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Einer fünften Sage liegt wie der zweiten eine historische Tatsache zugrunde. Neben dem Beichtstuhl im Dom zu Erfurt ist der wohlerhaltene Renaissancegrabstein eines tapferen, streitbaren Mannes aufgerichtet, der auch in Luthers Leben eine Rolle spielte. Konrad Klinge hieß er und war Guardian des Barfüßerklosters; einer der wenigen Mönche, die damals katholisch blieben. Daß Luther vergeblich mit ihm disputierte, steht fest, aber wahrscheinlich ist, daß Klinge wieder sich vergeblich mühte, den Faust dem Teufel abwendig zu machen. Die Sage verzeichnet das Gespräch beider knapp und kraftvoll; der Schluß fällt ab: Klinge zeigt Faust, der erklärt, als ehrlicher Mann müsse er selbst dem Teufel sein Wort halten, dem Rektor an, worauf der Zauberer Erfurt verlassen muß. So zahm und prosaisch läßt der dichtende Volksgeist sonst den Zusammenprall zweier Gewaltigen nicht enden; dies war wohl in Wahrheit der Ausgang der Sache.
Diese Sagen, sämtlich wohl schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Erfurt entstanden, kaum zwanzig oder dreißig Jahre, nachdem Faust hier leibhaftig seinen Hokuspokus geübt, zeigen ihn, wie man sieht, im Bund mit dem Bösen, aber als einen Mann von tiefer Gelehrsamkeit und nicht ohne adligen Sinn. Nicht so zwei andere, weit später hier entstandene Sagen. Nur sie sind im Volksmund lebendig, wenigstens wußte weder Christoph Martin Wieland noch der Hausknecht meines Hotels, noch die Hökerfrau auf dem Platze »vorm Grähden«, bei der ich in meinen Erfurter Tagen mein Obst einkaufte, etwas von der Tischplatte, die plötzlich Wein gab; nach der Geschichte vom Polyphem oder den Komödien des Plautus und Terenz habe ich sie natürlich gar nicht erst gefragt. Aber wie Faust »ein armes Määdechen nackendig gemacht hat«, wußten sie alle. Als Faust – »er war ja aach ein Aarforder«, meinte Wieland – einmal über den Platz »vorm Grähden« mit seinen Studenten spazierengeht, bitten ihn einige Bürger: »Machen Sie uns nu mal 'nen neuen schienen Spaß vor!« Darauf zaubert Faust zwei Hähne herbei, deren jeder im Schnabel eine mächtige Mühlradwelle trägt. »Da laifd vom Andreasdhor ein hiebsches Määdechen daher, die war'n Sonntagskind und schon zwanzig Jahr, aber noch Jumpfer – das ist Sie nämlich schon über hundert Jahre her, lieber Herre, damals war das noch hiere määglich – und wie sie die Hähne sieht, lacht sie: ›Die tragen ja nur Strohhälme im Maule.‹ Denn als Jumpfer und Sonndagskind hat sie das gesiehn.« Da aber läßt Faust, sie zu strafen, über den Platz eine Wasserflut hereinbrechen, allen unsichtbar und nur ihr sichtbar. »Da fercht sie sich for ihre Kleider und hebt sie uf, bis man die Schdrompe (Strümpfe) sehen dhut, und dann noch höher, un alle lachen das arme Määdechen aus.« Ähnlich, wenn auch nicht in so plastischer Ausmalung wie mein Wieland, der Anakreontiker, erzählen gelehrte Bücher die sehr unlogische Sage – denn durchschaut das Mädchen als Sonntagskind allen Spuk, der andere täuscht, so kann auch die Flut sie nicht schrecken – und deuten sie mythologisch aus, denn
Was man nicht leicht erklären kann, Sieht man als einen Mythus an, |
was ihnen auch mit der zweiten Geschichte glückt. Nahe dem Haus »Zum Anker«, zwischen den Häusern Nr. 14 und 15 der Schlösserstraße öffnet sich ein winzig schmales Gäßchen, das Faustgäßchen. Hier jagte Faust einmal seine schnaubenden Rosse mit einem mächtigen Fuder Heu durch, denn die Mauern wichen auf sein Geheiß. Da aber kam Martin Luther daher, sprach einen kräftigen Bannfluch, und die Pferde wurden zu Hähnen, das Fuder zu einem Strohhalm, und sie verschwanden unter üblem Geruch. Ich möchte die Erklärung weniger in Spuren des Donarglaubens als vielmehr in der Enge des Gäßchens suchen – ein dicker Mensch kommt hier buchstäblich nur mühsam durch –, ferner in der Tatsache, daß die beiden Häuser, zwischen denen es sich öffnet, demselben Junker von Dennstedt gehörten, dessen Gast der historische Faust war, vor allem aber darin, daß Luther und Faust hier in der Phantasie wie im Gemüt des Volkes leben.
Gewissenhaft genug, mir nichts Sehenswertes zu schenken, hab ich mich durchs Faustgäßchen bis zur Kleinen Borngasse durchgezwängt, aber zu sehen war da nicht viel, wohl aber zu riechen; man konnte wahrhaftig glauben, ein besonders hinterlistiger Teufel habe erst vor wenigen Minuten vor Luthers Bannwort Reißaus genommen. Hingegen habe ich ein anderes ehrwürdiges Wahrzeichen zum Kapitel »Faust in Erfurt« unbesichtigt gelassen. Im Haus »Zum Anker« ist im Dach ein Loch; hier ist der Teufel mit Faust in die Lüfte gefahren; das Loch läßt sich nicht zudecken; sooft es versucht worden ist, haben die Arbeiter davon ablassen müssen, weil sie der Teufel darin störte. Mir gefiel das vom Teufel; eine solche Pietät für das Denkzeichen seiner einstigen Freuden hätte ich ihm nicht zugetraut. Und darum würde ich das Loch im Dach besichtigt haben, wenn mir nicht ein Zigarrenhändler in der Schlösserstraße die Freude daran verdorben hätte. »Mein Herr«, sagte er mit überlegenem Lächeln, »im Dach, verstehen Sie, sind mehrere Löcher. Durch welches der Teufel, verstehen Sie, den Faust esgimodiert hat, weeß niemand, verstehen Sie, auch der Wirt nich. Und so spart er sich, verstehen Sie, die Repradur for alle Löcher! Übrigens ist ja der ganze Faust, verstehen Sie, 'n Schwindel! Oder nich? Faffenschwindel, verstehen Sie!« So, nun wußt ich's. Es ist merkwürdig, aber wahr, die meisten Zigarrenhändler sind so aufgeklärte Leute.
Die alte Universität, die Luther- und Fauststätten sind die geistig bedeutsamsten Überbleibsel des gewaltigen Erfurt von einst, nicht die sinnfälligsten. Sie muß man suchen, andere drängen sich selbst dem stumpfen Blick auf. Das Erfurt von heute ist kein Nürnberg oder Rothenburg, nicht einmal ein Zerbst; denn die Einheitlichkeit fehlt; es ist hier gar zu viel verwüstet und verhäßlicht worden. Aber an einzelnen uralten Kirchen, Häusern und Brücken ist Erfurt überreich. Die Kirchen und die Krämerbrücke aus dem frühen Mittelalter habe ich schon genannt; aus der Blütezeit Erfurts erfreuen aber auch noch Profanbauten das Auge. So das schöne Renaissancewohnhaus »Zum Stockfisch«, das Erbhaus des Gefrunden-Geschlechts von Ziegler in der Johannesstraße, gewiß nicht so herrlich wie etwa das Pellerhaus zu Nürnberg, und doch stundenlangen Bestaunens wert. Ich habe hier immer haltgemacht, sooft mich mein Weg in diesen Tagen vorbeiführte; nicht bloß der Gesamteindruck ist erquicklich – das Haus, namentlich aber der Erker, haben die schönsten Verhältnisse –, sondern auch die Vertiefung in die Einzelheiten. Bewunderungswürdig ist der Reichtum der Phantasie in den Verzierungen des Gesteins; jede einzelne kleine Fläche ist anders dekoriert; dieser namenlose Steinmetz war ein Künstler, wie ihrer Deutschland auch in jener fröhlichen Zeit nicht zu viele hatte. Gleiche Freude kann man an den Patrizierhäusern auf dem Fischmarkt haben, namentlich den beiden »Zum breiten Herd« und »Zum roten Ochsen«; auch hier ist der Schmuck ein überaus reicher und schöner, nur darf man sie nicht im einzelnen unmittelbar nacheinander besehen; der »Breite Herd« ist dem »Roten Ochsen« sichtlich nachgebildet, denn das erstere Haus ist offenbar später entstanden; schon wird hier der Schmuck so üppig, daß er ans Barock streift. Hier ragt auch ein plumper, grauer, ehrwürdiger Roland auf. Ein anderes merkwürdiges Haus ist die »Hohe Lilie«, der uralte Gasthof am Domplatz, wo einst Luther und Gustav Adolf gehaust, dazu eine Anzahl von Herren, die nur eben Fürsten von Gottes Gnaden gewesen; man kann ihre Namen auf den Tafeln am Hause lesen. Ein Gasthof ist das Haus noch heut, aber wenn sich auch hoffentlich alle Gäste ins Fremdenbuch einschreiben, so wird man doch ihre Namen nicht auf Marmortafeln meißeln. All diese Häuser nennt auch Baedeker, aber wer immer lieber dem eigenen Stern vertraut als denen des Reisehandbuchs, gehe bedächtig und andächtig einige graue Straßen, namentlich die Johannes-, die Allerheiligen- oder die Schlösserstraße, entlang und gucke nach rechts und links; er wird da mitten zwischen nüchternen Nutzbauten auch Perlen alter deutscher Baukunst finden, die ihm das Auge erquicken und – wenn er nicht gar zu nüchtern ist – leicht machen werden, zu erkennen, wie Erfurt in seinen stolzen Tagen war. Und wem's weniger auf einzelnes als auf den Gesamteindruck ankommt, durchwandle die Straßen zwischen der Johannesstraße und dem Breitstrom bis zum Stadtteil, den sie Venedig nennen, weil die Gera hier einige Inseln bildet, und lasse den Blick über diese engen Reihen hoher, aber dürftiger Giebelhäuser, die niedrigen Türen und Fenster schweifen. Scheinbar ist hier die Zeit seit vier Jahrhunderten stillgestanden, und wenn auch nicht stolz und lieblich, echt ist das Bild, das sich ihm einprägt. Lauter »Gefrunden« lebten ja in Erfurt nicht, und nicht bloß ihre Paläste, auch die Wohnhäuser, wo Gevatter Schwertfeger und Weiter hausten, gehören zum alten Erfurt. Wie anschaulich die Krämerbrücke die entschwundene Zeit zurückführt, habe ich bereits gerühmt; nicht gleich stark, aber ähnlich wirkt der Anblick von den anderen Brücklein des Breitstroms auf die alten Häuser am Flusse, über denen die Kirchen und Türme aufragen. Freilich soll man nicht überall flußauf- und -abwärts blicken, zum Beispiel auf der Schlösserbrücke nicht. Denn auf der einen Seite bietet sich ein Anblick, der an Nürnberg erinnert, und auf der anderen ragt einem dicht vor der Nase eine häßliche Fabrikswand auf: »Neue Mühle. C. Kohler.« Ich gönne Herrn Kohler seine Mühle und den Erfurtern das gewiß gute Mehl, aber ich habe doch immer nach der anderen, schöneren Seite gesehen, sooft ich über das Brücklein ging.
Natürlich fehlt es auch an Kirchen und Türmen aus dieser Glanzzeit nicht; man trifft sie auf Schritt und Tritt, häßliche und schöne, sorglich gehütete und verfallene, ihrem Zweck erhaltene und profanierte Kirchen. »Erfordia turrita« oder, wie der andere Beinamen lautet, die »Pfaffenstadt«; hier gab's vierzehn Klöster und dreißig Pfarrkirchen, deren vielen freilich schon die »Pfaffenstürme« nach Einführung der Reformation die Weihe nahmen, bei anderen tat's die Zeit.
Gotteshäuser sind noch heut: Die bereits erwähnte Michaelskirche gegenüber der Universität, ein Bau, so unregelmäßig und der Widersprüche voll, als hätte ein Haufe Baumeister, jeder nach seinem eigenen Plan, gleichzeitig daran geschaffen, einst die Kanzel der strengsten Scholastik, aber dann schon seit den Tagen, da aus der nahen Drachengasse die »Epistolae virorum obscurorum« ihr schneidendes, blitzendes Licht in die Welt warfen, evangelisch. Die katholisch gebliebene Allerheiligenkirche, 1125 erbaut, aber dann immer wieder umgestaltet, mit hohem Turm. »Wer da ruff stiegt«, sagte mir mein Wieland, »sieht ganz Aarford und gann sich freuen, wenn ihn nech vorher bei die Hitze uff die enge Treppe der Schlach trifft«, und dann mit einem prüfenden Blick auf die Leibspositur, die der liebe Gott mir beschert: »Sie gönnte wohl der Schlach treffen«; ich bin aber der Lockung widerstanden, weil mir ja der Ausblick vom Steiger einen schönen, wohlunterrichtenden Rundblick bot. Die Severikirche nah dem Dom, ursprünglich ein dem Mönchshaus auf dem Marienhügel dicht angebautes Nonnenkloster – »honni soit qui mal y pense«, aber die Erfurter Skribenten jener Zeit waren böse Leute und machten in ihrem mittelalterlichen Latein, das sich so gut für witzige Zweideutigkeiten eignet wie sonst nur das Französische, arge Scherze darüber –, heut mit ihren schlanken, kupfergedeckten Türmen und dem lichtdurchfluteten, mit Marmorbildern geschmückten Innern die freundlichste Kirche Erfurts. Die gleichfalls katholische, an der Außenseite mit Statuen geschmückte St. Wigbertikirche, die Grabstätte einiger Mainzer Statthalter, die bis in unsere Tage durch neuen, freilich künstlerisch nicht immer erfreulichen Schmuck bereichert wird, während sich im Wigbertikloster heut zwar nicht minder streitbare, vielleicht auch nicht minder weltfreudige, aber doch wesentlich bunter und adretter gekleidete Männer verlustieren – es ist das Militärkasino. Endlich die graue, düstere, kahle Andreaskirche, in deren Wände, je nach dem Bedürfnis der Zeit, zuweilen neue Fensterhöhlen gerissen wurden, während man dann wieder andere vermauerte.
Andere Kirchen und Klöster sind heute weltlichen, oft genug schnöden Zwecken gewidmet. Das uralte Benediktinerkloster auf dem Petersberg, einer der frühesten und angesehensten Sitze gelehrter Bildung in Thüringen, ist nun Kaserne, die Kirche Heumagazin. Sie ist ein stattlicher romanischer Bau mit vier Türmen, noch halten die mächtigen Quadern wie vor sieben Jahrhunderten, da Heinrich der Löwe sich hier vor dem Rotbart beugte, obwohl die Kirche seither bei jeder Belagerung Erfurts ihr Teil wegbekam, das schlimmste 1813, als Erfurt den Franzosen wieder entrissen wurde; dicht daneben ragt ja die Zitadelle auf. Als ich hier oben stand, ließ ich den Blick über die roten Dächer und grauen Giebel hinweg ins Geratal und auf die grünen Höhen des Steiger schweifen und hatte nur Freude am Ausblick und keinerlei Gedanken. Dann sucht ich mir auszumalen, welches Leben einst diese Steingänge, in denen nun Gras wächst, diese kühnen, stolzen Gewölbe, unter denen heute nur Mäuse durch Heu und Gerste streichen, erfüllt, von den Tagen Barbarossas und des ersten Habsburgers durch das kirchliche Stilleben des Mittelalters hindurch bis in die Sturmtage des Dreißigjährigen Krieges und das Lärmen der Franzosenzeit; auch dies gelang mir so weit, als für mein stilles Träumen nötig; es erhöhte mir die Freude an der Stunde; weiter hatte es ja keinen Zweck. Ein anderes aber, worüber ich hier oben grübelte, als ich auf der geborstenen Schwelle der Kirche im Kühlen saß und in den heißen, schwelenden Sommerglast hinausblickte, wollte mir nicht klar werden. Als Preußen 1816 Kirche, Kloster und Zitadelle von seinen eigenen Kugeln beschädigt und geborsten übernahm, wurde ein Arbeitsplan entworfen, der diesem Zustand ein Ende machen sollte. Die Zitadelle restaurierte man, denn Erfurt sollte Festung bleiben, das Kloster auch, denn neben der Zitadelle war eine große Kaserne nötig, und die Kirche sollte niedergerissen werden, denn die brauchte man nicht. Das war mir verständlich, denn es war ganz im Sinne jener Zeit, als deren Typus der wackere General von Müffling gelten kann, der damals die herrlich erhaltene Gleichenburg, die ihm Friedrich Wilhelm III. geschenkt hatte, abreißen ließ, um sich aus dem Gestein einen soliden Schafstall zu bauen. Verständlich ist mir ferner, daß es mit dem Niederreißen langsam ging, denn damals ging auch in Preußen alles langsam, und begreiflich ferner, daß Friedrich Wilhelm IV, damals noch Kronprinz, um 1830 dem Vandalismus steuerte und die Kirche wieder zurechtflicken ließ. Aber unverständlich blieb mir und wird mir immer bleiben, daß diese um schweres Geld wiederhergestellte Kirche seit sechzig Jahren nur eben als Heumagazin und Vergnügungsort für Mäuse benützt wird.
Ein freundlicheres Bild bietet heute der andere Hügel südwestlich vom Petersberg, der einst gleichfalls ein Kloster und dann eine Zitadelle trug, der Cyriaksberg. Hier stand bis 1480 ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sich still der herrlichen Aussicht auf die Thüringerwaldberge und daneben, wie die Chronisten übereinstimmend berichten, auch anderer Genüsse des Lebens erfreuten. Dies wäre, weil es ebenso menschlich ist wie die Verdammung junger blühender Menschen zur Enthaltsamkeit unmenschlich, gar nicht weiter zu betonen, wenn es nicht den Erfurter »Gefrunden« den Vorwand geboten hätte, das Kloster aufzuheben und mit großem Aufwand eine Burg daraus zu machen, die dann die Schweden zu einer großen Zitadelle umschufen. Heute bewahrt da der preußische Fiskus Patronen auf; die Glacis aber sind hübsche Spazierwege und Ruhepunkte geworden. Am Fuße des Hügels steht eine Sandsteinsäule, die eine Gräfin von Kävernberg zum Gedächtnis ihres Bräutigams, der hier ermordet wurde, errichtet hat; sie selbst blieb unvermählt. Mein gefühlvoller Wieland bestand darauf, daß ich mir das »Sybille-Türmche« ansehe, und so tat ich's. »Das war Sie so in die alden Zeiten«, sagte dieser feuchte »laudator temporis acti«, »heut würde sie sich fors Geld 'nen Brautkleid kaufen und 'nen andern heiradhen.« Nicht alle, meine ich, täten es, aber daß es viele täten, kann man gerade in diesen Anlagen nicht bezweifeln, denn wie im Hirschgarten wimmelt es auch hier an schönen Sommerabenden von zärtlichen Pärchen, die sämtlich sehr, sehr ungetraut aussehen. Überhaupt ist Erfurt noch heut wie zu Nikolaus von Biberas Zeiten eine »verliebte Stadt«, vermutlich noch weit mehr als damals, wo es noch keine Fabriken, keine großen Nähereien, keine Infanterie, Artillerie und Gewehrfabrik hier gab. Man erblickte in den Straßen Erfurts, da die Kasernen zumeist außerhalb des Weichbilds liegen, nicht viel Soldaten, aber wer Augen hat, sieht die Erfurter Garnison von dem Antlitz der Mägde und »kleinen Mädchen« strahlen. Auf dem Cyriaksberg aber scheinen sich die Herzen besonders leicht zu finden, und so herrscht hier wieder, wie bis 1480, das Leben und die Liebe. Ein Narr, den's verdrießen würde.
Ein Militärkasino ist das eine Kloster geworden, ein Fouragemagazin das andere, eine Patronenkammer das dritte, und so kann's nicht wundern, daß das vierte, das Kartäuserkloster, heut eine große Bierwirtschaft ist. Der Bau aus dem 14. Jahrhundert ist innen bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet, aber die 1713 hinzugefügte Fassade im italienischen Barock ist noch wohlerhalten. Gewiß die kunstgeschichtlich merkwürdigste Fassade, die ein Bierhaus in deutschen Landen aufzuweisen hat, aber selbst ein Griesgram würde nicht über Profanation klagen: in dem üppigen fröhlichen Stil liegt etwas, was eigentlich für ein Wirtshaus besser paßt als für eine Kirche. Übrigens hat sich nach einer Erfurter Volkstradition dadurch der Charakter des Hauses nicht wesentlich geändert. Mein Wieland wenigstens sagte mir: »Die Gardäuser, das waren Sie gemiedliche Brüder. Reden durften se nich, aber saufen durften se. Und das haben se gedhan. Die freuen sich noch im Himmel oben, daß ihr Haus nu 'ne Kneipe is!«
Auch einzelne Türme, die heute vereinzelt mitten im Häusergewirr stehen, erinnern an die alte, reiche »Pfaffenstadt«, die sich an Kloster- und Kirchenbauten gar nicht genug tun konnte. So der Johannisturm, der nur erhalten blieb, weil er gar zu solid gemauert war, so daß der Abbruch mehr gekostet hätte, als das Gestein wert war; die Kirche ist 1811 vom französischen Präfekten öffentlich versteigert worden. So der Bartholomäusturm, der nun plump und trotzig mitten unter den modernen Geschäftshäusern des Anger steht. Kurz – wer immer diese Stadt durchwandelt, muß erkennen, daß sie einst mächtiger und stolzer gewesen als heute.
Warum ist Erfurt vom Beginn des 16. Jahrhunderts immer tiefer von dieser Höhe herabgeglitten, tief bis in den Staub? Auf Erden kommt alles, wie es kommen muß, unabwendbar, unzerreißbar fügt sich die Kette der Ursachen und Wirkungen Glied an Glied zusammen, aber auch Menschenschuld und Verblendung sind Glieder dieser Kette. Die schlimmsten Schädiger ihrer Blüte waren die Erfurter selbst. Freilich handelten auch sie, wie nun einmal Menschenlos ist, nicht wie sie wollten, sondern wie sie mußten – aus ihrer Art heraus, wie sie ihnen angeboren und durch ihr Geschick anerzogen war. Aus derselben Art heraus, kraft deren sie es zu ihrer Höhe gebracht; was sie schädigte, war nur der Schatten, den ihr Licht warf.