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Wer all seine Kraft auf den Erwerb wirft, dem wird das Geld der Herr; es macht ihn scharfsichtig und blind zugleich. Die Erfurter waren damals wohl die besten Kaufleute in Deutschland, aber eben zu gute; so ließen sie aus Sparsamkeit die Gelegenheit ungenutzt, sich die volle Selbständigkeit zu erringen. Kein Zweifel, es wäre Erfurt im 15. Jahrhundert möglich gewesen, Freie Reichsstadt zu werden; ab und zu dachte auch einer der Consules daran, tat sogar den und jenen Schritt, aber nie ernstlich. Die Alltagsklugheit sprach dagegen; es hätte eben sehr viel Geld gekostet und scheinbar nichts genützt. Die ewig geldbedürftigen Habsburger, Sigismund oder Friedrich III., gaben ohne große Sporteln keiner Stadt den Freibrief; hier, wo der Einfluß der Mainzer zu brechen gewesen wäre, hätte es erst recht viel Geld gekostet. Aber mit der Souveränität waren ja zudem dauernde schwere Lasten verknüpft. Als Mainzer Eigen hatte die Stadt zu Reichsheer und Reichskosten keine Zubuße zu leisten; als Reichsstadt hätte sie schwere Blut- und Geldsteuer entrichten müssen. Und so sagten sich die Erfurter Obervierherrn, wie der seltsame Amtstitel der regierenden Ratsherren lautete: »Haben wir uns trotz und unter Mainz eine Machtfülle geschaffen wie nur irgendeine freie Stadt, so werden wir sie erhalten, ohne die Opfer, welche andere tragen.« Es war Alltagsklugheit, weit abstehend von jener echten Weisheit, die im tiefsten Kern auch immer ethisch ist. Rechte ohne Pflichten sind kein rechter Wall, sondern immer Flugsand; der Wind bläst ihn zusammen, der Wind kann ihn wieder auseinandertragen. Solange Erfurt mächtig war, mußte sich Mainz mit dem Schein der Herrschaft begnügen, wie aber, wenn Tage des Unglücks über die Stadt kamen?
Derselbe Dämon, die »auri sacra fames«, der die rechtliche Sicherung der äußeren Unabhängigkeit verhinderte, zertrümmerte auch im Innern den Frieden und damit die Kraft. Wie in jeder Stadt jener Zeiten standen sich auch in Erfurt Patrizier und Plebejer, Regierung und Volk gegenüber, aber in keiner schroffer als hier. Gegenüber der Zahl der Hinzugewanderten war hier die der alten Geschlechter eine winzige; einige Dutzend Familien waren im Vollbesitz der politischen Macht; die große Masse hatte zu steuern, Kriegsdienste zu tun und schweigend zu gehorchen; nicht einmal zum Schein hatte sie hier mitzureden, was die Geschlechter anderwärts aus Klugheit gestatteten. Nun lag hier zudem in den Händen dieser wenigen, der Bedeutung der Stadt und ihres Gebiets, der ihrer Einnahmen und Ausgaben entsprechend, eine ungeheure Macht, in deren Ausnutzung sie im Grunde niemand beschränken, sogar niemand beaufsichtigen konnte. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Verwaltung immer ehrlich oder auch nur immer sparsam geblieben wäre, und Wunder geschehen eben nicht auf Erden. Kostspielige Fehden verschlangen viel Geld, glanzvolle Bauten und Feste, zum Beispiel das Turnier der Erfurter Patrizier von 1496, die durch ihren unerhörten Aufwand in ähnlicher Weise von sich reden machten wie etwa in jüngster Vergangenheit die Schlösser und Separatvorstellungen Ludwig II., kosteten noch mehr, und der Unterschleif einzelner ungetreuer Verwalter beschleunigte den Verfall. Freilich, ohne solche Machtfülle in den Händen weniger hätte Erfurt nicht so rasch den steilen Pfad zur Höhe emporklimmen können; nun ward ihm dieselbe Einrichtung zum Verderben. Die Stadt, die durch Jahrhunderte der Bankier aller geldbedürftigen Fürsten Deutschlands gewesen, war nun selbst in Schulden; die Bürger sollten das Doppelte, das Dreifache steuern, den Ausfall zu decken. Das wollten und konnten sie nicht; die Erregung wuchs immer mehr; der Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten, lange nur mit Worten und Schriften geführt, wurde schließlich in den Straßen Erfurts durch Schwert und Axt entschieden. Der regierende Ratsherr, Heinrich Kellner, weigerte jede Rechnungslage, nicht eigene Sünden zu verbergen, sondern weil er sie der misera plebs nach dem Buchstaben der Verfassung nicht schuldig war. »Ich bin die Gemeinde!« rief er den Bürgern entgegen. Das hat ihn den Hals gekostet, aber entschieden war der Streit schon in dem Augenblick, wo sich die Bürger erhoben, denn bei ihnen war das Menschenrecht, bei ihnen die Zahl der Arme, beim Rat nur die ererbte Satzung und ein Haufe schlecht bezahlter, darum unzuverlässiger Söldner. Der Rat wurde gestürzt, Kellner eingekerkert und 1510 hingerichtet; das »tolle Jahr« heißt es in Erfurts Geschichte. Es brach die Kraft der Patrizier, aber auch die Kraft der Stadt. Viele der »Gefrunden« verließen Erfurt; die Regierung kam in plumpe, schwielige Hände, die auch nicht immer rein blieben und zudem nur daran gewöhnt waren, den Hammer oder die Nadel zu führen, nicht das Steuer eines Staatsschiffs.
Das war die entscheidende Wendung in Erfurts Geschichte; die schlimmste Wunde hat ihm der Bürgerzwist geschlagen. Aber Schweres ist auch durch das Schicksal über die Stadt gekommen; furchtbare Brände verheerten sie; ihre Fehden und Prozesse endeten nun fast alle unglücklich. Die Reformation trennte die Bürger in zwei Haufen von Todfeinden; nirgendwo war die Erbitterung heftiger, denn Erfurt war ja mainzisch, eine »Pfaffenstadt«, die Hauptkanzel Tetzels, und doch wehte andererseits hier der lebendige Atem Luthers. Gewiß hatten die Bürger recht, wenn sie sich der neuen Lehre zuwandten, aber recht hatten auch die Mainzer, wenn sie dies in ihrer Stadt nicht dulden wollten, die Jesuiten zu Hilfe riefen, bei Kaiser und Reich Klage führten, jeden Angriff der Bürger auf Kirchen und Klöster durch Angriffe auf die Stadt vergalten, ihre Hoheitsrechte, die sie ja nie aufgegeben hatten, nun voll geltend zu machen suchten. Das ganze 16. Jahrhundert ist von diesem Streit zwischen Stadt und Schutzherren erfüllt; immer grimmiger spitzte er sich zu. Es war keine Rechts-, sondern eine Machtfrage; sobald Erfurt an Kraft verlor, Mainz an Kraft gewann, mußte die Stadt in Wahrheit seine Magd werden.
Da kam den Erzbischöfen, freilich ihnen selbst so unerwartet und unerwünscht wie den Erfurtern, ein Bundesgenosse: die Entwicklung des Welthandels, die Entdeckung der neuen Seewege. Aus Java und Bengalien kam der Indigo und schlug die Waid tot, aus Mexiko und Westindien die Koschenille und verdrängte die Kermes. Das vollzog sich nicht jählings, aber sichtlich. Auch der Binnenhandel schlug neue Wege ein; durch Meßprivilegien und eine kluge Politik seiner Kurfürsten gefördert, blühte Leipzig auf und wurde zunächst der Rivale und dann der Besieger Erfurts als Stapelplatz Mitteldeutschlands. Die Stadt begann sich zu entvölkern und hatte an der Schwelle des Jahrhunderts, das den Dreißigjährigen Krieg bringen sollte, kaum noch 20 000 Einwohner; auch die Hörsäle begannen zu veröden. Erfurt jammerte, Mainz aber jauchzte nicht; es war ihm recht, daß die Stadt herabkam, aber wenn die Henne keine güldenen Eier mehr trug – war sie dann noch des Kampfes wert?
Der furchtbarste Krieg, den Deutschland je gesehen, der es für Jahrhunderte zu einem armen Lande machte, brachte auch diesem Kampf nach unerhörten Zwischenfällen die Entscheidung. Auf und nieder schwankte die Waagschale, in der Gustav Adolfs Schwert lag, und mit ihr das Schicksal Erfurts; durch neun Jahre von den Schweden besetzt und ein Stützpunkt ihrer Macht, fiel es endlich in die Hände der Kaiserlichen und hatte schwerste Drangsale zu erdulden. Hier statt jeder Schilderung zwei Ziffern: als die Schweden 1640 abzogen, hatte die Stadt noch 16 000, als die Katholischen acht Jahre später gingen, kaum 9 000 Einwohner. Der Westfälische Friede hatte Kurmainz die Herrschaft über Erfurt bestätigt; noch einmal, zum letztenmal wehrten sich die Bürger dagegen; nur der Geldmangel, der Kurmainz hinderte, ein Exekutionsheer aufzubringen, gab ihnen noch einige Jahre Galgenfrist. Endlich, 1664, mietete der Kurfürst französische Truppen, die aus Ungarn nach der Heimat heimkehrten, für den kurzen, im vorhinein entschiedenen Kampf. Von der Zitadelle auf dem Petersberg drohten die Kanonen auf die Stadt nieder, im »Mainzer Hof«, wo heute die Gewehrfabrik ist, residierten die kurfürstlichen Statthalter, und die Consules von Erfurt waren die demütigen Häupter einer armen, ihrem Fürsten gehorsamen Stadt. Als 1683 von den rund 13 000 Menschen etwa 10 000 – kein Schreibfehler, so verzeichnen es die Chronisten – an der Pest dahinstarben, da waren viele der Meinung, Erfurt werde eine Ruinenstadt bleiben, ein trauriges Überbleibsel einstiger sagenhafter Größe, wie es etwa heute Bardowiek ist, das ja einst die mächtigste Handelsstadt Norddeutschlands war, bis es Heinrich der Löwe für immer zertrat.
Wenn es mit Erfurt anders und besser kam, so ist dies zum geringsten Teil das Verdienst der kurmainzischen Koadjutoren. Daß die einst so trotzige Stadt ruhig blieb, dafür brauchten sie kaum zu sorgen; das bewirkten die Kanonen der Zitadelle und die starke Besatzung. Wohl aber mühten sie sich, daß Erfurt wieder katholisch werde; freilich war der Stadt die Religionsfreiheit zugesagt, aber alle Stellen mit Katholiken zu besetzen, die Zahl der evangelischen Kirchen zu verringern, die Mönchs- und Nonnenklöster neu zu bevölkern, die Bekehrung durch Jesuitenmissionen besorgen zu lassen, schien ihnen nicht dagegen zu sprechen. Auch die Universität wurde, so gut es ging, im Sinne der herrschenden Kirche verwaltet, was freilich mit dazu beitrug, ihre Bedeutung immer tiefer hinabzudrücken. In dies Stilleben mit Glockenklang und Weihrauchduft klangen zeitweilig während des Siebenjährigen Krieges die preußischen Kanonen (1759); dann ging diese Verwaltung denselben schleichenden, trägen Schlenderschritt wie vordem und wie damals überall im katholischen Deutschland.
Nein, nicht der Fürsorge ihrer geistlichen Fürsten, nur der eigenen Kraft hatten es die Erfurter zu danken, wenn sachte das Gras aus ihren Straßen wich und die verödeten Häuser wieder Bewohner erhielten; freilich nützten sie nur das Geschenk der Natur, ihren fruchtbaren Boden. Der Handel ging andere Bahnen, und selbst für Thüringen war Erfurt nicht mehr der Mittelpunkt des Verkehrs; Gotha im Westen, Halle im Osten lenkten vieles ihren Märkten zu, die Hochschule gab wenig Verdienst und wenig Glanz, der Festungswall schnürte die Stadt ein, aber Erfurt war noch immer die »Stadt der Ackerbauer« und seine Bewohner des »Römischen Reichs Gärtner«. Mit der Waid ging's nicht mehr, der Wein wurde immer saurer, aber einen Ersatz bot die Kresse, die hier (im tiefen, wasserreichen Dreienbrunnen zwischen Steiger und Cyriaksberg) zuerst planmäßig gezogen, von hier aus der Lieblingssalat der Zopfzeit wurde. Der Handel mit Obst, mit Blumen und Sämereien brachte keine Reichtümer ein, aber er erhielt die Stadt bei Kräften, und gegen Ende des Jahrhunderts galt sie wieder als mäßig wohlhabend.
Natürlich fehlt's im Erfurt von heute auch nicht an Überbleibseln dieser Zeit. Da stehen noch mitten zwischen uralten Renaissancefassaden und modernen, nicht eben schönen, aber hellen und freundlichen Häusern die häßlichen, öden Nutzbauten der Zopfzeit, einzelne mit einem Barockschmücklein am Dachsims oder unter den Fenstern, wie Philister, die sich was Besonderes ungeschickt an den Rock heften und dann erst recht als nüchterne Philister erscheinen. Auch einzelne Klöster, zum Beispiel das der Ursulinerinnen, scheinen aus dieser Zeit zu stammen; im Inneren aller katholischen Kirchen vollends – nicht bloß im Dom, bei dem ich bereits darauf hingewiesen habe – merkt man deutlich, daß Erfurt lange unter geistlicher Verwaltung stand, und zwar leider eben in den anderthalb Jahrhunderten des tiefsten Standes kirchlicher Kunst. Auch der bereits erwähnte Packhof von 1705 ist trotz seiner geschmückten Fassade oder gerade ihretwegen kein Musterbau jener Zeit, und ebenso das weit stattlichere Regierungsgebäude von 1710, das neben passablen Barockfiguren und Simsen auch einige andere aufweist, die selbst Freunden des Stils – und ein Gegner bin ich selber nicht – sehr geringe Freude machen können. Hier haben die Koadjutoren residiert, nachdem ihnen der alte »Mainzer Hof« zu unwohnlich geworden, als letzter Karl Theodor von Dalberg.
Dreißig Jahre (1772-1802) hat der liebenswürdigste aller Dilettanten der an solchen Erscheinungen so reichen Zeit in Erfurt residiert und immerhin einiges für die Stadt getan. Zwar arbeitete er sich fast ganz vergeblich ab, der Universität neuen Aufschwung zu geben, sie siechte nur eben langsamer dahin als vor ihm – aber er mühte sich im Sinne seiner Weltanschauung, einer nicht tiefen, aber milden und redlichen Aufklärung, nicht fruchtlos, die Rechts- und Armenpflege zu verbessern, Protestanten und Katholiken fast gleich gerecht zu regieren, Stadt und Land materiell zu heben. Mit allen freien Geistern seiner Zeit befreundet, sah er in seinem Palaste auch Schiller, Wieland und Goethe als Gäste. Daß die Fauststadt Erfurt sich auch gern ihr Teil an Goethes Gedicht sichern möchte, ist begreiflich, und angesichts der Bedeutung, die gerade der Erfurter Sagenkreis für die Ausgestaltung des »Faust« hatte, läßt es sich ihr ja auch wahrlich nicht bestreiten. Darüber hinaus freilich können die Erfurter Patrioten nicht viel erweisen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Goethe den Namen Heinrich, der sich sonst nirgendwo überliefert findet, tatsächlich der Erfurter Universitätsmatrikel entnommen habe, die 1522 einen Henricus Faust des Gronenberg, der übrigens nichts mit dem historischen Faust zu tun hat, als Hörer verzeichnet, und gleich unwahrscheinlich ist, daß Goethe bei der Schilderung des Spaziergangs am Ostermorgen (»Aus dem hohlen, finsteren Tor« usw.) an den Platz vor dem Erfurter »Pförtchen« gedacht habe.
Goethe war oft in Erfurt; allbekannt ist sein Aufenthalt vom Herbst 1808, die Begegnung mit Napoleon. Was alles hatte sich in den Jahren, seit er Dalberg hier zuletzt besucht, gewandelt! Es gab kein Erzbistum Mainz mehr; Erfurt war 1803 an Preußen gekommen, 1806, nach Jena, ohne Schuß und Schwertstreich an Napoleon. Den Vorschlag seines Staatsrats, die neue Erwerbung dem Königreich Westfalen anzugliedern, lehnte der Kaiser ab; er stellte das »Fürstentum Erfurt« unter seine eigene Herrschaft, weil ihn der alte Ruhm der Stadt lockte, der Gedanke, an derselben Stätte hofzuhalten wie die Salier, Friedrich der Rotbart und Rudolf von Habsburg. Und darum ward hier im Regierungsgebäude der Erfurter Kongreß abgehalten, spielte Talma hier »vor einem Parterre von Königen«. Goethe ist leider nie dazu gekommen, sein Gespräch mit Napoleon (2. Oktober 1808) aufzuzeichnen, wie er es Riemer versprach; »er hat mir gleichsam das Tipfelchen auf das i gesetzt«, sagte er diesem Vertrauten. So wissen wir wenigstens von diesem Gespräch der beiden größten Männer ihrer Zeit; es genügt freilich, um Goethes Ausspruch zu verstehen. Napoleons Kritik von »Werthers Leiden« geht ins tiefste; seine Auffassung von der Bedeutung des historischen Trauerspiels ist eine großartige, und ebenso trifft sein Wort gegen die Schicksalstragödie ins Schwarze. »Voilà un homme!« sagte er bekanntlich nach der Unterredung zu seinem Gefolge, während Goethe vollends helle Bewunderung war und der Einladung des Kaisers nach Paris folgen wollte. Nicht anders urteilten ja damals die meisten Deutschen über den Kaiser und namentlich auch alle Erfurter. Die französische Verwaltung war auch hier, mit ihren Vorgängerinnen verglichen, ein großer Fortschritt. Mit einem Schlage wurde die volle Gleichberechtigung der Konfessionen – unter den Koadjutoren zugunsten der Katholiken, in den drei kurzen Jahren preußischer Herrschaft zugunsten der Evangelischen beeinträchtigt – zur Tat; Gesetzgebung und Rechtspflege wurden vereinfacht und trefflich geordnet, Armen- und Krankenpflege zeitgemäß ausgestattet, die Reinlichkeit der Straßen und Häuser mit weiser Strenge durchgeführt und überwacht. Die vielen Behörden, die Napoleon hierher legte, seine glänzende Hofhaltung brachte Geld unter die Leute. Auch schuf die Zugehörigkeit zu einem Riesenstaat neue Absatzquellen für Blumen, Obst und Gemüse. Aber die französischen Behörden, an Tatkraft und Initiative gewohnt, ermöglichten es den Erfurtern nicht bloß, ihre Erzeugnisse besser zu verkaufen, sondern auch Besseres zu erzeugen; sie ermunterten zur Einführung neuer Blumen- und Obstkulturen und lieferten das Material dazu, wie sie andererseits alles, was den Erfurtern trefflich gelang, anderwärts einzubürgern suchten. Um die Verbreitung der Erfurter Kresse war sogar Napoleon persönlich bedacht; er ließ zu Fontainebleau durch Erfurter Gärtner eine Kressekultur anlegen.
Alles in allem, es war keine unverdiente Huldigung, daß die Erfurter zur Feier der Geburt des Königs von Rom einen siebzig Fuß hohen Obelisk errichteten. Aber war's verdient, daß sie wenige Jahre später (1814) diesen Obelisk zerstörten? Ähnliches ist damals gottlob selten in Deutschland geschehen, und eine Heldentat war's gewiß nicht. Freilich hatte die Stadt beim Durchzug der geschlagenen Franzosen viel gelitten, noch mehr, weil sie die Festung sehr tapfer verteidigten bei der Belagerung durch die Preußen, und was die Hauptsache ist: die nationale Empfindung ist eben auch wie jede andere, welche die Natur selbst gebietet, etwas Elementares. Gleichwohl haben die Stadtväter des neuen Erfurt nicht richtig gehandelt, indem sie als Gegenstand des letzten der sechs Freskobilder, die den Festsaal ihres neuen Rathauses schmücken, die Zerstörung dieses Obelisken bestimmten. Die anderen fünf Bilder führen ruhmvolle oder doch wichtige Ereignisse aus Erfurts Geschichte vor (der heilige Bonifacius bekehrt die heidnischen Ackerbauer; Heinrichs des Löwen Fußfall vor Friedrich Barbarossa; Rudolf von Habsburg in Erfurt; das »tolle Jahr«; die Übergabe Erfurts an Mainz); dieses ist weder ruhmvoll noch wichtig.
Der Wiener Kongreß gab Erfurt an Preußen zurück; es ist zunächst von den Geschicken der Stadt nicht viel zu berichten. Die Universität wurde nun auch formell aufgehoben; Hauptstadt der neuen Provinz Sachsen wurde Magdeburg, Sitz des Provinziallandtags Merseburg; Erfurt war damals für Preußen vornehmlich als Festung wichtig, was jede Ausdehnung der Stadt hinderte. So war die Zunahme an Seelenzahl und Wohlhabenheit eine langsame; freilich war sie eine stetige, weil mit der wachsenden Kultur Blumen ein immer begehrterer Artikel wurden. Die Erfurter galten in Magdeburg und Berlin als unzufrieden; man schickte ihnen darum die schneidigsten Beamten, was sie seltsamerweise nicht glücklicher machte. Kein Wunder, daß es 1848 hier (24. November) zu einem blutigen Aufstand und Straßenkampf kam; fast ein Jahr währte dann der Belagerungszustand. So tagte 1850 das Unionsparlament in einer Stadt, die genauer als andere erfahren hatte, daß Deutschland einer Verfassung bedürfe. Freilich war sie nicht deshalb dazu erkoren, sondern weil Radowitz Erfurt liebte. Er ist auch hier begraben. Wollte die Grabschrift seinen bleibendsten Ruhmestitel verzeichnen, sie könnte nur lauten: »Es war der verdienstvollste Autographensammler Deutschlands« – die Handschriften, die er mit unermüdlichem Eifer zusammentrug, sind eine reiche Quelle unserer literarischen und politischen Geschichte. Er aber wollte ja Deutschlands größter Staatsmann sein. Mit Josef von Radowitz ist viel Talent und noch mehr Willensschwäche, viel redlicher Wille und noch mehr Unvermögen der Tat ins Grab gesunken.
Seit fünfzig Jahren geht's in Erfurt sichtbar aufwärts; nun ist's, sagt ich schon, eine aufblühende Handels- und Industriestadt. Mit Leipzig oder Halle kann es nicht in Wettbewerb treten, aber doch behaglich leben und sich entwickeln. Das gilt freilich vom Materiellen mehr als vom Geistigen; große Zeitungen oder Verlagshandlungen hat Erfurt nicht; das Theater soll nicht auf Rosen gebettet sein, so viele es ihrer auch hier gibt. Immerhin erweisen Rathaus und Denkmäler sowie die Sammlungen der Stadt ein gewisses Interesse auch für jene Dinge, die »viel kosten und nichts einbringen« – nichts als ein menschenwürdiges Dasein... Aber es sind andere Produkte, die heute Erfurts Ruhm in die Welt hinaustragen. Die meisten Hosenträger, die in Deutschland verbraucht werden, sind hier gefertigt, daneben sehr viele Damenmäntel und Milliarden Schuhe; jeder zwanzigste Mensch in Erfurt ist ein Schuster. Und jeder zehnte ein Gärtner oder Blumenzüchter. Und die Frau Flora – um wieder an den Brunnen am Anger zu erinnern – ist üppiger als der Herr Gewerbefleiß; dieser Handel ist auch jetzt noch der einträglichste.