei; wenn ich etwa ein Fremder wäre, so hätte ich in der Küsterei eine Eintrittskarte zu lösen; sie koste 60 Pfennige, dazu die »Beschreibung« 30 Pfennige, zusammen 90 Pfennige, also sehr billig, fügte er bei, »anderswo kostet's eine Mark«. Ich ging und kaufte mir Karte und »Beschreibung« (das wohlgemeinte Schriftchen eines enthusiastischen Archivars). Mir war seltsam dabei zumut und wahrlich nicht der 90 Pfennige wegen, sondern ich dachte: Du bist nur hierhergekommen, um Schönes oder Merkwürdiges zu sehen, und bringst nur jene pietätvolle Empfindung mit, die jedermann einer Stätte schuldet, die für Millionen seiner Mitmenschen heilig ist, und du schon bist peinlich berührt. Wie erst mag's im Gemüt eines Fremden aussehen, der diese Kirche betritt, um Trost zu suchen, sein Herz aus dem Staube zu Gott zu erheben, und solchen Empfang findet?...

Die Begleitung einer langen, hageren Frauensperson war in den Preis inbegriffen. »Hier is«, begann sie hastig, »die Gröhnung von Peter Vischern« – und kaum daß ich einen Blick auf den herrlichen Erzguß geworfen hatte: »Bitte, Herre, nu aber weiter, mehr als zwanzig Minuten kann ech nech bleiben.« Ich bot eine Mark, wenn sie mir Zeit ließe. »Unmaeglich, un wenn's 'n Dhaler wär. De Supp brennt mir sonsten an; d'r Herr Oberkirchner hält auf guedes Äßen.« Da ging ich gleich, denn weitere neunzehn Minuten durch den Dom gepeitscht zu werden, schien mir kein Vergnügen.

Die meisten wären nicht wiedergekommen, ich tat's und fing es diesmal sehr schlau an. Ich kam am Nachmittag, wo der Gourmet bereits gespeist haben mußte, und umstrickte die kleine, dicke Frau, die mir die Karte verkaufte, mit den raffiniertesten Verführungskünsten. Da sie ein Mäulchen zog, weil ich die »Beschreibung« nicht nochmals kaufen wollte, so erwarb ich flugs ein zweites Exemplar, »als Andenken an Sie!«, aber nun willfahrte sie auch meiner Bitte: »Sie wissen gewiß am besten Bescheid und führen mich selbst.« Als sich das Portal hinter uns geschlossen hatte und wir allein im Dom waren, da sank ich zwar vor der Holden nicht auf die Knie, aber ich gab ihr eine Mark: »Sie lassen mir aber Zeit, erklären nichts und zeigen mir nur, wonach ich frage.« Eine halbe Stunde hielt sie den Pakt ein, dann wurde sie ungeduldig: »Andere sind in zehn Minuten fertig!«, und endlich erwiderte sie auf meine Fragen, wo dieses und jenes wäre: »Das weeß ech nech!« oder: »Das wird nech gezeigt« oder gar: »Damit is nischt los!« Da ich aber nicht glauben konnte, daß mit dem in jeder Kunstgeschichte gerühmten »Wolfram«, einem der frühesten Erzeugnisse deutscher Gießkunst, »nischt los« sein sollte, so ließ ich eine zweite Mark lockend an ihrem Horizont auftauchen. Aber diesmal versagte das Zaubermittel. »Nu müssen meu Goffee drinken, lieber Herre, mei' Mann hält sihre druff.« O dieser Gourmet!...

Wenn ich all die Kunstschätze und Kuriositäten schließlich doch sehr gründlich sehen konnte, so danke ich dies einem freundlichen Zufall. Auf einer Bank des Steigerparks kam ich mit einem älteren Priester, einem Jesuiten vom Rhein , in ein langes, angeregtes Gespräch. Und wären zwei Menschen durch noch so vieles getrennt, worüber jeder anders urteilt – wirklich trennend sind nie Urteile, nur Vorurteile; und haben die beiden etwas gemeinsam, so finden sie sich ineinander; hier war's die ehrliche Freude an der Kunst... In Begleitung dieses Mannes also habe ich den Dom zum vierten Male betreten und zum ersten Male wirklich gesehen.

Es war der Mühe wert. Ich schreibe ja keinen Reiseführer noch will ich der famosen »Beschreibung« Konkurrenz machen, ich will persönliche Eindrücke wiedergeben und erzähle daher nur von dem, was im Guten oder minder Guten stark auf mich gewirkt hat. Das Schönste scheint mir jener Erzguß des Peter Vischer – o Henning Göden, was warst du klug! Als Propst rund, als Jurist spitz, hast du den Wittenberger Studenten vor 400 Jahren den Gaium und Ulpianum so fein ausgelegt, daß ihnen die ganze Welt wie ein Stachelgärtlein voll Paragraphen erschien, und über die kleinsten Kontroversen hast du die dicksten Wälzer geschrieben und wärest heute doch mit all deinen Büchern spurlos verschollen, wenn du nicht kurz vorm Sterben den vortrefflichen Einfall gehabt hättest, um ein groß Stück Gold bei dem edlen Nürnberger Meister diese Votivtafel zu bestellen. Wer nun vor das herrliche Werk tritt, denkt freilich zunächst nicht an dich und nicht einmal an den Meister, sondern läßt sich den Glanz dieser stillen, schlichten Schönheit ins Auge leuchten – welche rührende Anmut umfließt die Gestalt und das in seliger Demut geneigte Haupt der Maria, während Gott Vater und Sohn die Krone über ihr halten; oben schwebt die Taube, und unten schalmeien die lieben Englein, und wie ein Widerklang ihrer feinen Musik tönt's uns durchs eigene schönheitsfreudige Gemüt. Schöneres hat selbst Peter Vischer selten gemacht als diese Tafel, nur das Sebaldusgrab und das Regensburger Christusrelief mögen noch herrlicher sein. Aber hat man sich dies alles gesagt, so gedenkt man auch deiner, Henning Göden, der du dich am Fußende mit deinem Schutzpatron, dem Evangelisten Johannes, hast abbilden lassen, und freut sich, wie klug du warst, doppelt klug, da du auch gleich eine Wiederholung für die Schloßkirche zu Wittenberg bestelltest.

Anders der zweite Donator, dem diese Kirche Herrliches dankt. Wir wissen nichts von ihm als den Namen: Wolfram Hilderich, und daß er ein starker Mensch war, stark an Körper, stark im Sündigen und stark im Büßen. So um 1100 mag der Hüne mit dem leidenschaftlichen Antlitz gelebt, genossen und gefehlt haben; es muß Schweres gewesen sein, womit er sich beladen, denn schwer war auch die Buße: er hat sich selbst als Büßer in Bronze formen lassen; die beiden flehend zur Madonna emporgehobenen Hände tragen je eine Kerze, aus dem demütig gesenkten Nacken steigt eine dritte hervor; auf dem Gürtel, der das härene Gewand zusammenhält, ist sein Name eingegraben und die Bitte, ihm flehen zu helfen, daß ihm die Gnade Gottes werde. Sie ist ihm geworden, denn seine Schuld ist vergessen, jedoch seine Buße erschüttert und erhebt noch heute die Herzen. Es muß ein begabter Künstler gewesen sein, der die Gestalt geformt hat, gleichwohl hätte er die Gestalt nicht so beseelen, mit so ergreifendem Ausdruck erfüllen können, wenn ihn nicht die unerhörte Aufgabe und sein unseliges Modell selbst ins tiefste Herz hinein bewegt hätten. Die Reliefs an der Hildesheimer Domtüre, das einzige ebenbürtige Werk aus den Anfängen deutscher Erzgießkunst, das sich mit dem »Wolfram« messen kann, sind ja in der Erfindung reicher, aber an beseeltem Leben steht der »Wolfram« auf einsamer Höhe.

Neben diesem Herrlichen enthält die Kirche viel Schönes. So Lucas Cranachs des Älteren »Vermählung der heiligen Katharina«, ein schönes Bild, das nur seine Vorzüge aufweist und namentlich von seinem schwersten Fehler, der Spießbürgerlichkeit, frei ist; das Holzrelief einer Grablegung Christi, das freilich weder von Adam Kraft noch von Veit Stoß, noch von Michael Wohlgemuth herrühren dürfte, denen es abwechselnd zugeschrieben wird, aber doch durch den edelschönen Kopf der Maria, das merkwürdig beseelte Antlitz der Magdalena diese Hypothesen begreiflich macht, während der Christus selbst durch seinen furchtbaren Naturalismus den Gedanken an diese Meister ausschließt; das Grabmal der 1576 ausgestorbenen Familie von der Weser in reichster und edelster Renaissance, rechts die Männer, links die Frauen, in der Mitte aber, ganz einsam, das schöne Kind, mit dem das Geschlecht ausstarb, ein rührendes Bild.

Schön und rührend ist auch ein Erzeugnis des Kunstgewerbes, ein Gemälde in Plattstich, das die heilige Jungfrau in Gestalt eines holden, anmutigen Bürgermädchens des 16. Jahrhunderts darstellt, und vor allem schön ist das Chorgestühl, soweit nicht daran herumrestauriert worden ist. Ernste und lustige, tolle und wehmütige Gesichter und Gestalten, die Tugenden und Laster der Menschen, dazwischen herrliche Arabesken, alles bis ins kleinste ausgestattet und individualisiert – eine ganze Welt im kleinen. Welch ein Künstler muß der Mann gewesen sein, der dies Gestühl im 15. Jahrhundert schnitzte, aber welch ein Stümper der Mann, der's im 19. restaurierte! Welch ein Stümper! – wo er sein Schnitzmesser ansetzte, ging die Schönheit zum Teufel. Wie war derlei möglich, fragt man sich, und nicht hier allein. Auf Schritt und Tritt begegnet man solchen Todsünden aus neuerer und neuester Zeit. Das größte und wohl ursprünglich beste Wandgemälde der Kirche, der »Christophorus«, einige Glasmalereien, dann ein alter mystischer hortus conclusus: »Die heilige Jungfrau, das Einhorn liebkosend« usw. usw. – sie alle mußten gerettet werden, und sollten sie darüber zugrunde gehen, und sie sind zugrunde gegangen! Restaurieren ist eine heikle Sache, ähnliches hat man auch anderwärts zu beklagen, nur nicht in solcher Fülle.

Auch Kuriosa, Werke, die immer nur seltsam, niemals schön gewesen sind, findet man hier öfter als in irgendeinem anderen der berühmten Dome Deutschlands. Die meisten Kapellchen, die den Raum einengen, das ohnehin nicht allzu harmonische Gesamtbild noch mehr trüben, sind nur eben solche Kuriosa; anderwärts hat man sie sacht hinweggeräumt, hier ist leider noch das meiste erhalten. Andere Kuriosa wieder müssen freilich bleiben, weil sie gleichsam Wahrzeichen der Kirche sind. So das Taufbecken von 1587. Der Deckel aus Holz, das Gefäß aus Sandstein, dessen symbolische Figuren fast den Eindruck machen, als ob sich der Meister einen Scherz hätte machen wollen; denn die »Weisheit« hat ein sehr albernes, der »Glaube«, der alles duldet und trägt, ein geradezu grinsendes, die »Hoffnung« ein düster verzweifeltes Gesicht, und die »Caritas« schleppt sich nutzlos an einem Bengel mit einem Riesenwanst ab, denn wird er noch weiter gepflegt, so erstickt er in seinem Fett... Nicht so drollig, sondern fast unheimlich wirken die Figuren an dem Sarkophag, der die Reliquien der Lokalheiligen Erfurts, Adelar und Eoban, umschließt. Die frommen Jünger des Bonifacius, von den Friesen erschlagen, als sie diesen ihre Donarseichen fällten, haben nach dem Tode nicht minder zu leiden gehabt als zu ihren Lebzeiten. Auf rätselhaften Wegen, über welche die protestantischen Humanisten des 16. Jahrhunderts die verruchtesten Scherze machen, gelangten ihre Gebeine nach Erfurt und wurden unter dem Holzkirchlein, aus dem der Dom erwuchs, bestattet; durch einen seltsamen Zufall, den dieselben bösen Skribenten gleichfalls auf ihre Weise ausdeuten, wurden diese Gebeine dann nach Beginn des Dombaus in einem Augenblick (1154) aufgefunden, da die Geldmittel stockten; die Ausstellung der Reliquien zur öffentlichen Verehrung brachte so viel ein, daß der Bau fortgesetzt und für die Gebeine ein silberner Schrein hergestellt werden konnte, der wieder von einem steinernen umschlossen war. Fast vier Jahrhunderte ruhten sie da geborgen, bis 1525 der nun protestantisch gewordene Rat der Stadt den Silberschrein einschmelzen ließ, Münzen daraus zu schlagen. Dies steht fest und ebenso, daß der Steinsarg auseinandergenommen wurde, aber wo inzwischen die Reliquien blieben, weiß man nicht, welchen Umstand die lutherischen Spötter wieder weidlich ausnutzen. Gewiß aber ist, daß der Sarkophag längst wieder zusammengefügt und leider in neuester Zeit auch restauriert worden ist. Da sieht man in bunter Reihe eine Exorzisation, Krieger und Priester, Heerführer und Schwertträger, Mönche und Laienbrüder und Schalksnarren, eine schwer auszudeutende Reihe, und rätselhaft ist vor allem eine Gestalt: ein Bischof mit einem Schwert, auf das ein Buch gespießt ist. Alles arg restauriert, fratzenhafter geformt und greller koloriert, als es ursprünglich gewesen sein kann... Endlich das berühmteste Kuriosum der Kirche, das Grabdenkmal des Grafen von Gleichen mit seinen beiden Frauen; die Figuren aus bemaltem Sandstein; in der Mitte ein sehr kräftiger Ritter mit langem Haar, links eine blonde, rechts eine braune Frau, die blonde mit kurzer, die braune mit langer Nase; die Blonde hält ein Buch in der Rechten und die linke Hand auf dem Magen, die Braune deutet mit der Rechten auf ihr Herz und läßt gleichfalls die Linke auf dem Magen ruhen. Dazu erzählte mir meine dicke Gönnerin auf meine Bitte die Legende: »Der Herr in der Mitte hat sich Graf Ernst von Gleichen geschrieben und war ein tapferer Ritter, und die blonde Dame links hat sich Ottilia geschrieben, und beide haben in christkatholischem Ehebunde gelebt, und zehn Kinder haben sie gehabt, manche sagen, es waren nur fünf Kinder, aber es waren zehn. Da nehmen auf einmal die Türken Jerusalem weg, also natürlich muß die ganze Ritterschaft es ihnen wieder herausreißen, und wie der Graf die Zustellung bekommt, daß er mit muß, sagt er: ›Ottilia, bleib mir treu!‹, und sie weint und sagt: ›Ernst, wenn du nur mir treu bleibst.‹ Aber wie er in die Wüste kommt, fangen ihn die Türken wegen seiner Tapferkeit zuerst weg, und wie er in die Festung kommt, sieht ihn eine wunderschöne Türkin, welche sich Melechsala, Landgräfin vom Ägypterland, geschrieben hat, und kommt gleich zu ihm und sagt ihm: ›Ernst‹, sagt sie, ›wenn Sie mich heiraten wollen, so fliehe ich mit ihnen, und wenn Sie nicht wollen, werden Sie erschossen.‹ Da sagt er: ›Wie Gott will!‹ und erzählt ihr alles, so und so, ein Weib und zehn Kinder, ›und‹, sagt er, ›Ich bin ja ein Katholik, wie kann ich zwei Weiber haben, und dieses darf sogar kein Lutherischer oder Jüdischer tun.‹ Aber dann gibt er zum Glück nach, weil sie ihn nämlich sonst wirklich erschossen hätten, und fährt mit ihr nach Rom und erzählt dort dem Heiligen Vater alles, nämlich Lebensgefahr, so und so, und da sagt der Papst: ›Das is was anderes‹, sagt er und traut ihn mit ihr und sagt: ›Nun gehet heim, und wenn Ottilia böse ist, so gebt ihr diesen Brief.‹ Aber das war nicht nötig, denn sie war eine gute Frau und hat sich mit der Melechsala niemals nicht gezankt. In einem Bette haben alle drei geschlafen, und dieses Bett hat noch meine Großmutter gesehen; und auf der Wartburg ist die ganze Geschichte abgemalt. Dieses Bett hat auf der Gleichenburg gestanden, und wer einen Splitter davon bei sich getragen hat, ist niemals nicht eifersüchtig geworden, und das war gut, aber die Franzosen haben leider das Bett aus Bosheit verbrannt. Im Kloster am Petersberg waren die drei beerdigt, unter diesem Stein hier, aber wie aus dem Kloster ein Heumagazin geworden ist, hat man den Stein hergeschafft samt den drei Schädeln, aber der hochselige Herr Propst hat gesagt: ›Die Schädel tun wir weg, in geweihte Erde tun wir sie‹, sagt er, ›denn so gebietet es die Religion, und den Appetit verschlägt's einem auch.‹ Und so steht nur noch der Stein hier. Dieses, mein lieber Herr, ist die wahre historische Erfindung, auch wenn es im Buch anders steht.« Allerdings steht es »im Buch« anders. Das Grabdenkmal ist das eines Grafen von Gleichen, der zweimal kinderlos vermählt gewesen und nun mit beiden ihm gleich teuern Frauen vereint im Grabe ruhen wollte. Ein anderer des Geschlechts brachte ein sarazenisches Kebsweib aus dem Morgenlande heim; ein dritter endlich ließ aus zwingenden Gründen – er wie seine Gattin waren sehr dick – das ungewöhnlich breite Ehebett zimmern, dessen Splitter tatsächlich als Mittel gegen Eifersucht galten und das wirklich erst 1813 von den Franzosen als Heizmaterial verbraucht wurde. Aus diesen drei Tatsachen schuf sich der dichtende Volksgeist die »wahre historische Erfindung«...

Kein uraltes Gotteshaus, an dem unzählige Geschlechter der Menschen bauten und schmückten, jedes im heißen Drang, sein Bestes zu geben, aber jedes aus seinem Geschmack heraus, kann einen ganz einheitlichen Eindruck machen. Aber einen zwiespältigeren als der Dom zu Erfurt macht kaum eines. Darin stimmten mein geistlicher Begleiter und ich überein. Die Seltsamkeiten im Bau erklären sich leicht aus dem beschränkten Raum des Felsens und aus einer fast beispiellos bewegten Baugeschichte, die gleichermaßen auf den Willen der Elemente wie auf den Ehrgeiz der Priester zurückzuführen ist, und ähnlich erklärt sich die Buntheit der inneren Ausstattung. Das Holzkirchlein aus dem 8. Jahrhundert weicht bald einem größeren; der romanische Steinbau des 12. Jahrhunderts füllt bereits, dank jenem Reliquienfunde zu rechter Zeit, die ganze Felskuppe. Da schaffen die 1236 hier begangene Kanonisation der Landgräfin Elisabeth und ein sehr billiger Ablaßtarif neue große Mittel; so ersteht das herrliche Hauptportal, aber weil der Raum fehlt, nur eben als Triangel, der zugleich den Durchzug der riesigen Wallfahrerscharen gestattet; zur Türe links treten sie ein, legen ihre Gabe in den Opferstock und gehen schon nach drei Schritten durch die Türe rechts ab, aber für beide Teile ist der Zweck erfüllt: die Wallfahrer waren in dem Dom, und der Bauschatz hat sein Scherflein. So kann auch das Riesenwerk der »Cavaten« und das neue herrliche Chor errichtet werden, schon wird ein Neubau des Schiffs in gleicher Pracht geplant, da beginnt ein Hagel von Unglück: 1416 stiften berauschte Diener der Kirche einen Brand an, der das Obergeschoß der Türme vernichtet, bei dem Neubau wird das Gewölbe des Schiffs unvorsichtig belastet und stürzt 1452 zusammen, 1472 folgt eine zweite Verheerung durch Feuersbrunst. Abermals wird der Reliquienschatz gemehrt, eine selbst für jene Zeit unerhörte Verbilligung des Ablaßtarifs tritt ein; aber so riesige Summen wie bisher fließen nicht mehr ein; schon geht jenes dumpfe Murren durch Deutschland, dem dann der Bergmannssohn aus Eisleben glockentönige Worte leiht; selbst Tetzel, der geschickteste Ablaßkrämer des Domes – seine Kanzel wird noch heute pietätvoll die Tetzelkanzel genannt –, bringt nicht allzuviel ein, obwohl er schon für einen Groschen im vorhinein vom Ehebruch absolviert; sich selber absolvierte er ja davon bekanntlich noch billiger, nämlich ganz gratis. Mühsam wird so viel aufgebracht, um Türme und Schiff aufbauen zu können; aber für gute Meister reicht's nicht; lediglich Fehler im Bauplan verschulden zum Beispiel die schiefe Stellung des Langhauses zum Chor und die anderen Unregelmäßigkeiten, auch im Innern muß mehr auf Größe und Vergoldung als auf künstlerischen Wert des Zierats gesehen werden. Anderwärts greift in derlei Fällen der Landesherr, der Bischof, die Stadt hilfreich ein. Hier tun sie wenig. Geistlicher und weltlicher Fürst zugleich ist der Erzbischof von Mainz; der erste Bischof von Erfurt, der heilige Adelar, ist zugleich der letzte, weil die Nachfolger des heiligen Bonifacius auf dem Mainzer Erzstuhl die Neubesetzung zu verhindern wissen; sie wollen die kräftig aufblühende Stadt, das reiche Gebiet selbst behalten. Aber bald erobert sich die Stadt eine gewisse Selbständigkeit; auch um das Gebiet muß Mainz oft streiten; die Einkünfte sind schmaler als erhofft, obwohl noch immer groß genug, aber etwas davon abzugeben sind die Mainzer Herren nicht gewillt. Auch eine andere Erwägung läßt sich zwischen den Zeilen der alten Urkunden lesen, es ist den Mainzern schon recht, wenn die Kirche schön und groß ist, aber sie ist doch nur eben die Ecclesia Beatae Mariae Virginis, die Stadtkirche von Erfurt, der ein simpler Propst vorsteht, schöner und größer als der Mainzer Dom braucht sie nicht zu werden. Ist einmal allzugroße Ebbe in der Baukasse, so schafft der Erzbischof vom Papst ein neues Ablaßprivileg oder vermittelt eine Mehrung des Reliquienschatzes (so muß zum Beispiel einmal Fulda ein Teilchen vom Leichnam des heiligen Bonifacius abtreten, gibt aber nur ein unansehnliches Knöchelchen, über welchen Geiz der Fuldaer große Entrüstung herrscht) oder empfiehlt den braven Tetzel; Geld gibt er nicht. Und die Stadt wird auch immer karger; liegt sie doch mit dem Erzbischof immer heftiger im Streite. Kaum aber ist das Gotteshaus (um 1500) wieder leidlich fertig, als die »Pfaffenstürme« losbrechen; die Stadt wird vorwiegend protestantisch, mehr als einmal machen Bauern und Bürger »Anleihen« bei der Schatzkammer des Doms; 1631–33 ist er durch Gustav Adolfs Macht die protestantische Hauptkirche Thüringens. Bald freilich fällt Erfurt wieder an Kurmainz, schwer liegt die Hand des Erzbischofs über der Stadt, aber sie bleibt vorwiegend protestantisch, seit dem Dreißigjährigen Krieg ist höchstens ein Fünftel der Einwohner katholisch. Das erklärt manches: zwar an Geld fehlt's nun längst nicht mehr, es ist sogar seit Jahrzehnten überreich vorhanden, weil seit Jahrzehnten das ganze katholische Deutschland beisteuert, aber ein geistiges Zentrum des Katholizismus und damit auch eine Stätte feinen kirchlichen Kunstgeschmacks wie Köln oder Straßburg, Mainz oder Wien war Erfurt nie...

Geld ist nun da, sag ich, und darum könnten die Herren die Besuchsordnung ebenso würdig und praktisch regeln wie in Köln oder Straßburg. Und auch etwas anderes könnte würdiger geordnet sein; die Cavaten sind als Lagerräume für Porzellan, Eisen, Sämereien usw. vermietet. Das stört nicht, solange die Räume geschlossen sind. Aber sie sind selten geschlossen, und in jedem Raum steht die Geschäftstafel des Mieters, auch Verkäufer mit freundlich einladender Miene werden ab und zu sichtbar. Als der Pater an meiner Seite die Treppe des Doms hinabstieg und diese offenen Lagerräume am Gotteshause sah, blieb er stehen, und glühende Röte schlug über sein edles, durchgeistigtes Antlitz, dann wurde er sehr bleich. Wir gingen weiter, noch einmal blieb er stehen, setzte zum Reden an, schwieg dann aber. Es war auch nicht nötig. Ich verstand ohne Worte, was sein feines, frommes Gemüt dabei empfand...


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