Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Noch ehe mich die Zerbster Pferdebahn mit der Rapidität einer galoppierenden Schnecke zum Bahnhof befördert hatte – wir waren nun unser drei Passagiere, welche Verdreifachung des Verkehrs dem Sonntag zuzuschreiben war und mich mit Neid auf die Aktionäre dieses lukrativen Unternehmens erfüllte –, stand mein Entschluß fest: Dessau und Wörlitz, dabei bleibt's. Vernünftiger wäre es ja wohl, sagte ich mir, in einem Zug weiterzureisen und morgen abend in einem kühlen Bergtal zu sein, aber so gibt's wohl mehr Pläsier. Und zwar entfielen in meiner Erwartung etwa neun Zehnteile von diesem Pläsier auf die »elysäischen Felder«, die Goethe in Wörlitz entdeckt hatte, und ein Zehnteil auf Dessau, das ich bereits kannte, freilich nur durch einen Besuch vor etwa zwanzig Jahren.
Aber man darf daraus nicht schließen, als ob ich von damals her etwas gegen Dessau gehabt hätte. Gegen Dessau hat niemand was, gegen Dessau kann niemand was haben; ich kann mir das ebensowenig denken wie finsteren Haß gegen einen dicken, gemütlichen Onkel. Denn die Verkörperung der Stadt an demjenigen ihrer Denkmäler, das ihr schlechtestes wäre, wenn ihr nicht seither die Freigebigkeit des verstorbenen Baron Cohn das geschmackloseste Kaiser-Wilhelm-Denkmal im ganzen Deutschen Reich beschert hätte – diese Verkörperung von Dessau am Jubeldenkmal scheint mir arg verfehlt. Eine empfindsamer zimperliche, gleichwohl wenig bekleidete Jungfrau von erbarmungswürdig kargen Formen, die in eine Lyra greift, um, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, etwas sehr Sentimentales vorzutragen, bewahre, das ist Dessau nicht, sondern ein behaglicher, wohlgenährter Geschäftsonkel in den besten Jahren, leidlich anständig, wenn auch nicht eben sorgfältig gekleidet, auch nicht gerade der kurzweiligste Sterbliche, aber honett, freundlich und sogar von leidlicher Bildung. Die hat er freilich aus seinen jüngeren Jahren, wo er für alle neun Musen schwärmte, nicht überschwenglich, aber ehrlich; damals war er auch noch ein hagerer Mensch. Seither hat er die Schwärmerei für die nützlichen Sachen gelernt, denen er sein Vollmondsgesicht und die schwere, auf das Spitzbäuchlein niederbaumelnde Goldkette verdankt: für Tapeten und Zucker, Bier und Mehl, Eisen und Sprit, Wollgarn und Maschinen. Lauter notwendige Sachen, gegen die sich nichts sagen läßt – aber kann man sich, frag ich, in die Arme dieses dicken Onkels sehnen und anderen zumuten, eine eingehende Schilderung seiner Reize zu lesen?
Schon deshalb kann ich hier nicht in derselben Art von Dessau erzählen wie von der »verschollenen Fürstenstadt«, aber nicht deshalb allein. Zerbst ist trotz Brägenwurst und Bitterbier ein richtiges Dornröschen, und niemand nimmt sich seiner an; Dessau hingegen blüht als die reiche Hauptstadt eines der wohlhabendsten Länder Deutschlands, von den Strahlen höfischer Gunst, aber noch kräftiger von dem Feuer zahlreicher Maschinenkessel durchwärmt, und ist genau nach Verdienst bekannt und besucht. Der ungeheuren Mehrzahl der Menschen wird immer ein Fluß, der Mühlen treibt, lieber sein als der versprengte Tautropfen im Grase, zu dem man sich mühselig bücken muß; ich aber habe nach dieser Hinsicht, vielleicht aus angebotenem Trieb, vielleicht durch das Schicksal erzogen, immer aus ganzer Seele zu der Minderheit gehört, und für die Mühe des Bückens war mir stets die Erkenntnis tausendfacher Lohn, daß sich die Sonne, die über uns allen ist, im kleinen Tropfen viel farbiger und wundersamer spiegelt als im Flusse. In dem armen, romantischen Nest hat mir altem Knaben ordentlich das Herz vor Freude geklopft; in der reichen Rentner- und Industriestadt ist mir das nicht passiert. Und so sei mir gestattet, nur zu versichern, daß es Onkel gut geht, daß er noch immer stark zunimmt, aber nicht kurzweiliger geworden ist, und zu berichten, was er sich so in den letzten Jahren an hübschen und minder hübschen Sachen beigelegt hat.
Schon vom Bahnhofsportal bietet sich ein anderes Bild: in den Anlagen sind die Bäume und hinter ihnen neue Hotels emporgewachsen. Das eine ist nett und das andere notwendig, ein Erzeugnis des modernen Reiseverkehrs, der ja nicht etwa bloß stärker, sondern vor allem auch hastiger wird, das sehe ich ein. Aber diese Bahnhofshotels gefallen mir nicht, und wo sie die stillen, alten, vornehmen Gasthöfe im Herzen des Weichbilds totschlagen, da hasse ich sie. Dieser Prozeß vollzieht sich in den meisten Mittelstädten Deutschlands geräuschlos – ich erinnere mich nicht, je einen Hinweis darauf gelesen zu haben –, aber mit unerbittlicher Wucht; ab und zu haben bereits die entthronten Patrizier vom Markt oder der Hauptstraße vor den Parvenüs draußen die Waffen gestreckt; die anderen kämpfen noch, aber viele werden unterliegen. Das ist schade – o diese Bahnhofshotels! Schon das Gepfeife des nahen Bahnhofs ist bei Tage unangenehm und des Nachts lästig; freilich wollen viele Leute nachts reisen, aber andere wollen schlafen. Dazu der Verkehr im Hause; die dünnen Wände dieser zumeist rasch, billig und schlecht aufgeführten Karawansereien gewähren einen Einblick in das Treiben der Nachbarn, der ja vielleicht psychologisch interessant, aber jedenfalls schlafraubend ist. Und das Essen ist fast immer schlecht; die Gäste bleiben ja ohnehin höchstens einen Tag. Weil ich dies alles weiß und weil ich vor zwanzig Jahren in einem guten alten Haus, dem »Goldenen Beutel«, nahe am Schloß, vergnüglich gehaust hatte, ging ich vorgestern in ein Hotel am Bahnhof. Freilich hatte mich Zerbst müde gemacht, aber ich habe diese Inkonsequenz bitter bereut. Allerdings kann ich nun aus eigener Wahrnehmung versichern, daß der nächtliche Lastzugsverkehr dieser Industriestadt ein erfreulich reger ist, auch lockten mich meine Nachbarn rechts und links in tiefes Grübeln über das menschliche Leben hinein, aber das erste hätte ich mir auch so denken können, und über das menschliche Leben habe ich auch ohne das alte Ehepaar rechts und das junge links wirklich schon genug gegrübelt. Beide Paare kehrten eben aus den »elysäischen Feldern« zurück, aber in wie verschiedener Stimmung! Aus dem Zimmer links erklangen zunächst einige so dröhnende Schmätze, daß ich zusammenfuhr, dann fragte Trudchen: »Wilhelmchen« – Schmatz –, »was hat dir denn im Gotischen Haus besser gefallen« – Schmatz –, »der Wandick oder der Halsbein?« Worauf er: Schmatz – »Du Trudchen« – Schmatz –, »am besten« – Schmätze in infinitum... »Oh, daß sie ewig grünen bliebe...«, aber sie bleibt ja gar nicht grünen. Im Zimmer rechts warf Frau Klara ihrem Fritz vor, daß er bei der Kahnfahrt im Wörlitzer Park die Schifferin heimlich in die Wade gezwickt und dann am Bahnhof sieben Glas Bier getrunken habe, obwohl er nicht zwei vertrage, worauf Fritz leider durch seine Antwort die Richtigkeit dieser Ansicht bewies, denn er rückte seiner getreuen, doch gewiß nur von der Sorge um ihn verzehrten Ehehälfte vor, daß sie überhaupt keine Waden habe; »auch nie gehabt«, grölte er, »niemals!«, worauf sie unter blutigen Tränen die einstige Existenz dieses spurlos dahingeschwundenen Körperteils beteuerte. Und dies Gespräch dauerte zwei Stunden; die Küsserei links nahm überhaupt kein Ende. Waren da Breitmäuler selig, oder hatten sie eine besondere Kußtechnik, aber es klang wirklich wie Böllerschüsse... Nun, für all dies kann das Hotel nichts, aber welch ein Diner habe ich da gestern genossen! Zu einem Zwecke, der mir human scheint, teile ich zum mindesten das Rezept des zweiten Ganges mit, der mich nach einem Teller voll warmen Wassers, das hier »Kraftbrühe« heißt, erfreute. Das Gericht nennt sich »eingemachtes Kalbfleisch«, und zwar, wie der Kellner beim Servieren stolz beifügte, »nach Dessauer Art«. Es wird wie folgt zubereitet: Man nehme recht zähes, grobfaseriges Kalbfleisch, koche ihm drei Stunden lang das bißchen Kraft und Geschmack, das etwa darin sein sollte, völlig aus, richte dann eine dicke Soße an, die aus Wasser, Kleister, Mehl, Zucker und Kapern besteht, und richte das Ganze lauwarm an, so daß die Soße schon eine Kruste zeigt. Ich teile dies Rezept mit, weil ich eben im Café dieses Hotels bei einer Tasse echten Mokkas aus den Plantagen von A. Zuntz sel. Witwe in Berlin den Aufsatz einer geistreichen Kollegin gelesen habe, der sich scharf gegen das neue Bürgerliche Gesetzbuch kehrt, das den »Millionen Frauen«, die ihre Männer los sein wollten, die Scheidung erschwere; wolle der Tyrann nicht, so gehe es überhaupt nicht. Wohlan, ihr Millionen Märtyrerinnen, setzt euren Peinigern wöchentlich einmal »eingemachtes Kalbfleisch nach Dessauer Art« vor, und die Zähesten werden nach einem Monat die Scheidung selbst betreiben. Aber mit Maß! – nicht etwa täglich, das wäre Mord und brächte euch vor die Geschworenen...
Während man »eingemachtes Kalbfleisch« in dieser oder doch ähnlichen Güte zwischen Mulde und Werra häufig findet, gibt es, um nun wieder was Hübsches zu nennen, in Mitteldeutschland keine Stadt von annähernd dieser Einwohnerzahl, die einen so stattlichen Straßenzug aufzuweisen hätte, wie er hier vom Bahnhof durch die Kaiser-, dann die Friedrich- und die Kavalierstraße ins Herz der Stadt führt. Man sieht sofort: hier ist viel Geld da, bei Privatleuten, Regierung und Hof, und zuweilen, wenn auch nicht überall, zeigt sich auch Geschmack. Schon die Kaiserstraße ist im ganzen nett ausgebaut, die Post, das erbprinzliche Palais, das neue Rathaus können sich sehen lassen, auch in den anderen Stadtteilen trifft man manches hübsche Haus. Aber nur in den neuen Straßen zeigt sich etwas wie ein bestimmter Charakter, so annähernd der von Berlin W, an das man immer wieder erinnert wird, eben der Charakter des Wohnviertels einer reichen, modernen Stadt; daß der Stil der Wohnhäuser buntscheckig ist, gehört ja mit dazu, denn wir stecken in dieser Hinsicht noch in dem Zeitalter der Experimente, aber der überwiegend talentvollen – nur Geduld, es wird sich schon was Rechtes daraus entwickeln. Auch das viele Grün der zahlreichen Anlagen wirkt erfreulich. Unerfreulich aber, weil so ganz unhistorisch, so ganz charakterlos und nur eben unmodern und zum Teil arg unschön mutet das alte Dessau an. So war mein Eindruck vor zwanzig Jahren, und meine Wanderung von gestern und heute hat ihn nur gefestigt. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, als ob sich nicht auch hier ab und zu manches fände, was den Freund der Baukunst interessieren kann; schon das herzogliche Schloß an der Mulde ist ein solcher Bau. Interessieren sag ich, nicht als Ganzes erfreuen. Der westliche Flügel (von 1532) ist ein sehenswertes Werk der Frührenaissance, der östliche von 1750 für diese Zeit und der Mittelbau von 1874 in modernster Renaissance wieder für unsere Zeit respektabel, aber das Ganze wirkt so unruhig, daß man den Versuch, einen Totaleindruck zu gewinnen, ordentlich bedauert; er verdirbt die Freude am Einzelnen. Und das Einheitliche wieder ist selten interessant, noch seltener schön; zwei alte Bauten, wie sie das kleine Zerbst an seinem Schloß und seinem Rathaus besitzt, wird man hier vergeblich suchen. Vor allem aber, die Bürgerhäuser sind so häßliche, dürftige Nutzbauten; man kann lange Straßenzüge passieren, ohne den unerquicklichen Eindruck zu verlieren: das ist ein etwa 1750–1800 schlecht und billig erbautes Städtchen. Nirgendwo ein hübscher Giebel, eine geschmückte Fassade, ein paar übermütige Kartuschen oder ein lustiges Erkerchen; nur nüchterne Häuser aus dürftiger Zeit, und über jedem könnte der Spruch stehen, den ich einmal vor langen Jahren an einem Haus in einem thüringischen Flecken so oder ähnlich gelesen habe: »Ach Gott, es ist dir wohl bewußt, / Ich baut aus Not und nicht zur Lust.« Wohnen muß man irgendwo... Kurz, diese älteren Stadtteile sind weder reinliche Gegenwart noch farbige Vergangenheit, sondern die richtige charakterlose Halbvergangenheit. Das Imperfektum ist ja überhaupt ein zwitterhaftes Tempus, und der Volksinstinkt hat recht, wenn er sich sprachlich dagegen sträubt, aber ein deutsches Städtebild im Imperfekt ist vollends unerquicklich.
Das wird jedem an Dessau auffallen: wie alt und dabei wie unhistorisch! – und ich, der ich eben in Zerbst das kräftig schöne Perfektum durchkonjugiert hatte, mußte vollends auf Schritt und Tritt daran denken. Welcher Gegensatz des Stadtbilds bei einer durch Jahrhunderte parallelen Geschichte; beide Städte wendisch-deutschen Ursprungs, beide günstig gelegen, beide demselben Fürstengeschlecht untertan und bis ans 19. Jahrhundert seine Geschicke fast bedingungslos teilend. Zunächst überglänzt Zerbst das als Stadt um dreihundert Jahre jüngere Dissouwe weitaus; es wird fast gleich nach seiner Begründung Residenz, während Dessau, im 15. und 16. Jahrhundert der Sitz der älteren Dessauer Linie, nach deren Aussterben zeitweilig von Zerbst aus regiert wird. Und diese älteren Dessauer Askanier gleichen zudem den älteren Zerbstern; braver Mittelschlag, der sich in keiner Weise hervortut, auch für seine Stadt nur das übliche tut; darum kann sich Dessau noch immer nicht mit Zerbst messen, denn an der Nuthe waltet die größere Tradition, der stärkere Gemeinsinn und Bürgerstolz; so sagt's das Stadtbild, so bestätigt's die Geschichte. Da tritt mit der neuen Teilung Anhalts von 1603 eine Wendung ein, die allmählich das Zünglein der Waage ins Gleichgewicht bringt; an der Nuthe residieren nur die Diener ihrer Mätressen, an der Mulde gesunde nüchterne Männer, auch in ihren Heiraten glücklicher. Da ist Johann Georg II., der durch seine Verschwägerung mit den Oraniern den Grund zu den Kunstsammlungen legt, die Dessau nun zieren, da sein Sohn Leopold, der Alte Dessauer, der durch seine derbe, rotbackige, breithüftige Anna-Lise, die Apothekerstochter, frisches gesundes Blut ins Haus bringt, vielleicht sein bleibendstes Verdienst um sein Geschlecht. Ich sage dies nicht im Scherz, obwohl auch ich weiß, daß der tapfere Haudegen seinen Namen zu einem Weltruf gebracht und sich in den Zeiten, da ihn Friedrich der Große daheim rasten und rosten ließ, sogar ein wenig um das Nest gekümmert hat, von dem er ausgeflogen. Diese Heirat war ein Glück für die Dessauer Askanier – man denke an das Schicksal der anderen Zweige dieses Geschlechts –, und der alte Brummbär hat vielleicht unrecht gehabt, daß er seinen Erstgeborenen von der Thronfolge ausschloß, weil er es dem Vater nachtat; freilich freite Wilhelm Georg gar nur eine Bauerstochter, aber zwischen der und der »Hofapothekerischen« war ja doch, aus der Vogelperspektive eines Thrones gesehen, kein Unterschied. Nun, auch die anderen Nachkommen Anna-Lisens schlugen gut ein, am besten ihr Enkel Franz, unter dessen langer gesegneter Regierung (1758–1817) endlich auch die Stadt Dessau ihre alte Rivalin überholte. Zunächst machte der edle, aufgeklärte Fürst seine kleine Residenz zu einer Großstadt im Reiche des Geistes; er häufte den unter seinen Vorgängern begründeten, durch eine Schenkung der Prinzeß Amalie vergrößerten Schatz an Kunstwerken zu seiner heutigen Höhe; er zauberte das Märchen von Wörlitz aus reizloser Gegend empor; er war stolz darauf, der Landesherr des Juden Moses Mendelssohn zu sein, und nannte ihn seinen Freund; unter seiner Ägide, von ihm berufen, konnte der viel gehetzte »Rousseau der Teutschen«, Basedow, seinen Träumen im Philanthropin Gestalt geben; er half die hundertfach vergeblich angeregte Buchhandlung der Gelehrten schaffen; er mühte sich rastlos, mindestens einen großen Dichter hierher zu ziehen, und daß ihm dies nur eben bei dem braven Matthisson gelang, war nicht seine Schuld. Und sein Verdienst war es, daß er, der Fürst, der alles, buchstäblich alles mit seinen feinen, nervigen Händen anfaßte, auch in seinen Dessauern den Sinn für Industrie zu wecken suchte. Als er starb, war seine Residenz eine berühmte, noch immer arme, aber aufblühende Stadt. So er, wie aber seine Nachfolger? Der Ruhm verbleicht, die Kunstschätze bleiben ungemehrt, kein berühmter Gast weilt mehr im Schloß, aber das materielle Gedeihen wächst in Stadt und Hof; die Industrie macht Dessau allmählich zu dem, was es nun ist. Seit 1885 hat sich die Bevölkerung verdoppelt und dürfte nun etwa 55 000 Köpfe betragen; eine Verdoppelung in sechzehn Jahren, das erinnert an Amerika. Ich bin überzeugt, komme ich nach Ablauf von wieder zwanzig Jahren des Weges gefahren, so werden die ersten Hunderttausend längst überschritten sein.
Aber vor 1921 wünsch ich's mir gar nicht. Denn als ich 1881 hier war, habe ich mich über den dicken Onkel gewundert, weil er, seiner Jugendzeit vergessend, nur noch Ziffern in sein Notizbuch schreibt und zwischendurch mit der Goldkette über dem Spitzbauch spielt, und bis jetzt hat er sich nicht gebessert; in zwanzig Jahren tut er's vielleicht. Im Ernst – was könnten Stadt und Hof mit ihren vielen, vielen Millionen für die Pflege künstlerischer Interessen tun, und wie wenig geschieht da! Ach, so wenig! Ich weiß, daß ich damit in ein Wespennest greife, denn die Dessauer, sonst nicht eben große Lokalpatrioten, sind begreiflicherweise, wie alle rasch reich gewordenen Leute, gerade in diesem Punkte sehr empfindlich – aber wahr ist's doch! »Wir tun sehr viel für die Kunst«, sagte mir einmal in Berlin ein Dessauer Geldgreis, »ich selbst bringe große Opfer.« In der Tat hatte er im Lauf seines Lebens schon so viele Armbänder an junge Künstlerinnen verschenkt, daß er nur noch auf ganz dünnen Beinen einherzitterte, aber ich mußte ihm trotzdem einwenden: »Ihr Theater ist doch recht mittelmäßig!« – »Oh, es gibt da sehr talentvolle Schauspielerinnen«, erwiderte er. »Übrigens ist das Sache des Hofs.« – »Ich habe anderwärts recht gute Stadttheater gefunden!« – »Dazu ist die Stadt zu klein. Das geht nur den Hof an!« – »Ihre Konzerte sind gut, könnten aber besser sein.« – »Das ist ohne ein vortreffliches Orchester, ohne große Sängerinnen« – für den Mann gab es keine Künstler männlichen Geschlechts –, »kurz, ohne eine ausgezeichnete Oper nicht zu machen. Das könnte nur der Hof... Was uns, die Stadt, die Bürger betrifft – sehen Sie sich einmal unsere neuen Denkmäler an, da werden Sie Augen machen!... Ein großer Professor hat mir gesagt: dem Hof sind die Gemäldesammlungen zu danken und die Schloßkirche, aber euch diese Denkmäler! Hof und Bürgerschaft, ihr wetteifert heute beide würdig miteinander!« Dieser letzte Satz enthält ein Korn Wahrheit, o ja! Aber daß ich damals auf meine Frage den Namen des »großen Professors« nicht erfuhr, bedauere ich noch heute; wir haben so wenig originelle Köpfe in Deutschland, und da muß man auch noch einem dieser wenigen vergeblich nachforschen!...
Und nun will ich, der ich nicht einmal ein kleiner Professor bin, trotzdem freimütig sagen, welche Meinung ich mir über diese Kunstschätze während meines hiesigen Aufenthaltes gebildet habe.
Zwar von den Sammlungen will ich nicht eingehend sprechen, weil dies bereits andere reichlich und vortrefflich getan haben, und das wenige, was ich darüber zu sagen habe, will ich später vorbringen, aber über die Schloßkirche möchte ich gleich hier einiges bemerken, schon weil sie lange nicht so viel besucht wird, wie sie's verdient. Das ist begreiflich; gäbe es ein großes Museum in Dessau, so behielte man auch Zeit und Laune für diesen Gang; heute tun's die meisten nicht. Schade, denn wohl ist der alte gotische Bau von 1554 an sich kaum je imponierend gewesen und ist es heute infolge zahlreicher, nicht eben geschickter Zu- und Umbauten vollends nicht mehr, aber das Innere enthält viel Interessantes und bietet zudem merkwürdige Beiträge zu dem Kapitel, das der »große Professor« durch sein lapidarisches Diktum erledigt hat... Man weiß, die Kirche enthält ein Hauptbild Lucas Cranachs des Jüngeren, »Das heilige Abendmahl«, mit den Porträts der bedeutendsten Fürsten und Gelehrten, die die Reformation gefördert haben – ein schönes, auch historisch wichtiges Bild. Aber hat es seit langen Jahren schon jemand ganz genau und bis in die kleinsten Details betrachten können? Ich glaube: nein, denn es hängt an einer Stelle, die immer fast dunkel bleibt, selbst um die Mittagsstunde eines sonnigen Augusttages. Das kann ja nicht immer so gewesen sein, sonst hätten wir keine so genauen Beschreibungen und Reproduktionen des Bildes; gibt es, muß man sich unwillkürlich fragen, keinen Mann in Dessau, der sich von Amts wegen darum zu kümmern hat? Dann fände er es doch gewiß auch sinnwidrig, ein so schönes und berühmtes Bild an eine Stelle zu hängen, wo man es nicht sieht! Eines der anderen Bilder desselben Meisters ist nun hier nur in Kopie vorhanden, das Original kam in die Kirche einer ganz kleinen Stadt des Herzogtums. Man pflegt es sonst umgekehrt zu machen, vielleicht nicht mit Unrecht... Wer die Kirche besucht, versäume nicht, nach dem Sarkophag des Fürsten Joachim Ernst zu fragen. Er ist eine schöne Arbeit (von 1586), namentlich die Arabesken sind sehr fein; die Frauengestalten, die an dem Sarge Wache halten, freilich fast so plump wie die zwölf preußischen Grenadiere in Zinkguß, die unten in der Gruft der Schloßkirche am Sarkophag des Alten Dessauers zu sehen sind. Kein Katalog verzeichnet die schöne Arbeit, kein Mensch weist auf sie hin, warum?!... Ein anderes, rein sachliches Rätsel, das ich nicht zu lösen weiß, verzeichne ich hier, damit ein Berufener der Sache nachgehe. An der Wand des Schiffs zieht sich eine Reihe von 53 Tafeln, die heilige Geschichte von Adam und Eva bis zum Jüngsten Gericht darstellend, hin; sie gelten als ein Werk Lucas Cranachs des Jüngeren und seiner Schüler, aber auf der letzten Tafel steht deutlich: »Lukas Kranach der Mittler. Mal.« Meines Wissens ist von einem mittleren Cranach sonst nichts bekannt... Ich war mit dem sehr verständigen und für die Bilder seiner Kirche interessierten Küster stundenlang allein; da er meine Freude an den Werken sah, so bat er mich, ein eben in der Rumpelkammer von ihm aufgefundenes männliches Porträt anzusehen; es ist eine gute Arbeit des 17. Jahrhunderts und würde eine Restaurierung wohl verdienen; außer dem Küster kümmert sich kein Mensch darum. Ein anderes Porträt, gleichfalls von ihm aus der Rumpelkammer erlöst, konnte er mir nicht zeigen, beschrieb mir aber das Zeichen des Malers – ich habe es dann in Wörlitz an den Werken des Holländers Abraham Snaphan wiedergefunden und dies dem Küster mitgeteilt. Snaphan ist ein bedeutender Künstler, und in Wörlitz kann man erkennen, daß er jedes Bild mit Einsetzung seines vollen Könnens gemalt hat; das Werk in der Schloßkirche kann gar nicht unbedeutend sein, und hier hängt es in der Rumpelkammer, aus der es der Küster hervorzieht, weil es ihm auffällt, um dann von einem Fremden zu erfahren, daß es von einem trefflichen Künstler ist...