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Der Dom zu Erfurt ist sehenswert, aber seltsam und der Widersprüche voll. In noch weit höherem Maß gilt dies alles von dem Stadtbild. Und nun ich von diesem zu reden beginne, habe ich sowenig wie bei Zerbst und Wörlitz die Unterbrechung zu fürchten: »Aber das ist ja bekannt!« Denn auch Erfurt kennt man nicht, und es ist mir rätselhaft, daß von den Millionen Touristen, die alljährlich vorbeisausen oder ringsum den Sommer verbringen, so wenige herkommen.
Keine Fremdenstadt; man merkt's überall, nicht bloß an Christoph Martin Wieland und Genossen. Ich sehe davon ab, daß ich in den Sammlungen am Hospitalsplatz der einzige Besucher war, während ich im Museum am Anger leider ein einheimisches Liebespaar störte. Und wenn in Gretchens braunen Augen (so hieß sie; »Gretchen, schnell noch einen Kuß, da kommt der Kerl wieder!«) die bange Frage stand: »Wenn Erfurter junge Liebe sogar im Museum nicht mehr sicher ist, wohin soll sie noch flüchten?«, so antworte ich: »Getrost, Kinder, diese Stellen märchenhafter Einsamkeit bleiben euch erhalten!« Denn wissenschaftliche Sammlungen sind nicht jedermanns Sache, und im Museum kann man nur erfahren, daß auch in Erfurt mittelmäßige Maler geboren worden sind. Aber warum trifft man hier auch an interessanten Orten so wenig Fremde?
Die Antwort ist schwer. Bauernfeld erwiderte mir einmal auf eine ähnliche Frage – es war von Wien die Rede –: »Wer erwartet hier die Fremden?« Natürlich ist auch daran was, und in Erfurt erwartet sie niemand. Alles, was man Fremdenindustrie nennt, in argem Gegensatz zur Größe der Stadt; die Sehenswürdigkeiten schwer oder gar nicht zugänglich. Der katholische Dom hat doch mindestens eine, wenn auch recht eigentümliche Besuchsordnung; die evangelischen Kirchen aber – nach meinen Erfahrungen geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, ehe denn ein Fremder in ihr Inneres gelangt.
Hier einige dieser Erfahrungen. Die Barfüßerkirche, ein massiver, frühgotischer Bau, der Turm ein Prachtstück, das Innere angeblich ebenbürtig, die Türe verschlossen. Ich frage die Vorübergehenden, wo ich den Küster finden könne. Nummer eins, dicker Schlächter, mürrisch: »Weeß nich!« Nummer zwei, Gebildeter, belehrend: »Hier sieht man sich nur den Dom an!« Nummer drei, dünner Schneider, lächelnd: »Aber da is ja jetzt keene Katz drinne! Was wollen Sie da siehn?« Endlich Nummer vier, ein Kanzleirat, oder doch einer, der das Würdevolle an sich hat: »Aber, mein Herr! – Der Eintritt ist ja doch durch dies Gäßchen rechts rum, übern Hof!« Nun ja, die Fremden sind so unglaublich dumm, sie fragen nach Dingen, die jedes Kind in Erfurt weiß, aber dann muß man sie auch mitleidig zurechtweisen. Ich fand den Hof und da – ja, eine Tafel! – die Besuchsordnung! Aber auf der Tafel stand: »Unbefugten ist der Zutritt zum Schulhof untersagt. Der Magistrat.« Ich überlege: Das ist also ein Schulhof, diesen zu betreten bin ich unbefugt, aber da hier zugleich der Eintritt zu einem der schönsten Bauwerke dieser Stadt ist, so darf's der Kunstfreund wagen. Nur nützte es mir nichts; auch diese Pforte ist geschlossen; zehn Minuten dauert's, bis ich die Wohnung des Küsters erfrage, weitere zehn, bis ich sie finde – aber »där Häär schläääft seit Ains«, sagt sein Mädchen. Nach der Breite ihres Dialekts zu schließen schläft er behaglich. Küsterschlaf ist heilig, aber es ist fünf, ein Nachmittagsschläfchen von vier Stunden ist für Nicht-Küster genügend, so murmle ich was von gutem Trinkgeld, Kirche besehen usw. »Und darum soll äch ihn wääcken?« ruft sie entrüstet und wirft mir die Tür vor der Nase zu. So hatte ich ein halbes Stündchen ebenso nützlich wie angenehm verbracht.
Nicht besser erging's mir bei der Predigerkirche. Gleichfalls ein frühgotischer Bau, das Innere ein Juwel nach dem Urteil aller, die es gesehen; nachdem ich mit schwerer Mühe die Wohnung des Küsters erfragt, war er nicht zu Hause. Ich mochte wohl eine sehr betrübte Miene gemacht haben, denn die Frau tröstete: »Aber Sie können's ja uffschreiben! Is es än Junge oder än Mächen?« Sie hielt mich für einen glücklichen Vater, der ein Kind zur Taufe anzumelden kam. Schüchtern gestand ich ihr meinen Zweck. »So, so!« sagte sie. »Ja, das will bald alle Monate einer, aber merschtentels is es nischte dermit!« Auch bei mir war's »nischte dermit«. Was endlich die uralte Reglerkirche von 1135 betrifft, deren Inneres als wohlerhaltenes Muster romanischen Stils gerühmt wird, so mag sie vielleicht auch einen Küster haben, aber – das behaupte ich steif und fest – dieser Küster wohnt nicht, denn sonst hätt ich ihn gefunden; suchte ich ihn doch schließlich mit Hülfe eines mitleidigen Schutzmanns...
Aber, wird man fragen, gibt's keinen Spezialführer für Erfurt, der über derlei Dinge Auskunft gibt? Freilich gibt's einen, sogar einen offiziell von der Stadt geförderten, aber der Herr Verfasser feiert nur eben alles in und um Erfurt mit denselben überschwenglichen Phrasen und in demselben üblen Deutsch; der Mann hat seinen Beruf verfehlt, welch ein schlechter Lyriker hätte er werden können! Sein Führer enthält vielerlei, was kein anderes solches Büchlein bietet, zum Beispiel ein Verzeichnis der Wohltätigkeitsanstalten, die gemütvollen Verse eines geborenen Erfurters, der sich nun »im Sand der Marken« vergeblich nach seiner Heimatstadt sehnt, weil ihm »das Geschäft gebieterisch in die Zügel fällt«, auch eine Übersicht der Volks- und Bürgerschulen, kurz, was so der Fremde vor allem braucht, aber so nüchterne Angaben, wann und wie man etwas zu sehen kriegt, entstellen das empfehlenswerte, bei Orell Füßli in Zürich erschienene Buch nicht. Auch mit der alten Schablone, wonach den Nummern des Stadtplans immer eine arithmetisch geordnete Erklärung dieser Nummer beigefügt wird, so daß man, wenn man ein Gebäude sucht, seine Nummer finden oder, wenn man nach dem Plane geht, erfahren kann, was Nr. 172 bedeutet, ist hier gebrochen, ein solches Verzeichnis gibt es nicht, und der Plan selbst ist auch was ganz Neues. Sonst ist auf allen Karten und Plänen der Welt rechts Osten, links Westen, oben Norden, unten Süden; hier ist mal zur Abwechslung oben Westen, unten Osten, rechts Norden, links Süden, was für den Fremden, der gewohnt ist, sich gleichzeitig nach dem Plan und dem Sonnenstande zu richten, ein unfehlbares Mittel ist, binnen einer Viertelstunde vor Ärger aus der Haut zu fahren. Das aber wird nur der Choleriker tun; der Sanguiniker hingegen wird nach Baedekers kleinem, aber klaren Plänchen gehen und diesen großen, auf schönem Papier gedruckten Plan einem anderen Zweck zuführen. Ich bin ein Sanguiniker... Noch eins, auch nichts Großes, aber wie bezeichnend! In allen guten, alten Städten gibt's aus den guten, alten Tagen gute, alte Steinbänke auf jedem Platz, auf jeder Stelle, von wo man einen hübschen Blick hat, und in neuester Zeit fügen die Städte mit Fremdenverkehr neue bequeme Holzbänke mit Rückenlehnen hinzu; der Wanderer dankt's ihnen im stillen, der Einheimische vielleicht nicht minder. Ohne Zweifel gab's auch in Erfurt einst viele solche alte Bänke; noch heut sieht man Reste davon, aber die meisten sind entfernt und neue nicht hinzugekommen. Wozu auch? Man läuft hier eben seinen Geschäften nach. Um mir auch einmal ein Superlativ zu gönnen: Erfurt ist die bankloseste Stadt Deutschlands.
Aber doch auch eine der sehenswertesten. Nein, daraus allein, daß sich hier niemand um den Fremden kümmert, ist der schwache Besuch nicht zu erklären. Es ist ja wahr: der Fremdenverkehr geht nur nach Orten, die Rücksicht auf die Gäste nehmen, aber noch viel wahrer ist, diese Rücksicht wird nur dort genommen, wohin der Strom geht. Ich glaube also, es hat einen anderen, sehr triftigen Grund; in vielem ist der aufrechte Zweibeiner, homo sapiens, ein Herdentier, aber am meisten in der Wahl seiner Reiseziele; nach Erfurt geht man nicht, weil man eben nicht hingeht. Und das ist schade. Die alte Erfordia ist keine lachende Schönheit, die jeden fesseln muß, aber ihr unschönes, leiddurchfurchtes und doch von unverwüstlicher Lebenskraft durchstrahltes Antlitz wird jedes erfahrene Auge fesseln. Und im Bilde zu bleiben: gerade den Frauenkenner wird das Weib anziehen... Welch ein Stadtbild! Alt und neu, schön und häßlich, Zeugnisse feiner, üppiger Kultur und öder Armseligkeit in buntem Gemisch, auf Schritt und Tritt. Ähnliches mag man, ehe wir wieder eine leidlich wohlhabende Nation geworden sind, zuweilen in Deutschland getroffen haben – ich denke zum Beispiel an Königsberg in Preußen –, aber in so scharfem Anprall der Gegensätze nicht, und für unsere Tage scheint mir das Stadtbild von Erfurt nach dieser Hinsicht vollends einzig. So einzig, daß es zu schildern schwer ist. Und ganz unmöglich wäre die Aufgabe zu lösen, wenn ich gleich mit dem Nebeneinander beginnen wollte. Erst will ich's mit dem Nacheinander versuchen und andeuten, was alles da vorging und was alles man da noch sehen kann, und dann erst, in welchem Gemisch hier die Steine, wirr durcheinander, die wild bewegte Geschichte von mehr als einem Jahrtausend erzählen.
Eine ur-, uralte Stadt – das ist, wie der erste, so der bleibende Eindruck –, eine Stadt, über der ungeheure Schicksale gewaltet haben. Während anderwärts die Geschicke sich sacht abspannen, abwechselnd trüb und heiter, wie nun einmal Menschenlos ist, wechseln hier volles Glück und schlimmstes Verderben. Und beide kommen aus derselben Quelle, dem Willen der Natur. Sie hat – sahen wir schon – Erfurt zur »Stadt der Ackerbauer«, zu einem Knotenpunkt des Verkehrs gemacht, und darum bestimmt sie der heilige Bonifacius zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit für die Christianisierung Mitteldeutschlands, zum Bischofssitz. Aber weil Stadt und Gebiet Erfurt ein so lockender Besitz sind, reißt sie Mainz an sich und legt ihnen dadurch eine furchtbare, ein Jahrtausend währende Fessel auf. Hier laufen – sahen wir ferner – die Handelswege von Ost und West, Nord und Süd zusammen; die Natur bestimmt Erfurt zum Handelsplatz, zur reichen Stadt, aber Reichtum weckt Habsucht; nach der »Henne, die die güldenen Eier legt«, strecken sich immer wieder begehrliche Fäuste und drehen ihr schier den Hals um; und was das schlimmste ist: auch den Sinn und die Kraft der eigenen Bürger verwirrt und entnervt in mehr als einem entscheidenden Augenblick das rote Gold. So ist hier alles Fluch und Segen zugleich, zumeist natürlich jenes dritte, dessen gleichfalls bereits gedacht ist: der Kranz von Felsen und wildem Gewässer, der Erfurt zur Festung macht. Ist's nicht die Üppigkeit des Bodens, so ist's der Reichtum des Stapelplatzes und zwischendurch die Bedeutung der Festung, die Erfurt immer wieder zerstören und aufbauen. Eine richtige Schicksalsstätte.
Große Menschen haben immer auch, oft nur kraft ihres genialen Instinkts, den Sinn für eine solche Stätte; sie drücken gleichsam ihr Siegel auf die Schrift der Natur. Dem heiligen Bonifacius, der erkennt, daß diese Stadt kraft der Fruchtbarkeit ihres Bodens ein unverwüstliches Leben hat, gesellt sich Karl der Große, der ihre Bedeutung als Stapelplatz erfaßt, den Marktverkehr regelt, einen eigenen Vogt zu ihrem Schutz bestellt. Die Stadt erblüht wie Baum und Blume auf ihrer Flur, in üppiger Kraft, mit einer unter deutschem Himmel seltenen Raschheit. Dem Mainzer Erzbistum untertan, wird sie zugleich Königspfalz; hierher beruft schon Ludwig der Deutsche einen wichtigen Reichstag, hier läßt Heinrich I. seinen Sohn Otto zum König wählen. Unter Umständen läßt sich zweien Herren besser dienen als einem: die Macht des Königs und die des Erzbischofs, beide nicht scharf abgegrenzt, lassen Raum für die Entwicklung eines Bürgertums, in dem sich Trotz und Kraft der alten Thüringer fortzuerben scheinen. Aber Otto III., in seiner Mischung von Herrschsucht und Askese wahrlich ein »Wunder der Welt«, tritt seine Rechte an Kurmainz ab, und Heinrich IV. leiht dem Erzbischof den gewappneten Arm, die Stadt dem Zehnten zu unterwerfen. Es geschieht nicht kampflos; Erfurt verjagt 1074 den Erzbischof und wird dann niedergeworfen und gezüchtigt. Nun ist der Mainzer sein Herr, aber auch der Landgraf von Thüringen will sein Teil an den »güldenen Eiern«, reißt die weltliche Gerichtsbarkeit an sich und setzt den Grafen von Gleichen als Stadtvogt ein. Das ist gleichermaßen ein Unglück wie ein Glück für die Stadt; denn natürlich kommen Landgraf und Erzbischof bald über die Henne in Streit; der Landgraf zerstört die Erfurter Stadtmauer, der Erzbischof baut sie mit Hülfe der Bürger wieder auf; ein andermal jagen die Bürger mit Hülfe des Landgrafen die Mainzer zur Stadt hinaus, und wieder einmal stehen Vogt und Stadt gegen den Landgrafen zusammen. So nehmen Kampf und Wirrnis kein Ende, aber weder der Mainzer noch der Thüringer, noch der Vogt können die Hülfe der Bürger missen; das ist das Glück dabei. So kommen die Bürger im 12. Jahrhundert zu immer größerer Bedeutung; nach jeder Fehde blüht Erfurt kräftiger auf; 1177 durch ein grimmes Ringen mit dem Landgrafen verwüstet und geschwächt, steht es vier Jahre später, 1181, so stolz da, daß es Friedrich Barbarossa zum Platz eines Schauspiels wählt, für das er eine besonders glänzende Folie braucht: hier muß sich Heinrich der Löwe vor ihm beugen. Dieses jähe Aufblühen nach jeder noch so harten Prüfung kommt einem Wunder gleich.
Aber es war kein Wunder, und wir wissen bereits die Erklärung. Rings um die Stadt wogte schon damals nicht Weizen oder Gerste, sondern das Blaugrün des Waids und das Goldgelb der Rapsblüte. Der Waid (Isatis tinctoria L.), im Mittelalter der einzige blaue Farbstoff, war bis ins 17. Jahrhundert hinein, wo ihn der Indigo totschlug, die Hauptquelle von Erfurts Macht und Reichtum; nicht aller Waid wurde hier gebaut, aber fast aller hier gehandelt; drei Tonnen Goldes, sagen die Chronisten, habe er jährlich der Stadt eingebracht; nicht Tausende, Zehntausende lebten als Waidjunker und -bauern, als Fuhrleute und Färber von der Blattrosette der unscheinbaren Pflanze. Auch Hopfen bauten sie und brauten früh vortreffliches Bier; dabei bogen sich in jener gesegneten Zeit die Spaliere auf den sonnigen Hängen um Erfurt von schweren Reben – die Weinkultur gehört zu dem wenigen Guten, was den Erfurtern von Mainz her wurde, der Erzbischof sandte Winzer und Schößlinge vom Rhein. Daneben bauten sie Anis und Koriander, vor allem aber das beste Gemüse in Deutschland; Blumen, wie man sie sonst kaum wo sah: »des Heiligen Römischen Reichs Gärtner« hießen die Erfurter erst später, aber sie waren es schon im 12. Jahrhundert. Gerühmt wird auch die Bienen-, als Wichtigeres aber die Rinderzucht; so große Wiesen wie andere Ackerbürger hatten die von Erfurt nicht, dazu war der Boden zu kostbar, aber um so üppiger schoß hier auf den kleinen Weideflächen das Gras empor. »Ein Kanaan, wo Milch und Honig fließt«, erschien jenes alte Erfurt seinen Dichtern und Chronisten.
Man sieht, die »Stadt der Ackerbauer« war Erfurt geblieben, aber daneben war es schon längst zu einer Stätte blühenden Gewerbefleißes geworden. Was immer deutsche Bürger vor 700 Jahren zustande brachten, konnten die Erfurter auch, und einiges besser als andere; die Schwertfeger, die Löwer (Gerber), die Schegener (Flachsweber) und die Tuchmacher waren weithin berühmte Gilden; die berühmteste von Erfurt war nur hier zu finden, die der Weiter, der Färber und Händler mit Wald. Gleich viel Geld aber brachte der Handel in die Stadt, »die Erfurter Bürger durften sich rühmen, daß ihre Stadt im Warenvertrieb einem Herzen gleiche, von und nach dem das Adernsystem das ganze deutsche Vaterland durchziehe« (A. Kirchhoff, »Die ältesten Weistümer der Stadt Erfurt«). Von Norden kamen Heringe und Eisen, von Süden Nüsse, Gewürze und Seide, von Osten der Bernstein und die Salben des Morgenlandes, von Westen Juwelen und kostbare Stoffe. Die Natur hatte Erfurt die günstige Lage beschieden; die Menschen aber schufen gute Straßen und kluge Gesetze. Wer nur durch Erfurt fuhr, mußte Zoll erlegen; wer hier stapelte, blieb von Abgaben frei. So ernährte auch der Handel Tausende; in Erfurt hungerte niemand. Wohl aber anderwärts in dieser harten, dunklen Zeit. Daher wirkte Erfurt wie ein Magnet, und jede Lücke, die Feuer und Schwert in die Reihen rissen, fand zehnfachen Ersatz.
Nicht bloß die Bücher erzählen von diesem Erfurt um 1200; man sieht noch heute seine Spuren, nur muß man die Augen recht gebrauchen. Freilich, eine Waid habe ich nicht gesehen, sooft ich auch bei meinen Gängen durch Felder und Gärten nach dem schlanken Stengel mit pfeilartig aufsitzenden Blättern ausspähte. Und doch wurde sie zuletzt noch vor 90 Jahren, während der Kontinentalsperre, wo der Indigo nicht ins Land konnte, im großen angebaut und selbst vor 40 Jahren noch zeitweilig als Hackfrucht gezogen. Heut bin ich ihr zwar anderwärts in Thüringen begegnet, bei Arnstadt zum Beispiel, in Erfurt nicht. Selbst in den riesigen Gewächshäusern und Plantagen von J. C. Schmidt und Benary suchte ich diese größte Wohltäterin Erfurts vergeblich. »Waid?« antwortete mir beim Blumenschmidt ein höchst eleganter Verkäufer. »Unbekannt! Selbst geborener Erfurter! Nie gehört!« Man darf von einem Herrn, der zu beschäftigt ist, um in ganzen Sätzen zu sprechen, nicht verlangen, daß er die Geschichte seiner Vaterstadt kenne, aber daß heute kein Erfurter Kind erfahren kann, wie die Pflanze ausgesehen hat, ohne die es vielleicht jetzt kein Erfurt mehr gäbe, hat mich doch gewundert. Freilich, wir Menschen sind selbst gegen Menschen nicht dankbar – und sollten es gegen Pflanzen sein? Auch daß es noch eine Weitergasse in Erfurt gibt, spricht nicht dagegen; sie zweigt vom Anger ab, wo die Waidmärkte abgehalten wurden. Allerdings mögen nicht alle Erfurter wissen, warum sie so heißt; mein feuchter Gönner Christoph Martin Wieland zum Beispiel, dessen Droschke ich aus Verehrung für den »Oberon« noch oft benützte, wußte es nicht. Ich erklärte es ihm, als wir hindurchfuhren, und meinte, damals hätten wohl viele Erfurter so schön himmelblaue Nasen gehabt wie er. »Määglich«, erwiderte er ernst, »daß ich's dadervon habe, meu' sind alde Aarforder.« Diese Anwendung der Vererbungstheorie ist noch immer plausibler als die Antwort, die mir meines Vaters Kutscher zu geben pflegte, wenn ich ihn fragte, warum er immer nach Schnaps rieche. »Jungherr«, sagte der alte Fedko gekränkt, »mit eines Menschen Unglück spaßt man nicht. Ich bin als Kind von einem Birnbaum gefallen, und seitdem gebe ich diesen Geruch von mir.«
Mit der Farbpflanze aus dem Mittelalter war es also nichts, hingegen habe ich bei einem Spaziergang gegen Hochheim hin noch selber Rebstöcke gesehen und die dürftigen grünen Trauben mitleidsvoll gestreichelt. Ob heute noch aus ihnen Wein gekeltert wird, weiß ich nicht, mein Hotelwirt verneinte es: »Kein Bedarf, lieber Herr, wir haben hier billigen Essig.« Und doch verzeichnet Olearius als die drei W, auf die Thüringens Hauptstadt stolz sein dürfe, »Wein et Wolle et Waid«, und der alte Eobanus Hessus, der hier 1517 Professor wurde, schätzt in einer seiner Idyllen den Erfurter Wein höher als alle Weine des Rheins. Und da Hessus sich als fahrender Scholar weit umgetan hat und da Luther ihn den »rex poetarum« nennt, was er nicht getan hätte, wenn er ein Dichter ohne Trinkverstand gewesen wäre, so habe ich von vornherein vermutet, daß die Schuld nicht an dem braven Hessus liege, sondern an der Entartung des Erfurter Weins, und in einem der dicken alten Schmöker, die ich in meinen Erfurter Tagen durchsah, weil mir eine Stadt um so mehr Spaß macht, je mehr ich von ihr weiß, fand ich meine Vermutung bestätigt. Die endlosen Belagerungen, sagt der gelehrte Verfasser, hätten verschuldet, daß die Reben, jahrelang ohne Pflege, schließlich ganz verwilderten. Da wäre denn der Wein von Erfurt eine der vielen Gaben, die der ewige Kriegssturm der Stadt geraubt hat.