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Recht gut geht's nun den Erfurtern; man sieht's überall: an den gefüllten Restaurants und Konzertgärten, den stattlichen Läden, den neuen Häusern. Sie sind geräumig, scheinen solid gebaut; daß die Fassaden im Durchschnitt etwas nüchterner sind als in anderen deutschen Mittelstädten, hat auch sein Gutes: man sieht darum hier weniger Kuriosa... Auch die neuen Kirchen und Monumentalbauten vermögen einem nicht Schrecken noch Entzücken einzuflößen. Nur drei nehme ich aus. Die neue Thomaskirche verspricht ein hübscher gotischer Bau zu werden, und das Rathaus ist ein schönes, ansehnliches Werk desselben Stils, der Stadt, wo einst Bürgersinn so Großes geleistet, nicht unwert; auch die neuen Fresken sind gut, neben den historischen namentlich die aus der Faustsage. In anderem Sinn bemerkenswert ist leider die Post; sie mutet an wie der phantastische Traum eines schlechten Künstlers, aber schon eines sehr schlechten. Ein Friseur in der Barfüßerstraße freilich sagte mir enthusiastisch: »In so 'ner Post 'nen Brief aufzugeben ist'n Hochgenuß!«, aber dem Kunstgeschmacke dieses Mannes traue ich nicht recht. Er hat in seine Auslage einen netten jüngeren Herrn mit roten Bäcklein gestellt und darunter geschrieben: »Wir Deutsche fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt.« Wer so einen Bismarck hinstellt, verdient keine schönere Post. Übrigens habe ich den Spruch auch in zwei anderen Friseurläden Erfurts gefunden, und das hat mir wenig gefallen. Mir steht die Stunde vor Augen, da dies Wort fiel: am 6. Februar 1888; mein Lebtag bin ich froh, daß ich dabei war. Ein grauer Tag; im alten Hause in der Leipziger Straße herrschte Zwielicht, als sich der Große erhob, und mühsam durchklangen zuerst seine Sätze den Raum. Als er sich aber in Glut geredet, da klangen sie dröhnend ins Ohr und ins tiefste Gemüt hinein, und bei jenen Worten richtete er sich zur vollen Höhe auf; wie eine Gloriole umwob das durchbrechende Sonnenlicht den gewaltigen Schädel. Die Stunde hatte das Wort geboren; für die Stunde war es der beste Ausdruck dessen, was ein ganzes Volk erfüllte, und darum verdient es unvergessen zu bleiben. Aber eben darum, weil ich mit dabei war, als es erklang und für mein Ohr auch noch den persönlichen Klang der hohen, vibrierenden Stimme hat, sehe ich es ungern in Friseurläden und Wirtshäusern, auch scheint es mir aus anderen Gründen nicht recht zum dauernden Wahlspruch geeignet. Zur Zeit, da es Bismarck sprach, drohte der Konflikt mit Rußland; in Friedenszeiten brauchen wir nicht zu versichern, daß wir niemand fürchten. Wir haben uns 1870 das Recht erworben, daß uns Europa dies ohne weiteres für Kriegs- und Friedenszeiten glaube.
Doch zurück zum Stadtbild von Erfurt. Was man hier an Bauten und Denkmälern aus elf Jahrhunderten beisammen findet, habe ich nun, so weit mir Kraft und Wissen reichte, nacheinander zu schildern versucht. Aber dies Gemisch von Uraltem und Neuem, von Herrlichstem und Häßlichem, von feiner, schwelgerischer Kultur und armseliger Nüchternheit, kurz, das Nebeneinander ist, glaub ich, überhaupt nicht recht in Worten zu malen, geschweige denn, daß ich mir's zutraute. Gerade dies Gemisch, sagt ich schon, läßt mir das Stadtbild von Erfurt so einzig erscheinen. Anderwärts scheidet sich alt und neu fast ganz oder doch weit mehr als hier. Freilich gibt's auch in Erfurt ganz neue Stadtteile, wie das Villenviertel auf dem Löberfeld oder das Arbeiterviertel auf dem Johannisfeld, und ganz alte, wie das Viertel um die Universität oder das um die Augustinerkirche, aber das sind Ausnahmen; die meisten Stadtteile sind ein Gemisch, und zwar ein beispiellos buntes; was anderwärts eine Ausnahme ist, ist hier die Regel. Die Kamera des Photographen, der Pinsel des Malers und nun gar das eigene Auge kann dies weit besser verdeutlichen als das Wort des Schilderers. Ich gebe nur einige Andeutungen aus der Fülle dessen, was den Beschauer zunächst wie ein Rätsel anmutet, ihn dann aber ergreift, wenn er sich dessen bewußt wird, daß die Lösung dieses Rätsels lautet: »Hier ist eine Schicksalsstätte!...«
Man suche sich ein beschauliches Plätzchen auf dem Anger und blicke um sich. Ich empfehle zu diesem Zwecke das aus drei kränklichen Oleanderbüschen und einem grün angestrichenen Staket bestehende Gärtchen vor dem »Wiener Café«; hier stört einen niemand. Denn Erfurt ist großstädtisch genug, ein solches Etablissement zu besitzen, und kleinstädtisch genug, den armen Inhaber, natürlich einen Ungar – die Wiener Cafétiers in Deutschland sind alle Ungarn, wenn sie nicht Tschechen sind –, nur so langsam einen Krösus werden zu lassen, daß mich's nicht wundern würde, wenn ich ihn bei meinem nächsten Besuch in Erfurt samt dem Café nicht wiederfände. Mir tät's leid, denn was alles faßt von diesem »Garten« aus ein einziger Blick! Zur Rechten ein Haus aus dem 17. Jahrhundert, der Römische Kaiser, dahinter der dumpfe, düstere Riese aus dem 11. Jahrhundert: die Kaufmannskirche, dann dicht vor dem Beschauer ein häßliches, dürftiges Haus aus dem 18., ein reiches und lustiges aus dem 16. und ein prunkend geschmackloses aus dem 19. Jahrhundert, eben die Post. Ähnliches gewahrt er, so weit sein Blick die Breite Straße hinabreicht, bis an den Hoffmeisterschen Brunnen, dessen Erz und Springquell, im Sonnenlicht wundersam schimmernd, das Bild abschließt: zu beiden Seiten Häuser, von denen auch nicht eines dem andern gleicht; modernste Basarbauten, armselige wacklige Überreste aus der Zopfzeit, nüchterne Nutzbauten des letzten Jahrhunderts, daneben schöne, stattliche Patrizierhäuser der Renaissance, die auf diese Nachbarn herabblicken wie ein wohlerhaltener, vornehmer Greis auf ein junges, entnervtes Geschlecht. Zur Rechten ragt dicht vor dem Beschauer der Rokokobau des Packhofes auf. Kurz, kaum zwei Häuser nebeneinander, zwischen denen nicht ein ungeheurer Abstand der Erbauungszeit und des Stils läge – Bauten so stattlich und reich und schön, wie man sie eben nur in einer Mittelstadt finden kann, die vor vierhundert Jahren eine Großstadt war, und andere so dürftig und erbärmlich, daß man ihr Vorhandensein in dieser Hauptstraße nur versteht, wenn man sich erinnert, daß Erfurt vor zweihundert Jahren eine scheinbar dem sicheren Untergang geweihte Kleinstadt war.
Ähnliches sieht man hier überall: die Reihe der herrlichen Renaissancehäuser der Johannes- oder Allerheiligenstraße wird immer wieder von Zinshäusern aus der Zeit um 1850 unterbrochen, neben dem Patrizier im Festgewand steht der armselige Philister der neuesten Zeit. Oder man lasse den Blick über den Domplatz schweifen; hier die herrliche gotische Stiftskirche, vor ihr ein Obelisk aus der Zopfzeit, ringsum aber Häuser, als dienten sie dem Zweck, lehrreich zu vorbildlichen, wie schön und wie häßlich, wie reich und wie armselig man in der Zeit von 1500–1900 abwechselnd in Deutschland gebaut hat. Oder man stelle sich neben jenen Brunnen am Anger: ein Blick umfaßt die ehrwürdige Barfüßerkirche, das schöne Renaissancehaus, wo Wilhelm von Humboldt um Karoline von Dachröden freite, einige Wohnhäuser, wie man sie in Posemuckel nicht auf den Hauptplatz stellt, einige Geschäftshäuser, die an lärmendem Stil den Bauten in einem Berliner Geschäftsviertel nicht nachstehen, und als Zugabe einen prächtigen Barockbau. Oder man sehe sich an, welche bunte Gesellschaft den Roland auf dem Fischmarkt umstellt, neben dem schönen Rathaus, dem herrlichen »Breiten Herd« und dem »Roten Ochsen« auch Häuser, von denen man sich verwundert fragt: »Ist hier der Boden so billig, daß man derlei stehen läßt?...«
Aber habe ich bisher kein anschauliches Bild von diesem Gemisch geben können, so nützt alle Häufung von Einzelheiten nichts. Ich kann nur wiederholen: schön ist diese Stadt nicht, wahrlich nein, und wen nur die Harmonie eines Gesamteindrucks lockt, der lasse sie unbesehen. Aber wer Augen hat, das Besondere zu sehen, wer historischen Sinn hat, wird gleich mir seine Erfurter Tage zu den anregenden seines Lebens rechnen und niemals vergessen.
Ich sage dies fast wie einer, der eine Entdeckung gemacht hat und dies nun andern mitteilen will. Ganz so ist's ja nicht, aber – fast so. Den meisten geht's so wie anfangs mir: was sie nach Erfurt zieht, ist nur der Dom und die Blumenzucht. Nun, das ist freilich auch schon Freude genug. Vom Dom habe ich bereits erzählt, von den Blumen will ich's nun tun. Das ist das Schönste, was ich hier gesehen habe, und darum habe ich's mir für den Schluß aufgespart. Das Marienbild, dessen Goldglanz mir all die Jahre in der Erinnerung geleuchtet, hat in der Nähe von seinem Zauber eingebüßt; es war eben zuviel Gold... Die Blumenfelder um Erfurt aber – die waren schöner als mein Traum von ihnen.
Zunächst freilich muß noch von Nüchternem die Rede sein, der Blume als Handelsartikel. Daß Erfurt eine Gartenstadt ist, in der so an die zehntausend Menschen von der Blumen- und Gemüsezucht leben, merkt man natürlich schon mitten in der Stadt. So auf den Marktplätzen. Schönere Blumen, prächtigeres Obst bietet man nirgendwo in Deutschland feil. Den Marktplatz besuche ich auch sonst in jeder mir fremden Stadt und sehe mir alles gründlich an. Es hat sich mir immer gelohnt; hier erfährt man, wovon die Leute leben und ob sie gut oder schlecht leben; hier kann man über den Typus der Bevölkerung zwanglos und angenehm ins klare kommen; daß es zumeist der schönere und – freilich nur unter den Käuferinnen – der jüngere Teil der Menschheit ist, an dem man seine Beobachtungen machen kann, hat mir wenigstens meinen Studieneifer nie abgekühlt. So eifrig aber wie in Erfurt habe ich nirgendwo studiert, was jedoch wirklich nur an den herrlichen Birnen und Rosen lag. Damit soll freilich nichts gegen die Erfurterinnen gesagt sein. Sie sind blond und im Durchschnitt zierlich und hübsch; die Katholischen aus dem Eichsfeld, das ein starkes Kontingent an Mägden, Arbeiterinnen und Handwerkerfrauen stellt, sind auch blond, auch hübsch, aber nicht eben zierlich; das macht, weil ihnen der liebe Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß sehr, sehr große Füße hat wachsen lassen. Schon an diesen Füßen kann man die Eichsfelderinnen erkennen, noch mehr an dem breiten, schweren Dialekt; es ist auch sonst vieles an ihnen ungewöhnlich breit. Mit Staunen habe ich in einem gelehrten Buche gelesen, daß in Erfurt auf zehn blonde drei braune Menschen kommen; ich hätte mir die Zahl der braunen nach meinen Beobachtungen noch geringer gedacht. Ist aber eine braun, so ist sie's sehr, und mehr als einmal erinnerte mich dieser brünette Schlag an meine Wanderungen unter den Nordslawen; in der Tat ist ja in Thüringen viel wendisches Blut zu finden. Sogar ein slawisches Wort habe ich einmal gehört: »I du Bojen!« (Ei du mein Gott); die Frau stammte aus Ruhla; dort, meinte sie, sagten es alle Leute. Im übrigen pflegen die Erfurter Hökerinnen nur deutsch zu sprechen, und zwar ein ebenso kräftiges und undiplomatisches Deutsch wie alle Hökerinnen im Reich. Als eine Bereicherung meiner zoologischen Kenntnisse habe ich mir das Kosewort aufgezeichnet, das eine dieser Damen ihrer Nachbarin zurief: »Du Ogsekuh«; eine andere erwiderte einer Magd, die »Flume-Kluesse« (Pflaumenklöße) kochen wollte, aber die Pflaumen zu teuer fand: »Backfife (Backpfeifen) kannst bill'cher haben.« Übrigens scheint unter diesen Frauen doch ein gewisses Maß von literarischer Bildung vorhanden; wenigstens habe ich eine Stelle aus dem »Götz von Berlichingen« nirgendwo häufiger zitieren hören als auf dem Marktplatz zu Erfurt. Dies alles aber nur zum Beweise, daß mir auch hier das Menschliche interessant war, freilich nicht das Interessanteste. Die Dimensionen dieser Äpfel, Birnen, Pflaumen und Rettiche sind keine ungewöhnlichen mehr wie im Mittelalter, wohl aber ihr Wohlgeschmack und ihr appetitliches Aussehen; so feines Weiß und Rot, eine so zarte Haut habe ich kaum irgendwo gesehen; die Erfurter Früchte sind die Schönheiten unter ihresgleichen. Und im schönen Körper wohnt eine schöne Seele; neben allem anderen Guten fiel mir namentlich der feine Duft auf. Dazu Salate, daß man versucht wäre, auf seine alten Tage ein Vegetarier zu werden. Aber nun gar die Blumen! Anderwärts trifft man auf dem Markte immer nur die Blumen der Jahreszeit, den Flieder, die Rose oder die Aster – hier sitzt jede Hökerin hinter einem blühenden Wall der verschiedensten Blumen, weil die vielen Handelsgärtnereien ihre geringeren Sorten hier verkaufen lassen. Levkojen und Reseden, Stiefmütterchen und Balsaminen, Rosen aller Art, und nun gar ein Heer verschiedenster Nelken, denn die Nelke ist heute die Modeblume von Erfurt wie einst die Georgine. Da es hier auch eine Fülle von hübschem, billigem Ton und Porzellan gibt, so ist der Freund des Zimmergartens in Erfurt trefflich dran.
Trifft man schon auf den Märkten Zehntausende von Blumen, so in den Gärtnereien Milliarden. Es gibt solcher Anlagen hier einige Dutzend; die kleinste eine gewaltige Plantage, die größten mit ihrem Gewirr von Beeten, Feldern und Gewächshäusern unübersehbar und die Sinne verwirrend. Es spricht oder schreibt sich leicht hin, daß eines dieser Geschäfte zweihundert Gewächshäuser unterhält, aber nun mache man sich ein klares Bild davon. Ich gewann es nicht, auch als ich's sah; es war eben eine ungeheure Fülle von Farben, Formen und Düften, und jeder neue Eindruck schlug die früheren tot, bis mir schließlich – ehrlich gesagt – wenig anderes davon übrigblieb als Augenflimmern und leises Kopfweh. Vielleicht ist's auch zum Teil meine Schuld. Ich bin ein Landkind, in Garten und Feld aufgewachsen, habe auch gern auf dem Gymnasium Botanik getrieben, aber ich weiß nur eben das Wichtigste. Wer bessere Kenntnisse und ein geübteres Auge für feine Verschiedenheiten der Form und Farbe hat, wird auch mehr Freude daran haben und mehr davon behalten. Etwas Sehenswertes und Ungewöhnliches blieb's freilich auch für mich, und die Erfahrung, daß starke Eindrücke das Tiefste aus dem Menschen hervorlocken, konnte ich hier gleichfalls machen, nicht an mir, sondern an anderen. »Was is nu das?« fragte mich eine dicke Berlinerin mit dünner Tochter beim Blumenschmidt. »Azaleen.« – »Azáljen!« berichtigte sie und dann zur Tochter: »Wunderscheen! Das könnte Tante Trudchen nich scheener malen!« Ein Herr aus Frankfurt, der gleichzeitig mit mir die Gewächshäuser von Benary besichtigte, war dann mein Nachbar an der Table d'hôte. »Großartig!« rief er. »Aber wissen möcht ich, was so 'n Mann jährlich verdient!«
Man weiß, die Handelsgärtner von Erfurt verdienen recht gut, weil sie ihr Geschäft in jeder Hinsicht trefflich verstehen, auch in der weisen Vermeidung überflüssiger Konkurrenz. Rosen und Nelken, Palmen und Orchideen trifft man freilich fast überall, aber daneben hat jeder seine Spezialität: der eine züchtet Veilchen, der andere Begonien, der dritte Levkojen, beim vierten findet man nur Kakteen, aber in Hunderten von Spielarten, so daß die eine Pflanze der andern nur gleicht wie ein Lappländer einem Neger, der fünfte beschränkt sich auf Koniferen und der sechste gar nur auf Fuchsien. Sie alle handeln auch – und dies ist sogar die Hauptsache – mit Sämereien; daneben mit getrockneten Blumen. Es tut mir bei meiner Vorliebe für Erfurt leid, sagen zu müssen, daß die entsetzlichen Makart-Bouquets, als Staubsammler wie durch ihre Geschmacklosigkeit gleich berüchtigt, zumeist von hier in die Welt gehen. Kurz, auch auf diesem Gebiet gibt's schaffende Künstler und mühselige Tüftler, Talente und Nachahmer, produktive Köpfe, die vor der Natur Respekt haben, und unproduktive, die ihr Zwang antun. Fast noch sichtlicher ist diese individuelle Prägung, die Begabung und Geschmack des Besitzers der Plantage geben, an den Baumschulen, und selbst die Gemüsefelder gleichen einander nicht ganz.
Die jährliche Umsatzziffer dieser Produktion Erfurts vermag ich leider nicht mitzuteilen; eine offizielle Angabe scheint es nicht zu geben, und was ich an Schätzungen hörte, ging gleich um mehrere Millionen auseinander. Gewiß ist, gewaltige Summen werden aus diesen Plantagen gezogen, und gewaltige Summen stecken in ihnen. Nicht bloß Summen von Geld, sondern auch von Talent, Verstand, Fleiß und Zähigkeit. Die Natur hat Erfurt zur Gartenstadt gemacht, indem sie ihm diesen unübertrefflichen Boden gab, aber das Klima ist kein besonders günstiges. Die Blüte der Haselnuß tritt frühestens am 2. März, die des Apfels am 1. Mai, die des Weizens am 19. Juni ein; Erfurt ist also nach dieser Hinsicht später daran als andere Orte des Hügellandes, was mit der auffallend kühlen Witterung zusammenhängt. Die Fröste hören selten schon Mitte April, zuweilen erst Ende Mai auf, um dann oft Ende September wieder zu beginnen. Im Durchschnitt hat Erfurt jährlich, mit dem Fachausdruck des Meteorologen gesprochen, nur 25 Sommertage (wo das Maximum 25° Celsius erreicht), hingegen 14 Frosttage (wo das Thermometer unter den Gefrierpunkt sinkt) und 45 Eistage (wo auch das Maximum unter Null liegt). In der Zeit von 1882 bis 1887 (eine spätere Tabelle war mir nicht zugänglich) hat der Inselberg, die höchste Erhebung Thüringens, im Durchschnitt wärmere Winter gehabt als Erfurt. Man muß kein Fachmann sein, um zu erkennen, was diese klimatischen Verhältnisse für eine Gartenstadt bedeuten, welchen ungeheuren Aufwands an Mühe und Umsicht es bedarf, um sie auszugleichen und unschädlich zu machen. Denn hier wie überall, und hier noch mehr als anderwärts, ist die Natur nicht bloß gütig, sondern auch grausam, eine Wohltäterin und eine Feindin zugleich, und es gilt immer wieder, ihrem Willen in dem einen zu gehorchen, ihn in dem andern zu besiegen. Es kommt trotz all der Gewächshäuser einem Wunder gleich, daß die Erfurter so viele Pflanzen des Südens hier heimisch gemacht haben, und die meisten Pflanzen haben dabei nicht an Kraft, nicht viele an Farbe, allerdings mehrere an Duft verloren. Mehr noch als mit der Kälte haben die Erfurter mit dem Gewitter zu kämpfen. Dies Becken an der Grenze zwischen Gebirg und Flachland, wo das aus der Ebene heranziehende Wolkenheer zuerst auf Berge trifft und sich an ihnen ballt, ist naturgemäß ein Wetterwinkel. Ein Erfurter Gewitter ist kein Spaß; ich habe hier selbst vor einigen Tagen eins erlebt; von Westen her über das Andreasfeld kam das schwarze, düstere Wolkenheer gezogen, und wie's auf den Petersberg traf, brachen Blitz und Donner los; dann wälzte es sich weiter über den Domplatz hin; das Licht war wie ausgelöscht; im grellen Scheine der Blitze leuchtete die Doppelkirche auf dem Hügel in die fahle Dämmerung hinein; immer rascher folgten sich Blitz und Donner; es wurde immer dunkler und schwüler, bis endlich der Regen niederprasselte, endlos und gewaltig wie eine Sintflut. Man kann das hier oft erleben; auch der Hagel ist ein häufiger Gast; Erfurt wird mehr von ihm heimgesucht als die meisten Orte Thüringens, zum Beispiel viermal öfter als Meiningen. Auch ist der Himmel häufig bewölkt; eine leichte Wolkenschicht fehlt selbst an den sonnigsten Tagen selten. Man weiß, Mensch und Pflanze lieben die Sonne und brauchen sie; es ist ein Gesetz, von dem es wenige Ausnahmen gibt, daß Besiedelung und Pflanzenwuchs dort am dichtesten sind, wo der Himmel am lichtesten ist; Erfurt gehört zu diesen wenigen Ausnahmen. Die günstige Lage, die Fruchtbarkeit des Bodens waren stärker als die Sehnsucht nach der Sonne.
Und darum gedeihen unter diesem bewölkten Himmel die größten Blumenfelder auf deutscher Erde. Den Süden der Stadt abgerechnet, findet man überall einzelne solche Felder, die meisten im Westen vor dem Brühler Tor. Wie des Vormittags auf dem Steiger bin ich bei sinkender Sonne all diese Tage dort gewesen, nur das erste Mal zu Wagen, dann immer zu Fuß, den Eindruck nicht länger, aber besser zu genießen, denn auch zu Wagen kann man stundenlang fahren und den gleichen Anblick haben. Der Eindruck war immer gleich stark, noch mehr, er wuchs, je vertrauter mir das einzelne wurde, aber die Empfindung, etwas Einziges, ja Märchenhaftes sehen zu dürfen, verließ mich nie. Schon durch wogende Getreidefelder zu gehen ist ja dem Stadtmenschen Freude genug, und nun denke man sich statt des eintönigen, duftlosen Ährenmeers ein Meer von berauschend duftenden, in allen Farben leuchtenden Blüten: Rosen und Veilchen, Reseden, Levkojen und Tulpen, Balsaminen, und zwischen diesen schimmernden Feldern ganze Wäldchen blühenden Gesträuchs. Wer eine empfindliche Nase hat wie ich, hat hier endlich Grund, der Natur für diese Gabe zu danken, die dem Wanderer sonst nicht eitel Freude bringt. Freilich, in der Sommerglut und bei unbewegter Luft ist der Duft fast betäubend; anders gegen Abend, wo von den Hügeln her ein kühlerer Lufthauch weht. Aber gleiche Freude genießt auch das Auge, wenn es über ein Feld von Tulpen oder Levkojen schweift. Es ist auch in der Nähe, wie es mir in der Ferne schien: als wäre ein Regenbogen auf die Erde gesunken und da in tausend bunte Stücklein zerstäubt. Und wie schön sind die Formen dieser zarten Pflanzen: jede dem flüchtigen Blick der andern gleich und in Wahrheit jede nicht minder verschieden als etwa wir Menschen untereinander. So wandelte ich dahin, selig und wunschlos wie selten im Leben, trunken von Farben und Düften.
Mindestens diese Blumenfelder sollte jeder besehen, den sein Weg durch Thüringen führt. Sie sind in ihrer Art einzig und übertreffen alle ähnlichen Anlagen, die ich kenne. Zwar in den Rosengärten von Schiras bin ich nie gewesen, aber die bulgarischen kenne ich; sie sind gewiß herrlich, auch durch ihre Ausdehnung imponierend, aber das sind eben nur Rosenfelder; ihnen fehlt die Symphonie der Farben und Düfte, die hier entzückt. Auch in Haarlem werden nicht entfernt so viele Blumenarten gezogen, und die Quedlinburger Felder wieder werden von denen Erfurts an Ausdehnung übertroffen.
Gestern war ich zum Abschied draußen, natürlich mit Christoph Martin Wieland. Da ich ihm sagte, daß dies das letzte Mal sei, so nahm er vom Anger, wo er mir mit glühender Nase und schimmernden Äuglein entgegenkam, die Richtung zum Brühler Tor durch die Michaelsstraße und um den Petersberg herum, was einen Umweg von einer halben Stunde bedeutete. Wenigstens versicherte er mir, daß ihn nur der Abschied von mir »ganz plöde im Kope« mache, aber noch mehr, auch angetrunken war er nur aus dieser schmerzlichen Veranlassung, denn: »Ech daachte alleweil, Sie maachen fort!« Draußen aber wurde er leidlich nüchtern, schwieg auch und hatte erst auf dem Heimwege einen poetischen Gedanken: »Oh!« seufzte er, »wenn jedes dieser Blümechen 'n Pfennig wäre und mir gehörte!« – »Aber, Wieland«, wandte ich ein, »so viel Schnaps können auch Sie nicht vertragen!« Worauf dieser Anakreontiker: »Denn tät ich eben Win saufen!« Zum Schluß aber wurde er wieder elegisch und beruhigte sich nicht eher, bis ich eine Mark und das Versprechen gab, wiederzukommen: »Tun Sie's, Herre, denn wie mein Kamerad Knieschke sagte: ›In Erfurt is gut wohnen.‹«
Es war, wie man weiß, nicht der Droschkenkutscher Knieschke, sondern der Koadjutor Dalberg, der das Wort prägte. Ein Wahrwort jedoch ist's, und darum will ich auch gerne wiederkehren.
Heut aber geh ich in die Berge, die mir vom Steiger her so lockend winkten: nach Oberhof.
Erfurt, im August 1901