Karl Emil Franzos
Deutsche Fahrten I
Karl Emil Franzos

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Elysäische Felder

Nächst der Arbeit ist das Reisen der beste Erquicker und Sorgenbrecher auf Erden; es bietet, wenn man es recht versteht, alles Köstlichste auf einen Schluck: Natur- und Kunstgenuß, Freude an den Menschen und Loslösung vom Alltag. Auch ist's ja anscheinend so leicht, es recht zu verstehen: »Wenn du nehmen willst, so gib!«; das ist das ganze Geheimnis. Dennoch treffen's leider die wenigsten; nur eins ist allen klar: »Gib Geld!«, und das ist ja gar nicht das wichtigste; weit schwerer wiegt: »Gib Zeit!« und am allerschwersten: »Willst du die Seele der fremden Landschaft, des fremden Volksstamms in dich aufnehmen, so gib die eigene Seele hin, freudig, selbstlos, teilnahmsvoll, wie ein weißes Blatt, auf daß das Fremde darauf seine Zeichen schreibe!« Wer dies nicht kann, mag zu Hause bleiben oder doch um Orte wie Wörlitz einen großen Bogen machen.

Ich sage dies aber nicht selbstgefällig, sondern mit leiser Scham. Denn erst bei meinem zweiten Besuch glaube ich Goethes Wort von den »elysäischen Feldern« und dies sprossende, blühende »Märchen« so in meiner Art ein wenig verstanden zu haben, aber das ist nicht mein Verdienst, sondern das dieser merkwürdigen Anlagen. Das erste Mal aber war ich recht enttäuscht, und das lag an mir. Das heißt, scheinbar war's nicht meine Schuld allein, aber eigentlich doch nur die meine. Im übrigen erscheint mir die Historie dieses meines ersten Besuchs in Wörlitz heute lustiger als vorgestern, wo ich sie erlebte, und wenn der treffliche Gelehrte, der dabei eine Rolle spielt, Spaß versteht, so wird er's mir nicht verübeln, wenn ich bei der Wahrheit bleibe.

Während ich also vorgestern um die Mittagsstunde mit dem Küster der Schloßkirche zu Dessau in der Rumpelkammer den Staub von den armen, verstoßenen Bildern blies, stürzte seine Magd herein, ein Herr wünsche das Cranachsche Abendmahlsbild zu sehen, aber rasch, rasch, er habe keine Zeit. »Ich habe keine Zeit«, klang es auch von unten her überaus vernehmlich in nervös zitterndem Tenor. Der Küster stürzte ab, ich ihm nach; warum weiß ich selbst nicht; denn Menschen, die keine Zeit haben, sind doch in unseren Tagen keine Rarität. Allerdings, gar so wenig Zeit haben selbst heutzutage nicht viele Leute, denn als ich nach zwei Minuten vor der Nische anlangte, hatte der Fremde, ein jüngerer, sehr gescheit aussehender Herr, die Besichtigung des figurenreichen Bildes bereits beendet. »Das Bild hängt elend«, sagte er, »ich bin Kunsthistoriker«, und das freute mich; ich war ja schon vorher, wie man weiß, der Meinung gewesen, daß man schöne Bilder nicht in dunkle Ecken hängen soll, aber seine Meinung von einem Fachmann bestätigt zu hören, ist dem Laien immer angenehm. Der Gelehrte aber warf nun Hut und Stock auf den nächsten Kirchenstuhl, brachte aus der einen Rocktasche einen Haufen beschriebener Katalogzettel, aus der anderen einen Bleistift zutage, kritzelte auf eines der Blätter ein Kreuz und machte Miene abzustürzen. »Wollen Sie nicht«, fragte der Küster, »auch die anderen Cranachs ansehen?« – »Keine Zeit!« murmelte der Fremde. »Bald eins! Na gut, fünf Minuten!« – und er warf auf jedes der Bilder einen Blick; Kennerblicke sind eben sprichwörtlich kurz. Dadurch vollends ehrfürchtig gestimmt, wagte ich's, ihm die rätselhafte Signatur des »mittleren« Cranach zu zeigen. Er machte sich eine Notiz. »Interessant!... Eine Hypothese!...« Ich fühlte mich sehr gehoben, als er mich nun einlud, mit ihm die Sammlungen im Schlosse zu besehen. »So im Flug! Um zwei Zug nach Wörlitz.« Den wollte ich auch benützen, sagte ich, und in der Stunde zu Mittag essen. »Tue ich nicht«, erwiderte er, »habe eine Spezialmission. Morgens Wittenberg – Lutherhaus, Stadtkirche – seit ½ 11 Uhr hier – Bibliothek, Amalienstiftung, Schloßkirche, Schloß – nachmittags Wörlitz, abends nach Magdeburg. Also auf Wiedersehen in Wörlitz.« Und er stürzte ins Schloß, während ich in mein Hotel fuhr. Aber noch während der Mittagstafel mußte ich unablässig über das Rätsel grübeln: was war das nur für eine grausame kunsthistorische Spezialmission, die ihrem Träger eine so unerhörte Häufung von rapiden Kunstgenüssen bei gleichzeitiger völliger Enthaltung von Speise und Trank auferlegte!

Nun, das Rätsel mußte sich mir ja lösen. Aber der Zug nach Wörlitz ging ab, ohne daß der Gelehrte sichtbar wurde. Mein Waggon war dicht besetzt, die Fremden führten belehrende Gespräche über Gasthofpreise, die Dessauer, die nur bis Oranienbaum mitfuhren, schwelgten im Vorgenuß der dortigen Tanzplatzfreuden. Es ist nützlich zu erfahren, wo das Frühstück 80 Pfennig kostet und wo mehr, und die Mitteilung eines Dessauer Jünglings, daß in Oranienbaum »selbst Kanzleiratstöchter« tanzen, war mir menschlich erfreulich, denn ich sehe es ungern, wenn die Spitzen der Gesellschaft einsam auf ihrer steilen Höhe bleiben, aber auf die Dauer sah ich mir doch lieber die Landschaft an. Man kann dies hier gründlich tun, denn die Dessau-Wörlitzer Eisenbahn humpelt recht behaglich dahin. Nur hat man nicht viel davon; eine Gegend, wie sie zu Dessau paßt, ein bißchen langweilig, aber fruchtbar, wenig Blumen, viel Rettich und Petersilie, zudem überall – womit aber nicht weiter auf Dessau gestichelt sein soll – Zeichen eines tiefen Niveaus: viel Wasser, Bruch, auch etwas Forst und Heide. So schleicht das Züglein von der Mulde gegen Osten, also südlich der Elbe, aber in respektvoller Entfernung von dem zuweilen ungemütlichen Strome dahin, bis Oranienbaum erreicht ist, das Schlößchen, das sich Henriette Katharina, die Mutter des Alten Dessauers, eine Oranierin, erbaut und mit Porträts ihrer Familie geschmückt hat; daneben mögen sie auch Wiese und Wasser, die vielen Windmühlen und das Fehlen jedweden störenden Hügelchens, selbst jeder Erdwelle, wie sie die Mark durchstreichen, an ihr geliebtes Niederland erinnert haben; einen ähnlichen Sommersitz schuf sich ihre Schwester Luise Henriette, die Gemahlin des Großen Kurfürsten, in Oranienburg bei Berlin. »Das Schloß ist zugänglich«, sagte mir der junge Dessauer mit den hohen Tanzkonnexionen, »Fremde gehen oft hin.« – »Nicht auch Einheimische?« fragte ich, worauf der ehrliche Jüngling: »Aber wozu denn? Nach Oranienbaum geht man zur Kirchweihe, da ist es lustig, aber auch sehr fein!«... Vom Dorfe her klang Musik, bunte Fähnchen flatterten im Winde; der Jüngling aber und seine Freunde zogen Handschuhe über ihre großen, vom Heringbändigen rot gewordenen Hände. Eine so distinguierte Kirchweih hätte mich gereizt, aber ach, auf was alles muß der Mensch verzichten! So fuhr ich weiter nach Wörlitz; die kleine Bahn biegt nun nach Norden, durch Heide und Ackerland, an Hütten vorbei, die fast so dürftig sind wie die Landschaft. Daß man nur Minuten von einem der schönsten Gärten der Welt entfernt ist, kann niemand ahnen.

Aber es ist auch noch nichts davon zu gewahren, wenn man aus dem kleinen Bahnhof tritt. An der Pforte verteilt ein Knabe rechts Empfehlungskarten des »Grünen Baum« und einer links solche des »Eichenkranz«; vorn steht die Versicherung, daß das Hotel das beste von Wörlitz ist, und hinten ein schwer lesbarer Plan des Gartens; aber diese Pläne und die botanischen Gasthofschilder sind auch leider zunächst die einzigen Schatten, die der berühmte Garten vorauswirft. Eine breite Chaussee, durch deren fußhohen Staub die mit mir Angelangten im Sonnenbrand ächzend dahinzustampfen begannen, in der Ferne armselige Häuschen und kein grüner Wipfel – seufzend besah ich mir das Bild und fragte dann den »Eichenkranz«, ob es hier keine Fahrgelegenheit gebe. »Bitte ja, bei Bestellung von mindestens zehn Personen«, war die Antwort, die mich nicht erfreute; sogar die Versicherung des »Grünen Baum«, daß er es schon für acht tue, konnte mich nicht aufrichten. »Wie weit ist's zu den Gärten?« fragte ich. »Zwanzig Minuten«, erwiderte der »Eichenkranz«, während der »Grüne Baum«, der es offenbar in allem billiger macht, tröstete: »Fünfzehn!« Nun, der »Grüne Baum« hat die Entfernung freundlicher taxiert, aber der »Eichenkranz« ehrlicher... Es ist mir immer als die schönste Aufgabe des Schriftstellers erschienen, sich darnach zu mühen, daß den künftigen Geschlechtern das Leben leichter werde auf dieser harten Erde, und darum entringt sich meiner tiefsten Seele die Mahnung: »O ›Eichenkranz‹, o ›Grüner Baum‹, was seid ihr dumm! Stellt doch statt der beiden aufdringlichen Jungen mit den unleserlichen Plänen, die euch nur Geld kosten und nichts nützen, jeder einen Omnibus an den Bahnhof, laßt euch dreißig Pfennige für die Tour bezahlen, und ihr werdet bei dem kolossalen Besuch ein Bombengeschäft machen!«

Aber ich sollte den Marterweg zum mindesten nicht allein gehen. Kaum drei Schritte war ich gekommen, als eine nervöse Stimme an mein Ohr schlug: »Wann geht der Zug nach Dessau zurück? Um vier?« – »Um sechs!« erwiderte der »Eichenkranz«, und selbst der »Grüne Baum« konnte das nicht früher geschehen lassen. »Oh!« – dann ein kernhafter Fluch. Der Kunsthistoriker! – er war also wirklich nur von seiner Mission satt und mit demselben Zuge gekommen. Aber die Gewißheit, nun unabwendbar über drei Stunden an einem Ort bleiben zu müssen, hatte auch alle Hast von ihm genommen; ich konnte mir, während wir so selbander dahingingen, keinen liebenswürdigeren Weggenossen wünschen. Auch die Rätselhaftigkeit der Mission schwand bis auf einen Rest. Der Gelehrte, ein Mann von Ruf, machte eine Arbeitsreise zwecks Herausgabe eines historischen Porträtwerkes. Die einschlägigen Bilder hatte er aus den Katalogen notiert und wollte jetzt nur feststellen, ob sie in reproduzierbarem Zustande seien. »Aber warum –« , begann ich und stockte wieder; nein, warum er nicht aß, konnte ich ihn doch nicht fragen.

Wir waren während dieser Gespräche vom richtigen Weg zum Park abgekommen und plötzlich mitten in der »Stadt« Wörlitz. Diese Gänsefüßchen haben ihre Berechtigung... Ich habe bei meinen Streifereien durch die Mark und Mitteldeutschland manches armselige Ackerstädtchen gesehen und gerochen, ein solches nur selten. Und dieses häßliche, schmutzige Städtchen liegt wenige Minuten vom herzoglichen Schloß zu Wörlitz und ist auf drei Seiten vom herrlichen Park umschlossen! »Da haben Sie«, wetterte der Gelehrte, »die ganze innere Verlogenheit jener Zeit! O du verdammtes Aufkläricht, was war dir die Natur und was selbst die Humanität, mit der du dir die Pausbacken schminktest! Der lieben Eitelkeit wegen der Natur Daumschrauben anzulegen und Theaterkulissen aus lebenden Bäumen und Blumen zu schaffen, dazu waren diesem gelobhudelten Herzog Franz Millionen nicht zu viel, aber weitere hunderttausend Taler den armen Leuten als Beisteuer zu gewähren, damit sie das Nest zum Villenstädtchen umgestalten, fiel dem Mäzen gar nicht bei. Hierher wurden eben die Goethe und Lavater, die Humboldt und Pückler-Muskau nicht geführt!« Nun bin ich zwar wahrlich kein grundsätzlicher laudator temporis acti und meiner Zeit ein treuer Sohn, aus ganzer Seele bemüht, sie zu verstehen, aber Verständnis schulden wir, meine ich, auch der Vergangenheit, und darum mußte ich über diese Rede heftig den Kopf schütteln, wenn auch, ehrlich gestanden, mit dem Taschentuch an der Nase. Laut aber sagte ich nur: »Ich glaube, daß der Zusammenhang zwischen dem Stadtduft von Wörlitz und den Ideen des 18. Jahrhunderts noch näherer Nachweisung bedarf; vor allem aber schlage ich vor: sehen wir uns die ›Daumschrauben‹ und ›Kulissen‹ doch erst an.« Und so fragte ich ein graues, kleines Flickschusterlein, das auf dem Bänkchen vor seiner Werkstatt hockte und sich an einem tödlich verwundeten Stiefel abquälte, um den nächsten Weg nach den Gärten. Das greise Männchen fuhr zusammen und sah mich mit verträumten Augen an, wie man sie unter den Zunftgenossen Jakob Böhmes so rätselhaft oft findet. Dann huschte ein Lächeln über das verwitterte Gesicht. »Da hinein«, er wies in die Förstergasse, »an den beiden Religionen vorbei zur dritten, welche vielleicht die beste war.« Ich sah ihn fragend an: »An der Kirch und der Juddeschul rechts zur Grotte der Egeria!«... Hm, dachte ich, da merkt man doch, daß dies Nest mitten in den Gärten liegt, die der alte Wieland einst »die Zierde und den Inbegriff des 18. Jahrhunderts« genannt hat, aber im übrigen war auch in der Förstergasse wahrhaftig nichts von Gärten zu riechen. Kaum jedoch hatten wir diese Gasse halb passiert, als mir eine freudige Überraschung wurde; auch der letzte Rest von unheimlichem Mysterium fiel von meinem Gefährten ab. »Wollen wir nicht«, bat er plötzlich, »vorher in ein Restaurant? – mich hungert ganz entsetzlich!« So gingen wir denn zum »Grünen Baum«, wo er sich sättigte. Aber obwohl er auch dies, wie alles, rasch und energisch tat, schlug es doch vier Uhr, als wir endlich am Ufer des Sees standen, der die Gärten durchzieht, vor dem Haus des Gondoliers, wo jetzt eine rüstige Frau, die dem Schöpfer dieser Anlagen, dem Herzog Franz, wie aus dem Gesicht geschnitten ist, einer Schar von Kähnen und Schifferinnen gebietet. Ich verzeichne diese Ähnlichkeit, die sich mir, der ich vormittags in Dessau einige Bilder des Herzogs gesehen hatte, aufdrängen mußte, aber – »honni soit qui mal y pense«, und das meine ich ernst. Die Tatsache, daß in kleinen Residenzen, in der Umgebung von Lustschlössern usw. jeder zwanzigste Mensch dem Landesherrn ähnlich sieht, mag ja auch – es wäre albern, dies zu leugnen – den Sittenschilderer angehen; die meisten Fälle aber gehen den Physiologen an, der auch die Antwort nicht schuldig bleibt... Nur ein Kahn lag noch am Ufer; die Frau mit dem Herzog-Franz-Gesicht musterte uns und rief dann: »Friedchen!« Und Friedchen kam; um hier eine Ähnlichkeit herauszufinden, bedurfte es keiner Porträtstudien, sondern eines einzigen Besuches in einer Menagerie; das Nilpferd vergißt niemand. »Um Himmels willen«, riefen wir, »da schlägt ja der Kahn um!« – »Oh«, lächelte das anmutige Wesen von etwa vierzig Herbsten, »wenn sich beide Herren auf das Bänkchen am Steuer setzen und ganz ruhig bleiben, so geschieht nichts!«

Unter dieser Führung glitt ich zum ersten Mal am Gestade der »elysäischen Felder« dahin. Friedchen keuchte wie eine Lokomotive und ruderte langsam und unsicher, der Gelehrte aber nahm die armen, alten Anlagen sehr scharf mit, und zu meinem Malheur war er obendrein ein wirklich gescheiter Mann, der in fast allem, was er sagte, recht hatte. Es war zutreffend, wenn er, auf die schwere, dunkle Flut deutend, die wir schwankend durchpflügten, meinte: »Offenbar ein künstlich angelegter Tümpel! Dann hätte aber auch für einen gehörigen Abfluß gesorgt werden müssen!«; zutreffend, wenn er, als wir den kurios geformten, aus Raseneisenstein (einem brüchigen, porösen, leicht verwitternden Erz) erbauten Eisenhart erblickten, äußerte: »Welch ein Gedanke, eigens ein Haus aus einem für solche Zwecke unerhörten Material zu bauen, nur um zu erweisen, daß es wirklich nicht für Häuser taugt!« – und die Scherze, die er über die vielen Tempelchen und künstlichen Ruinchen machte, waren nicht alle teuer und nicht alle wohlriechend, aber unserem Geschmack entsprechen ja derlei Spielereien wirklich nicht; wir haben eben andere Geschmacklosigkeiten. Am schlimmsten jedoch kam die »verkrüppelte Natur« bei ihm weg. Trotz Friedchens Geschnaufe und seiner Kritik freute ich mich ganze zwanzig Sekunden, als uns zur Linken die mächtigen, schweren, dunklen Nadelholzgruppen des Neumarkischen Gartens entgegenwuchsen, während sich zur Rechten der zierliche Schloßgarten mit seinen Taxushecken und dem bunt – vom hellsten Goldgelb bis zum tiefsten Schwarzgrün – wechselnden Laubholz dem Blick breitete, aber da rief er: »Eunuchenlandschaft; rechts Daumschrauben und links Kulissen! Und alles auf das Effektchen zugestutzt!« – und das war wieder nicht ganz, wie die Schwaben sagen, »aus dem hohlen Bauch gesprochen«; auch darin war ein Korn Wahrheit. Und wär's auch ganz winzig gewesen, wer behielte da die Stimmung? Es war mir recht, sehr recht, daß wir schon bald am Gotischen Haus hielten. Da konnte die Holde am Ufer schnaufen, der Gelehrte seinen Porträts nachjagen und ich mir die Bilder ansehen, die mich freuten.

Das Gotische Haus, eine der sieben Kunstsammlungen, die in diesem Park verstreut sind, ist die bedeutendste unter ihnen, aber auch eine der schönsten und wertvollsten Sammlungen Deutschlands. Ich habe leider bei meinen beiden Besuchen in Wörlitz nur sechs Stunden auf sie wenden können, das ist für etwa 700 Bilder und eine Unzahl der schönsten Glasmalereien natürlich lächerlich wenig; aber es genügt doch, um mir den Gewinn dieser Stunden köstlich und unverlierbar zu machen. Um so peinlicher aber habe ich's empfunden, daß dieses seltene Kleinod zugleich an unwürdiger Aufstellung und kritikloser Bestimmung nirgendwo seinesgleichen findet, wenigstens in Deutschland nicht...

Sprechen wir zunächst von dem Schönen und Schönsten. Sind auch unter den Malern die Niederländer, unter den Gattungen das Porträt und die Historie bevorzugt, so ist doch jede Schule, jede Gattung durch Treffliches repräsentiert: die Italiener allerdings nur spärlich, die Franzosen kaum zahlreicher, aber die Deutschen, von Holbein und Dürer, Wohlgemuth und den beiden Cranach bis ins 18. Jahrhundert ebenso köstlich wie reich; die Flandern durch Perlen (die Madonnen von Memling und Hugo van der Goes), und nun erst die Holländer! Wollte ich nur die besten Namen und Werke nennen, die trockene Aufzählung würde eine Spalte füllen – und wem schon Namen etwas sagen, der kennt die Künstler ohnehin! Nur auf einiges möchte ich aufmerksam machen, weil ich es bisher kaum angedeutet finde, wie denn die Wörlitzer Sammlungen überhaupt, im Vergleich zu den Dessauer, von Kunsthistorikern der neueren und neuesten Zeit nicht genug gewürdigt werden; zu Lebzeiten des Herzogs Franz war dies anders, er sorgte auch dafür... Wie schön ist hier das holländische Seestück des 17. Jahrhunderts, diese Welt von Kraft und Schönheit und redlicher Beobachtung der Natur, vertreten. Da ist Bonaventura Peters, der Seesturmmaler, und sein Bruder Jan, da Willem van de Velde, einer der wenigen großen Künstler, die im Leben Lumpe waren; hat er es doch zuwege gebracht, seinen Landsleuten ihre Siege über die Engländer zu malen und den Engländern ihre Siege über seine Landsleute; in Wörlitz ist der erbärmliche Kerl und große Meister gut holländisch gesinnt. Von seinem Bruder Adriaen findet sich eine kleine Landschaft mit einem Reiterobrist als Staffage, vielleicht sein bestes Werk. Daß sich die Holländer hier so ausgezeichnet vertreten finden, ist angesichts der bereits angedeuteten Entstehungsgeschichte der dessauischen Hofsammlungen begreiflich, aber wie mag das halbe Dutzend Porträts, Schlacht- und Prunkstücke van der Meulens hergeraten sein? – der Hof- und Leibmaler Ludwig XIV., seiner sämtlichen Schlachten und seiner sämtlichen Mätressen erscheint hier übrigens nicht minder monoton und manieriert als anderwärts... Albrecht Dürers »Adam und Eva«, von einigen seinem Schüler Hans Wagner zugeschrieben, ist jedenfalls ein schönes Bild. Eine Perle der Sammlung ist auch das Porträt des Großen Kurfürsten von A. Hannemann, das beste dieses Fürsten und für Berlin wiederholt kopiert, vermutlich ein Hochzeitsgeschenk Friedrich Wilhelms zur Vermählung seiner Schwägerin mit Johann Georg II. von Dessau. Beiden Geschlechtern, den Hohenzollern wie den Dessauer Askaniern, war die Heirat mit Oranierinnen wohl bekömmlich; für die letzteren bedeutete es den ersten Schritt nach aufwärts... Einen seltenen Haarlemer des 17. Jahrhunderts, dessen einziges Porträt im dortigen Rathaus sich mir trotz des alles überstrahlenden Frans Hals durch seine wunderbare Lebensfülle ins Gedächtnis eingekeilt hatte, Verspronck, fand ich hier wieder, sogar durch zwei Bilder vertreten, und obwohl ja die Erinnerung alles verklärt, schienen mir diese beiden – ein Mann und ein Weib, beide schwarz gekleidet – noch schöner, weil noch lebensvoller als das Haarlemer. Einen anderen Holländer derselben Zeit kann man nur hier kennenlernen; ich habe seinen Namen bereits genannt, als ich von dem Fund des Küsters in der Rumpelkammer der Schloßkirche erzählte: Abraham Snaphan. Auch er von seltener Lebensfülle, in der Malweise von Anbeginn grundtüchtig und gewissenhaft, dann mit jedem Werk freier und natürlicher; auch in der Farbenwirkung harmonischer. Man kann dies hier, wo all sein Schaffen vereinigt ist, genau verfolgen; 1651 geboren, folgte er in jungen Jahren seiner fürstlichen Landsmännin nach Dessau und ist hier schon 1691 gestorben; sein letztes Bild, die Fürstin Henriette Katharina mit ihren vier blühenden Töchtern, ist sein bestes. Vielleicht ist Snaphan verhungert; er bezog kein Gehalt, nur »Honorare« für die einzelnen Bilder, für dies letzte – 25 Taler, wie Wilhelm Hosäus in seinem Büchlein über Wörlitz berichtet.

Freigebiger war Herzog Franz, und er kaufte nicht bloß Bilder und Statuen; auch die Möbel, die Gobelins, die Vasen, die Nippes, mit denen jedes Eckchen des Gotischen Hauses gefüllt ist, sind zumeist schön, nicht minder die Waffen und Rüstungen; das meistbewunderte Stück freilich, die Rüstung Bernhards von Weimar, hat Herzog Karl August seinem Dessauer Nachbar verehrt. Auch wenn man weiß, daß Goethes trefflicher Freund auf derlei Dinge wenig gab, berührt doch dies Geschenk, die Rüstung eines tapferen Ahns für die Kuriositätensammlung eines fremden Fürsten, etwas eigentümlich. In ihrer Art einzig aber ist die Sammlung von Glasmalereien; sie umfaßt fast lückenlos die beiden Jahrhunderte der Blütezeit dieses Kunstzweigs, des 16. und 17. Jahrhunderts, und gibt, wenn man die Stunde daran wendet, ein lehrreiches Bild seines Entwicklungsganges, vom Kirchlichen zum Weltlichen, von der rohen Technik zur Kabinettsmalerei auf Glas bis zu deren Verfall. Die meisten Stücke hat Lavater in der Schweiz, dem gelobten Lande der Glasmalerei, für den Herzog angekauft, und von dem wackeren Züricher rührt auch die Inschrift (»Wörlitz, 15. Juli 1786«) auf einer der Scheiben her:

Ihr, Denkmal alter Kunst und gottvertrauter Zeiten,
Bewundrung, Wehmut, Mut und Hoffnung sehn mich an.
Zwar Kunst und Zeiten hin, doch zeugt ihr uns in Weiten,
Was frommer Menschheit Fleiß und ernste Tugend kann.

Mein Gefährte, der Kunsthistoriker, war anderwärts beschäftigt, sonst hätte ich ihn vor die schönsten dieser Glasmalereien, zum Beispiel die »Verkündigung Mariä«, geführt und ihm dort etwa folgende Rede gehalten: »Die Zeit des ›Aufklärichts‹, verehrter Herr Doktor, die Sie so sehr mißachten, hat wirklich neben manchem Herrlichen, das wir vielleicht erst im 21. Jahrhundert, vielleicht auch später, und dann gewiß in ganz anderer Art wieder erreichen, auch manche Geschmacklosigkeit mit sich gebracht. In dem Bestreben zum Beispiel, auch in die Kirchen möglichst viel klares Licht einfließen zu lassen – und über die Berechtigung dieses Bestrebens an sich kann man verschiedener Meinung sein, Herr Doktor –, waren die Leute so pietätlos, die schönen bemalten Glasfenster zu beseitigen. Aber just in der Zeit, da solcher Unfug am schlimmsten wütete, hat dieser Fürst mit unsäglicher Geduld und beträchtlichen Kosten diese herrliche Sammlung zusammengebracht. Was folgt daraus? Daß er nicht etwa bloß, wie Sie glauben, der Typus einer von Ihnen mißachteten Zeit war, sondern eine Individualität, ein warmherziger Mensch voll Schönheitsdurst. Und darum, schon dieser Sammlung bunter Glasscherben wegen, ›lobhudle‹ auch ich diesen Herzog Franz!«


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